Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1982

Spalte:

127-129

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Green, Lowell C.

Titel/Untertitel:

How Melanchthon helped Luther discover the Gospel 1982

Rezensent:

Wendelborn, Gert

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

127

Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 2

128

lenangaben für die anderen Autoren vermutlich auch, aber es wäre
unbillig, wollte man von einem Herausgeber verlangen, daß er die
Werke der anderen Autoren ebenso im Ohr hat, wie den Text, den er
ediert. - Das 100 Seiten umfassende Wortregister enthält auch die
grammatischen Besonderheiten.

Der Rez. ist von der Sorgfalt und der aufgewandten Mühe des
Herausgebers tief beeindruckt. Er kann und will allerdings nicht zu
der Frage Stellung nehmen, ob hier ein Autor wiederentdeckt oder
neu erfunden wurde. Seiner Meinung nach sind in solchem Fall, wo
der Echtheitsfrage überdurchschnittliche Bedeutung zukommt, statistische
Methoden am Platz. Die durchschnittliche Wortlänge beispielsweise
, das Verhältnis, in dem die Zahl der Verben zur Zahl der
Nomina und der Wörter steht, die Vorliebe für oder Abneigung gegen
bestimmte Vokale sind zähl- und meßbare Merkmale eines Textes,
die für den Autor charakteristisch sein können; sie erhalten spätestens
dann Aussagekraft, wenn ihnen Vergleichszahlen für andere
Texte desselben Autors und anderer Autoren gegenüberstehen. Wenn
solche Zahlen auch nicht erlauben, die Echtheit eines Textes zu konstatieren
, so eignen sie sich dazu, mögliche Einwände dagegen auszuschließen
.

Kiel Heinrich Kraft

Green, LowellC: How Melanchthon Helped Luther Discover the
Gospel. The Doctrine of Justification in the Reformation. Fallbrook
, CA: Verdict Publications 1980. XXVII, 274 S. m. Abb. 8
Lw. $9.95.

Green verteidigte 1955 mit Erfolg seine Dissertation über die Entwicklung
der Rechtfertigungslehre Melanchthons bis 1521. Es war
die letzte von W. Eiert vergebene Arbeit. Jetzt lehrt Green am Con-
cordia College in den USA. Er ist inzwischen durch wichtige Publikationen
über das deutsche Reformationszeitalter in Fachzeitschriften
seines Landes wie im Luther-Jahrbuch hervorgetreten. Sein
Verständnis des Reformatorischen ist geprägt von der scharfen
Akzentuierung des konfessionell Lutherischen in der Missouri-
Synode.

So verwundert es nicht, daß er in diesem Buch, das viele ironische
Seitenhiebe auf Andersdenkende enthält, aber stets sauber argumentiert
, zum Generalangriff auf die Luther-Interpretation K. Holls und
seiner Schule antritt. Damit richtet sich seine frontale Attacke gegen
beträchtliche Teile der deutschsprachigen Luther-Forschung unseres
Jahrhunderts. Es selbst weiß sich weithin im Bunde mit so wichtigen
Vertretern der Luther-Forschung in den USA wie Uuras Saarni-
vaara und Ferdinand Edward Cranz, die leider in Europa noch wenig
bekannt sind, aber auch mit E. Bizer, seinem Schüler O. Bayer,
M. Seils, K. Aland, A. Peters und M. Brecht. Im Mittelpunkt des
Buches steht nicht so sehr, wie der Titel vermuten läßt, Melanchthon,
als vielmehr Luther, so viele bedeutsame Aussagen auch über Melanchthons
Theologie gemacht werden.

Greens Angriff richtet sich gegen die Hochschätzung des jungen
Luther und gegen die Meinung, schon die erste Psalmen- und die folgenden
Rom- und Gal-Vorlesungen seien als reformatorisch zu bewerten
. Norm für das Reformatorische sind für ihn allein die zentralen
Glaubensaussagen des „reifen" Luther. Die Wende vom noch katholischen
(dieses Adjektiv ist freilich stets in Anführungszeichen gesetzt
) zum evangelischen Luther erfolgte erst 1518/19. Von 1519-27
habe sich Luthers Theologie im Übergang von der effektiven zur forensischen
Rechtfertigungslehre befunden und mancherlei Mischformen
aufgewiesen. Erst im Großen Bekenntnis vom Abendmahl
1528 findet sich die endgültige Terminologie. Eigentliche Norm
aber ist der Große Gal-Kommentar 1531/35. Auch Luthers autobiographische
Auskunft über seine Wende in seiner berühmten Vorrede
aus dem Jahre 1545 weise eindeutig auf 1518/19, wobei er die
damalige Erfahrung in seiner Terminologie der 1530er Jahre beschreibe
. Das sog. Turmerlebnis lasse sich nicht mehr fixieren, weil

dafür jede Quellenbasis fehle. Wichtig sei die Erkenntnis, daß es
solche dramatischen inneren Erlebnisse im Leben Luthers nicht nur
einmal, sondern immer wieder gegeben habe. Sie würden vom späteren
Luther gern als Überwindung von Anfechtungen beschrieben,
was aber von Bekehrungen im pietistischen Sinne wohl zu unterscheiden
sei. 1513 habe es bereits eine vorbereitende Wende gegeben, die
aber den eigentlichen Durchbruch noch nicht gebracht habe.

