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Ausgabe:

1983

Spalte:

199-201

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Birnbaum, Max P.

Titel/Untertitel:

Staat und Synagoge 1983

Rezensent:

Meier, Kurt

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199

Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 3

200

rührt das Thema der cooperatio. „Jeder Mensch kann an der Erlösung
der Welt wirken, aber keiner kann sie bewirken - das ist nach Buber
die gemeinsame Chassidische Einsicht", sagt Lothar Stiehm wunderbar
prägnant (Unterweisung S. 162). ..Wenn wir etwas bewirken wollen
, haben wir es schon verfehlt. Aber vielleicht wirken wir gerade
dann, wenn wir nichts bewirken wollen", sagt ,,der Jude" in Martin
Buber. „Gog und Magog". Fischer, Frankfurt, 1957, S. 79. Soweit
geht jüdisch-chassidische Abkehr von erlösenden „Werken".

Magdeburg Christoph Hinz

Birnbaum. Max P.: Staat und Synagoge 1918-1938. Eine Geschichte
des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden
(1918-1938). Tübingen: Mohr 1981. XII. 298 S., 3 Tat", gr. 8° =
Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Bacck-
lnstituts,38. Lw. DM 98,-.

In organisationsgeschichtlich orientierter Untersuchung, der indes
das Kolorit anschaulicher Gestaltung der Existenzprobleme des deutschen
Judentums während der Zeit der Weimarer Republik und unter
der Naziherrschaft bis 1938 nicht fehlt, vermittelt der an den Vorgängen
selbst beteiligte Autor ein auch mit bisher unzugänglichem Quellenmaterial
abgesichertes Bild. Kurzviten der wichtigsten Personen
dienen der prosopographischen Information. Wesentlich ist auch die
Berücksichtigung der Vorgeschichte seit dem preußischen „Gesetz
über die Verhältnisse der Juden vom 23. Juli 1847". das - wie auch
eine Reihe sonstiger verfassungsgeschichtlich wichtiger Texte - auszugsweise
im Anhang abgedruckt ist. Das genannte preußische Judengesetz
von 1847 begründete die zwangsläufige Mitgliedschaft jedes in
einem bestimmten örtlich begrenzten Bezirk wohnenden Juden zur
Synagogengemeinde (Parochialprinzip) und das Besteuerungsrecht.
Die jüdische Religionsgemeinschaft in Preußen entbehrte - der Intention
des Gesetzgebers entsprechend - übergreifenden Zusammenschlusses
, während im Gegensatz hierzu in Baden und Württemberg
und in einigen kleineren deutschen Staaten (Oldenburg, Mecklenburg
-Schwerin, Lippe-Detmold) jüdische Gesamtorganisationen existierten
, die unter Staatlicher oberaufsicht teilweise sogar hierarchisch
gegliedert waren. Im Zuge der Einigung Deutschlands im Norddeutschen
Bund entstand 1869 der Deutsch-Israelitische Gemeindebund
(= DIGB). der bis zur Jahrhundertwende die einzige Gesamtvertretung
der Juden in Deutschland war und auch verschiedene Wohllährts-
und Bildungseinrichtungen schuf. Nach Erwerbung der Rechte einer
juristischen Person im Jahre 1899. die ihm die für seine Aktivitäten
wichtige Geschäftsfähigkeit verbürgte, überließ der DIGB die politische
Betätigung weitgehend dem 1893 gegründeten „Centraiverein
deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" (= CV). der sich ohnehin
in der Abwehrarbeit gegen den Antisemitismus hervorgetan hatte. Die
Funktion einer Gesamtvertretung der Juden in Deutschland übernahm
seit 1905 der damals geschaffene „Verband der deutschen Juden
" (=VDJ). Die ungenügende Repräsentanz der konservativen wie
auch der damals noch zahlenmäßig kleinen zionistischen Kreise fiel
angesichts der Mehrheit der Liberalen, denen besonders in den Großstädten
ohnehin die Leitung zukam, nicht ins Gewicht, auch deshalb
nicht, weil das Proportionalwahlrecht erst nach der Novemberrevolution
1918 weitere Anhängerschaft im öffentlichen Bewußtsein
erlangte und die „extrem-orthodoxen Kreise" in der 1907 reorganisierten
„Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums
" (= FVJ) eine unabhängige Vertretung besaßen, die auch regierungsseitig
berücksichtigt wurde. Durch das Anwachsen der zionistischen
Bewegung nach dem ersten Weltkrieg, durch die rcligions-
gesetzlichen Bestimmungen der Weimarer Reiehsverlässung von
1919 wie auch durch die Inflationszeit ergab sich eine völlig veränderte
Situation, die einen Reichsverband der deutsehen Juden ins
Auge fassen ließ. Seine Realisierung wurde indes vornehmlich durch
Bedenken der Separat-Orthodoxie vereitelt, gegen die der Autor spürbar
reserviert bleibt. Es kam nur zu einer losen Reichsarbeitsgemeinschaft
. Die Separat-Orthodoxie bildete damals auf Gesamtebene den
Halberstädter Bund, in Preußen faßte sie sich zum Halberstädter Verband
zusammen.

