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Ausgabe:

1982

Spalte:

140-141

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Klessmann, Michael

Titel/Untertitel:

Identität und Glaube 1982

Rezensent:

Neidhart, Walter

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Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 2

140

lieh einen anderen Stellenwert als die einer Monographie. Eine Monographie
hat eine oder wenige Thesen, die sie begründen möchte,
und die Rezension führt hier das Gespräch über Tragweite und Begründung
der Thesen. Hier gibt es aber Hunderte von Thesen, und es
wäre willkürlich, wenn der Rez. davon die eine oder die andere herausnehmen
würde.

Statt dessen kann nur in ganz bescheidenem Maß das Gespräch eröffnet
werden über das Gesamtwollen des Buches. Es wird dabei Gehör
finden über Landes- und Traditionsgrenzen hinweg, denn die
Verlegenheiten der Theologie potenzieren sich in den Verlegenheiten
der Theologie-Dozenten, die allerorts auf Hilfe und Anregung angewiesen
sind. Der Autor sagt: „Mir jedenfalls hat es Freude gemacht,
mit werdenden Theologen dogmatische Problemdiskussionen über
diese Thesen zu beginnen, in denen sich zeigt, daß auch bei erst entstehendem
Verständnis für die dargebotenen dogmatischen Stoffe
doch eine ursprüngliche Lust am dogmatischen Denken - noch un-
verschüttet durch Historismus und Positivismus - zu lebendig fortschreitender
Erkenntnis führte" (23).

Die Wiederentdeckung der Freude am dogmatischen Denken als
eine eigene Kategorie, die sich auf die Sache des Problems und nicht
auf die historische oder anthropologische Vermittlung richtet, ist ein
Richtpunkt, auf den hin jeder, der Dogmatik zu lehren hat, heimlich
immer bezogen ist. Und ich denke, daß es Müller sehr oft gelungen
ist, in knapper Formulierung wesentliche Kernpunkte der dogmatischen
Diskussion so hervorzuheben, daß die Relevanz der Frage auch
ohne modische Aktualisierung deutlich wird. Es gelingt ihm dabei
auch, eine Fülle von Material so zu organisieren und zu integrieren,
daß Studenten, die dieses Buch wirklich durchgearbeitet (und nicht
nur durchgeschnüffelt) haben, eine solide Grundlage nicht nur für das
Examen, sondern auch für ihre theologische Arbeit als Pfarrer besitzen
. Sie werden hier vertraut mit den Grundentscheidungen der reformatorischen
(vor allem lutherischen) Theologie und auch, auf weiten
Strecken, mit der dialektischen Theologie, als deren Schüler sich
der Vf. betrachtet: er widmet sein Buch dem Andenken seiner akademischen
Lehrer H.-J. Iwand, K. Barth und E. Wolf. Wer selber, wie
der Rez., sich auch diesen Lehrern der Kirche verbunden weiß, begrüßt
mit Sympathie diesen Versuch einer Neuinterpretation der
theologischen Entscheidungen, um die es in der gesamten deutschen
Theologie seit Barmen (hier als Bekenntnistext abgedruckt) ging, um
zugleich diese Theologie auch anderen Tendenzen gegenüber, die
sich in der bundesrepublikanischen Theologie breit machen, zu aktualisieren
. Es ist wichtig, daß darin ein gemeinsames Anliegen, eine
gemeinsame Front, wenn man will, erkennbar bleibt. Als solches
kann das Buch sogar von einer noch breiteren als nur deutschen
Theologenschaft verstanden werden, sagen wir von allen, die auf der
Linie Barth - Iwand - Wolf zu denken versuchen.

Wenn wir aber die Probe aufs Exempel machen würden (und
darum geht es doch in der internationalen Diskussion, die in den
Spalten einer internationalen Theologischen Literaturzeitung angeregt
wird) und Müllers Buch als Lehrbuch für Dogmatik dem Unterricht
, sagen wir mal einer holländischen oder skandinavischen theologischen
Fakultät zu Grunde legen wollten, so würde sich, meine
ich, doch schnell der spezifische Ort seines Entstehens bemerkbar
machen und für eine breitere internationale Verwendung als Hindernis
darstellen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die
große kritische Kraft der freimachenden Gnade Gottes, die in der
Theologie Barths und Iwands gerade auch als kritisches Potential
gegen die eigene verbürgerlichte Form des Christentums und gegen
die Identifikation von Evangelium und abendländischer Gesellschaft
gerichtet war, hier vor allem nach außen gewendet ist (darauf zielen
auch die polemischen Substantive, die den alten Ketzerhüten wie
Doketismus neue wie Klerikalismus, Konfessionalismus, Präfaschismus
, Imperialismus, Sozialdemokratismus usw. zugesellen). Die
Offenheit des internationalen ökumenischen Gesprächs über den Anspruch
des Wortes Gottes in allen unseren Gesellschaften und in den

