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Ausgabe:

1982

Spalte:

87-98

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Ut mens concordet voci 1982

Rezensent:

Petzoldt, Martin

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Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 2

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heruntergespielt, indem er einerseits feststellt, daß sich von der Gewißheit
des schon geschehenen entscheidenden Heilshandelns Gottes
her „leicht die Erwartung einer baldigen Vollendung" ergibt, und indem
er andererseits dem Paulus nur die Ausdrucksweise zuschreibt,
als „erfolge die Ankunft Christi noch zu seinen Lebzeiten". Und
wenn auch Delling jetzt die Bedeutung des Miteinanders von „Schon
und Noch nicht" bei Paulus stark betont und die Bestimmtheit des
Christen im Neuen Testament vom Ziel der ausstehenden Vollendung
her hervorhebt, so dürfte doch Erich Großer" recht haben,
wenn er in seinem Buch über die „Naherwartung Jesu" (1973) feststellt
, daß Delling mit diesen Ausführungen „seine Interpretation der
Zeit im NT ... nicht grundsätzlich geändert" hat. Wenige Jahre später
erklärte Ernst Fuchs (1949)36 in einem Aufsatz über „Christus das
Ende der Geschichte": „Das Neue Testament kennt... die Nähe und
Ferne einer ,Zeit', die sich gerade nicht mehr ,erstreckt" Und ganz
entsprechend behauptet 1950 der amerikanische Neutestamentier
Arnos Wilder" in seinem im übrigen wichtigen Buch "Eschatology
and Ethics in the Teaching of Jesus", daß das von Jesus verkündigte
„apokalyptische Ereignis in der Zukunft seinem Wesen nach mythischen
Charakters" sei und daß das von Jesus „so geschaffene Interim
formal und vorstellungsmäßig, nicht aber wirklich" zu denken sei.
Und nach der Meinung Norman Perrins™ in seinem Buch "Redisco-
vering the Teaching of Jesus" (1967; deutsch: „Was lehrte Jesus
wirklich?", 1972) ist zwar „die Gottesherrschaft in der Verkündigung
Jesu Zukunftserwartung", aber das heißt: „Aus der gegenwärtigen Erfahrung
mit Gott [ist] Vertrauen auf Gottes Zukunft [zu] lernen".

Gegen alle diese Interpretationen der neutestamentlichen Eschato-
logie, besonders der Verkündigung Jesu, hat freilich Erich Gräßer19 in
seinem schon erwähnten Buch über die Naherwartung Jesu m. E. mit
Recht eingewandt, daß Jesu „eschatologische Blickrichtung wesentlich
... die durch die nahe Zukunft qualifizierte Gegenwart" war und
daß in der Frage der Zukunftserwartung die Verkündigung Jesu und
die Theologie der Urgemeinde streng unterschieden werden müssen,
und der holländische Dominikaner Edward Schillebeeckx*0 hat in
seinem bedeutenden Jesusbuch (1975) betont, daß „der zeitlich
lineare Aspekt... aus seiner [Jesu] Botschaft nicht wegzudenken" ist
und man darum nicht „die ,ontologische Nähe' als die eigentlich
gemeinte Kernbotschaft" Jesu hinstellen könne. Doch hat die Bestreitung
einer streng zeitlich gemeinten Zukunftserwartung im Urchristentum
die Erforschung der neutestamentlichen Eschatologie seit
den dreißiger Jahren nicht eigentlich beherrscht. Es sind vielmehr
drei andere Wege gewesen, auf denen man die Entwicklung und den
theologischen Sinn der neutestamentlichen Eschatologie zu erklären
versucht hat.