Die Untersuchung beleuchtet quellenbelegt die wechselvollen Verhandlungen
mit den ministeriellen Instanzen und bietet subtile Einblicke
in Interessenkonstellationen. Thematisch schwergewichtig
wird die Herausbildung des „Preußischen Landesverbandes jüdischer
Gemeinden" (= PLV) Schritt für Schritt nachgezeichnet. Daß es seit
1906 im Grunde genommen bis in die Nazizeit hinein keine einheitliche
Gesamtvertretung der deutschen Juden gab, wird als empfindlicher
Mangel bewertet. Das Fehlen einer jüdischen Einheitsfront
habe den Staatsbehörden nur zu oft den gewünschten Vorwand für
obstruktives Nichtstun oder bestenfalls minimale Konzessionen
gegeben. Die Separat-Orthodoxie hat sich übrigens erst 1937 der
Reichsverlretung der Juden in Deutschland angeschlossen, die indes
erst Anfang 1933 zu ihrer ersten Sitzung zusammengetreten war und
angesichts der Zeitverhältnisse wirkungsschwach bleiben mußte.

Bemerkenswert ist, daß dem in kirchlicher Optik zumeist negativ
apostrophierten preußischen Kultusminister Adolph Hoffmann, der
Ende 1918 in dieser Funktion nur ganz kurzfristig tätig war, im Blick
auf die Rechtsstellung der deutschen Juden ein größeres Verständnis
attestiert wird als seinem Kollegen Konrad Haenisch und den Nachfolgern
Becker und Grimme (S. 19). Der nach jahrelangen zähen Verhandlungen
seit 1925 faktisch zustandegekommene „Preußische
Landesverband", dessen Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen
Rechts sich immer wieder verzögerte und durch Auflösung des
preußischen Landtages 1932 de jure nicht mehr vollzogen werden
konnte, hat gleichwohl Staatsmittel in Höhe von mehreren Millionen
für Rabbincrbesoldung etc. in leistungsschwachen Gemeinden Preußens
seit 1925 erhalten und damit in dieser Hinsicht eine gewisse
Gleichstellung mit den Kirchen erlangt.

Das Buch schildert auch die vielfältigen Aktivitäten, Probleme und
Rivalitäten innerhalb des vielschichtig -organisierten deutschen
Judentums, thematisch konzentriert auf den PLV. Die in das „Dritte
Reich" hineinführende, dort bald gegenstandslos werdende Debatte
über die weitere Revision des preußischen Judengesetzes von 1847
sowie die ergebnislosen Bemühungen um ein jüdisches Konkordat
analog den Staatsverträgen mit Katholischer und Evangelischer
Kirche in Preußen werden erörtert. Viele innerjüdische Fragen, von
denen manche gleichwohl der staatlichen Regelung bedurften, so z. B.
die Frage des Austritts aus einer Synagogengemeinde ohne Austritt
aus dem Judentum, eine Möglichkeit, die erst nach der Krislallnacht
rückwirkend aufgehoben wurde, auch mancherlei soziale, pädagogische
und kulturelle Fragen sind in das geschilderte Aktivitätenspektrum
dispositionell übersichtlich einbezogen. Moniert wird, daß die
Reichsarbeitsgemeinschaft der jüdischen Landesverbände auch in der
Spätphasc der Weimarer Republik nicht zu den brennenden Problemen
des politischen und religiösen Antisemitismus Stellung bezog.
Demgegenüber hatte wenigstens der PLV im März 1931 die Regierung
um wirksamen Schutz der jüdischen Bevölkerung aufgefordert
(S. 1840- Eine gewisse Unbesorgtheit am „Vorabend der Katastrophe
" gilt als „typisch für die weitaus überwiegende Mehrheit der
deutschen Juden, ob Assimilantcn oder Zionisten, ob liberal oder
orthodox" (S. 206). Auch hier meinte man noch nach dem 30. Januar
1933, Hitler werde bald abwirtschaften oder könnte von deutschnationalen
Kräften oder dem Militär manipuliert werden. Die von der
preußischen Ministerialbürokratie begrüßten apologetischen Bemühungen
des „Reichsbundes der jüdischen Frontsoldaten" und anderer
rechtsstehender Kreise des deutschen Judentums in Gestalt des Ende
1932 herausgegebenen Gedenkbuches der 12 000 jüdischen Kriegsgefallenen
im ersten Weltkrieg wurden auch vom PLV getragen; sie
werden als „eine letzte repräsentative Aktion der deutschen Juden vor
Anbruch der Naziherrschaft" (S. 222)gewertet: „Zehn Wochen später
machte die politische Entwicklung diesen letzten Versuch der deutschen
Juden, ihren Patriotismus und ihre Verbundenheit mit
Deutschland zu beweisen, zu einem makabren Symbol des Endes