Konflikten, die wir miteinander haben, wird dadurch gefährdet. Der
Autor wendet sich gegen die Theologien der Genitive im allgemeinen
und gegen die Theologie der Befreiung im besonderen („ ... eine antiautoritäre
Nonkonformitätsbewegung der Intelligenz,... die sich
gleichermaßen gegen reaktionäre .Ordnung' wie gegen revolutionäre
Neuordnung wendet, die sich der Aufgabe zur Reformation der Kirche
entzieht, um statt dessen in Kirche und Welt die permanente Revolution
zu propagieren, und die vor der gesellschaftlichen Aufgabe
disziplinierter Revolution in eine ,Theologie der Revolution' ausweicht
[z. B. Shaull, Marquardt, Moltmann]" - 124). Ich teile seine
Abweisung der darin sich bekundenden Identifikationen von Gottes
Willen und dem jeweils politisch Erstrebten. Aber man sollte doch
nicht den unterschiedlichen Stellenwert übersehen, den eine Theologie
der Befreiung oder der Revolution in einem gegebenen Kontext
hat: verschieden in der DDR, in der BRD und authentisch vielleicht
am meisten in einer lateinamerikanischen Unterdrückungssituation.
Im letzten Fall soll sie dann nicht so sehr als Identifikation, sondern
vielmehr als Kritik in der jeweiligen Situation verstanden werden, in
der Konflikte bewußt gemacht werden. Solche Konflikte erwachsen
in der internationalen theologischen Diskussion aus der jeweiligen
kontextuellen Situation. Und die Aufgabe der Theologie ist es dann
vielmehr, auf dem Boden des gemeinsamen Glaubens diese Konflikte
besprechbar zu machen, statt sich mit dem Anliegen einer der Parteien
im Konflikt zu identifizieren.

Nicht die Beziehung der Theologie auf den jeweiligen Kontext, also
ihre Kontextualisierung, soll dabei ausgeschlossen werden, wohl aber
die Legitimierung des Kontextes als solche, wie und wo auch immer.
Einbettung einer Theologie in einen bestimmten gesellschaftlichen
Kontext braucht nicht im Gegensatz zur universalen Gültigkeit zu
stehen, sondern kann die Kehrseite eines weltweiten Kommunikationsprozesses
in der ökumenischen Bewegung sein. Zu diesem Kommunikationsprozeß
gehört u. U. auch die Bereitschaft, dem eigenen
Kontext freier und kritischer gegenüberzustehen (bei aller Solidarität)
als dem des anderen.

Vielleicht wäre das das Spezifikum gerade der christlichen Ethik
(von der Müller übrigens nichts wissen will), daß sie versucht in die
Haut des anderen zu kriechen, nicht sich selbst, sondern den anderen
zu verstehen und in den herrschenden persönlichen, gesellschaftlichen
und politischen Konflikten sich für das jeweilige Interesse des
anderen einzusetzen.

Um diesen Prozeß zu fördern ist es nötig, den Ort der Theologie
noch mehr in der Kirche, auch der internationalen Kirchengemeinschaft
anzusiedeln als es Müller tut. Bei ihm kommt die Ekklesiologie
nicht schon' in den Prolegomena, sondern erst ganz am Ende zur
Sprache und es ist die „doctrina qui generat ecclesiam" (18). Ist -
pneumatologisch - nicht auch das Umgekehrte wahr?

Groningen Adriaan Gcense

Praktische Theologie:
Seelsorge/Psychologie

Kiessmann, Michael: Identität und Glaube. Zum Verhältnis von psychischer
Struktur und Glaube. München: Kaiser; Mainz: Matthias
-Grünewald-Verlag 1980. 227 S. 8" = Gesellschaft und Theologie
. Praxis der Kirche, 33. Kart. DM 32,-.

Der Vf. stellt in seiner Münsteraner Dissertation zunächst die Geschichte
der Ich-Psychologie von Freud bis Erikson dar und interpretiert
dann mit hervorragender Sachkenntnis die für den Leser ohne
psychoanalytische Vorkenntnisse schwer verständliche epigenetische
Theorie von E. H. Erikson. Mit Hilfe des Strukturbegriffs, mit dem er
die einer psychischen Funktion zugrunde liegende Ganzheit meint,
und unter Verwendung des Lewinschen Feldbegriffs begründet er