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Der führende englische Neutestamentier zwischen den beiden
Weltkriegen, Charles Harold Dodd*1, vertrat in seinem einflußreichen
Buch "The Parables of the Kingdom" (1935) die Anschauung,
daß nach Jesu Verkündigung „das Reich Gottes schon da ist", „das
Eschaton ist von der Zukunft in die Gegenwart gerückt, aus der
Sphäre der Erwartung in die der verwirklichten Erfahrung". „Die
Königsherrschaft Gottes, der Menschensohn, Gericht und Heil sind
in die menschliche Erfahrung gekommen", die Rede vom künftigen
Kommen des Menschensohns ist nur eine sprachliche Anpassung.
„Es gibt kein Kommen des Menschensohns in der Geschichte ,nach'
seinem Kommen in Galiläa und Jerusalem,... denn es gibt kein früher
oder später in der ewigen Ordnung", es gibt aber bei Jesus auch
„keinen Ausblick auf eine lange Geschichte, das Eschaton ... ist da".
Dodd ist dann ein Jahr später in seinem Buch "The Apostolic Prea-
ching and its Developments" noch einen Schritt weiter gegangen mit
seiner Behauptung, daß zwar das älteste, bei Paulus und in der Apostelgeschichte
erkennbare Kerygma mit der Nähe des Endes rechne,
daß davor aber im Anschluß an die Verkündigung Jesu die Vorstellung
bestanden habe, die eschatologische Erfüllung sei bereits geschehen
und die Parusie werde nur eine Bestätigung der schon geschehenen
eschatologischen Erfüllung darstellen. Diese älteste christliche
Verkündigung sei in wenigen Jahren auseinandergebrochen, so daß
nun die Parusie als zweite Krisis erst für die Zukunft erwartet wurde.
Diese Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Parusie schwand
aber dann immer mehr, und bei Johannes ist die Parusiehoffnung
ganz in die Gegenwart hineingezogen. Bei Dodd wird also die Naherwartung
bei Jesus auf exegetischem Wege eliminiert und die futurische
Eschatologie als Fehlentwicklung des mittleren Urchristentums
dargestellt. Freilich steht hinter dieser Exegese auch bei Dodd eine
philosophisch-dogmatische Vorentscheidung: im Anhang seines Buches
über die apostolische Predigt wird festgestellt, futurische Eschatologie
sei darum unmöglich, weil der Zeitbegriff keinen Sinn habe
angesichts von Ereignissen, die nicht zur Zeit, sondern zur Ewigkeit
gehören. Diese Bestreitung einer eschatologischen Naherwartung und
damit auch eines Irrtums bei Jesus, verbunden mit der Annahme
einer sekundären, aber rasch wieder verschwindenden apokalyptischen
Verfremdung der ältesten Botschaft ist seit den vierziger Jahren
in den verschiedensten Abwandlungen sowohl in der angelsächsischen
als auch in der kontinental-europäischen Forschung vertreten
worden. 1945 erklärte der Engländer T. Francis Glasson in seinem
Buch "The Second Advent", Jesus habe nur die Gegenwart des Gottesreiches
verkündigt und nach seinem Tode weder das Weltende
noch die Parusie erwartet; da Paulus in den Thessalonicherbriefen als
erster die Parusieerwartung vertritt, müsse diese Erwartung in der
Zeit zwischen dem Tod Jesu und der Abfassung der Thessalonicher-
briefe aufgekommen sein, und Glasson möchte diese Erwartung entstanden
sehen aus der Übertragung alttestamentlicher Aussagen über
das eschatologische Kommen Jahwes auf Jesus; und daß man dieses
zukünftige Kommen Jesu als nahe bevorstehend erwartete, habe seine
Wurzel in der Aufstellung der Caligula-Statue im'Jerusalemer
Tempel, deren baldige Beseitigung man erhoffte. Doch sei diese Erwartung
bald wieder geschwunden und finde sich bereits im paulini-
schen Epheserbrief nicht mehr. Glasson hat diese Anschauung kürzlich
in einem Taschenbuch mit dem Titel "Jesus and the End of the
World" (1980)42 erneuert und dabei seine Polemik gegen den „grundlegenden
Irrtum" von J. Weiß und A. Schweitzer mit dem seltsamen
Hinweis darauf unterstützt, daß das futurisch-eschatologische Verständnis
Jesu in den letzten 70 Jahren dem widerspreche, was Christen
von jeher als die Lehre Jesu angesehen haben!

Es ist aber nur folgerichtig, daß Glasson die Anschauung des Amerikaners
Georg Eldon /-^(/"preist, der in seinem zuerst 1964 erschienenen
Buch "Jesus and the Kingdom" die Meinung vertritt, daß nach
Jesu Verkündigung das Gottesreich schon in der Gegenwart in Jesus
und seinen Jüngern wirkt, daß Jesu Worte von der zeitlich begrenzten
Nähe des Gottesreiches besagen, „daß die Vollendung noch in der
unbestimmten Zukunft liegt", während Jesu Ansage der futurisch-
eschatologischen Vollendung „halbpoetische Sprache und gleichnishafte
Bilder sind, die nicht wörtlich genommen werden" wollen. Es ist
leicht zu sehen, daß hier „nicht sein kann, was nicht sein darf', d. h.
daß die für Paulus nicht abzuleugnende Naherwartung mit allen Mitteln
von Jesus ferngehalten werden soll. Diesem Vorwurf entzieht sich
allerdings Wolfgang Schenk*4 in seinem 1972 veröffentlichten Aufsatz
über „Naherwartung und Parusieverzögerung", indem er feststellt, daß
„die Eschatologie Jesu ... leider auch heute noch nach wie vor als ein
zu Erfragendes vor der Exegese" stehe, man darüber also nichts historisch
Brauchbares wissen könne; auch er ist aber der Meinung: „eine
sehr alte eschatologische Konzeption scheint nicht nur die Naherwartung
, sondern auch die realisierte Eschatologie in der Urchristenheit gewesen
zu sein", und er fugt hinzu, daß „Paulus... in seiner Eschatologie
wesentlich als Kritiker dieser realisierten Eschatologie zu verstehen"
ist und daß Markus und Lukas in verschiedener Weise die Terminfixierung
der Eschatologie ablehnen. Wie es zur polemisch von Paulus vertretenen
Naherwartung gekommen ist, wird freilich bei dieser Anschauung
nicht verständlich.

Und Ähnliches gilt für Eta Linnemanns*'' Auffassung, die zuletzt in
einem Aufsatz der Conzelmann-Festschrift (1975) über „Zeitansage