Solche Thesen provozieren die deutsche Luther-Forschung. Wie
sollen wir sie beurteilen? Mir scheint, daß Greens scharfsinnige Analysen
viel Wahres enthalten. Seinen Wertungen vermag ich mich
trotzdem so nicht anzuschließen. Wahrheit und Irrtum sind m. E.
unter den Kombattanten nicht säuberlich aufzuteilen. Vielmehr weist
der Streit auf komplizierte Grundprobleme der Luther-Deutung hin,
die von den bisherigen Voraussetzungen her nicht zu klären sind.
Green sieht, daß ein bestimmtes Vorverständnis des Reformatorischen
stets der Luther-Deutung zugrundeliegt. Niemand kann es ihm
verwehren, im Werk des „reifen" Luther die klassische Ausprägung
evangelischer Rechtfertigungslehre von bleibender Aktualität zu
erblicken. Die Stärke der reformatorisch wirksam gewordenen Theologie
des späten Luther kommt jedenfalls bei ihm ausgezeichnet zur
Geltung: Gesetz und Evangelium wie Rechtfertigung und Heiligung
müssen klar unterschieden werden, wenn es nicht zu einer heillosen
Vermischung kommen soll; coram Deo ist unsere Gerechtigkeit ausschließlich
passiv, so daß jeder Synergismus ausgeschlossen ist; nur so
erlangt der Glaubende volle Heilsgewißheit; die Rechtfertigung ist
also kein sanativer Prozeß, der erst im Tode seine Krönung lindet,
sondern zwar nicht in re, wohl aber in Gottes Urteil erlangt der Christ
das gesamte Heil schon in der Gegenwart. Es unterliegt keinem Zweifel
, daß gemessen an diesem Maßstab der junge Luther kritikwürdig
ist. Green dürfte hier im Recht gegen alle sein, die die „reife" Theologie
schon in den jungen Luther hineinlesen, beide Theologien also zu
harmonisieren versuchen. Dabei weiß auch Green, daß Luther sich
1513-18 schon im Entwicklungsprozeß fort von der scholastischen
Theologie befunden hat.

Seinem letztlich negativen Urteil über den jungen Luther liegt aber
auch eine historische Analyse zugrunde, die ihrerseits kritisch zu hinterfragen
ist. Zweifellos ist richtig, daß Luther in diesem Zeitabschnitt
noch viele scholastische Begriffe verwandte, wobei allerdings präziser
zu untersuchen wäre, ob er sie nicht in manchem Falle schon in
einem neuen Sinne gebrauchte. Sachgemäß wird auch aufgewiesen,
daß sich bis in seine Spättheologie durchhaltende Begriffe oft noch
nicht ihre endgültige Bedeutung erlangt hatten. Folgt daraus aber
wirklich, daß der junge Luther noch katholisch war? Mit vielen deutschen
Luther-Forschern, allen voran der leider überhaupt nicht erwähnte
G. Ebeling, muß ich diese Behauptung ablehnen, wenn auch
die Beziehungen des frühen Luther zur spätscholastischen Theologie
ein kompliziertes Problem darstellen, das trotz aller Bemühungen
z. T. noch immer auf seine definitive Klärung wartet. Für mich ergibt
sich aus diesem Dilemma die zwingende Folgerung, daß sowohl der
junge wie der spätere- Luther eine reformatorische Theologie
vertreten haben, daß diese aber jeweils eine unterschiedliche Grundstruktur
aufwies. So komme ich nicht umhin, von einer ersten und
zweiten reformatorischen Theologie Luthers zu sprechen. Will man
die erste von ihnen wirklich verstehen, wozu Green die Voraussetzungen
fehlen, so muß man sie m. E. als eine Theologie der teuren
Gnade kennzeichnen. Dabei arbeitet Green gut heraus, daß sich der
spätere Luther von seiner Frühtheologie eindeutig distanziert hat.
Die Ursachen hierfür sind von der Spezifik seiner zweiten Theologie
wie von der Eigenart der lutherischen Reformation her unschwer aufzudecken
. Es fragt sich nur, ob wir gezwungen sind, Luthers eigenem
Urteil in jeder Hinsicht zu folgen, oder ob wir nicht doch das Recht
zu einer viel differenzierteren Sicht haben. Nicht zutreffend ist jedenfalls
Greens Urteil, der frühe Luther habe sich noch nicht von einem
römisch verstandenen kirchlichen Gehorsam frei gemacht. Natürlich
konnte er die praktischen Folgerungen aus seinen theologischen
Grundeinsichten nur allmählich ziehen, was für ihn gewiß nicht nur