Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1982

Spalte:

908-910

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Zwischen Aufbruch und Beharrung 1982

Rezensent:

Wendelborn, Gert

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

907

Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 12

908

Hier wird die Allianz strukturalistischer Methode mit katholischer
Geschichtstheologie sichtbar - eine, nach meiner Meinung, unheilige
Allianz. Denn wie können Wunder, deren Tatsächlichkeit gleichgültig
ist, ja die der Mönchsphantasie entsprungen sind, Beweis und Zeichen
einer höheren Wahrheit sein? Sie sind (darin stimme ich der Vfn.
zu) Zeichen der Geisteshaltung von Christen im 5. Jahrhundert. Darüber
hinaus aber sind sie nicht Zeichen der Kraft Gottes, sondern der
Kraft menschlicher Einbildung. Ihr Wirklichkeitscharakter als Sprache
ist lediglich für einen atheistisch-strukturalistischen Standpunkt
hinreichend. Daß 100 gedachte Taler nicht 100 wirkliche Taler sind,
daran kann auch der Strukturalismus nichts ändern.

2. Einen wertvollen Fortschritt bringen die Untersuehungen zu
Rufins Darstellung der Mission unter den Barbaren, was umso wichtiger
ist, als Rufin hier die Quelle sowohl der griechischen Kirchenhistoriker
als auch (auf verschiedenen Wegen) der späteren äthiopischen
und georgischen Überlieferung ist. Frau Thelamon bietet für
die Christianisierung Äthiopiens eine sorgfältige Auswertung der literarischen
, epigraphischen, numismatischen Quellen und der Sekundärliteratur
. Die Zuverlässigkeit Rufins wird erwiesen. In besonderem
Maße gilt dies auch für seine Nachrichten über das Serapeion in
Alexandrien, den Serapiskult daselbst und den Kult des Osiris in
Kanope, die mit reichem archäologischem Material (dazu Grundrißskizzen
des Serapeions und Abbildungen archäologischer Funde) und
mit literarischen Texten beleuchtet werden. Schon Mommsen hatte
hier günstig über Rufin geurteilt.

3. Der originellste Teil des Buches betrifft die Bekehrung der Iberer
(Georgier). Hier steht keinerlei Material zur Kontrolle Rufins zur Verfügung
. Eine „Gefangene" (captiva), die in einer iberischen Siedlung
in der Form christlicher Virginitätsaskese lebt, heilt im Namen Christi
ein krankes Kind und dann die Königin, welche sich daraufhin zu
Christus bekehrt. Der König muß durch ein zusätzliches Wunder zum
Glauben gebracht werden. Das Herrscherpaar veranlaßt die Bekehrung
des Volkes, man baut eine Kirche und führt den christlichen
Kultus ein, indem man Priester von Konstantin erbittet. Da Rufin
diese Erzählung von dem iberischen Fürsten Bacurius, der in römischen
Diensten stand (Pauly-Wissowa, RE II S. 2724; Jones, Prospo-
graphy I [1975] s.v.) gehört hat, vermutet Frau Thelamon unter der
lateinisch-christlichen Oberfläche des Berichts iberische Strukturen.
Zu ihrer Aufdeckung nimmt sie ethnologische und mythologische
Forschung in der Weise des Strukturalismus von Levi-Strauss zu
Hilfe . Die „Gefangene" (captiva) könne nicht, wie man bisher
meinte, eine christliche, römische Kriegsgefangene sein, da sie frei
und gleichberechtigt in der Siedlung lebt. Ein iberischer Begriff stecke
hinter captiva: sie sei eine „Kadag", eine „Gefangene" (dac 'erili) des
Gottes, der sie erwählt hat. Der oder die kadag ist im iberischen Heidentum
eine Art Schamane, ein Besessener, vom Gott Ergriffener,
Sprecher des Gottes; er unterliegt asketischen Vorschriften und ist
(dies gilt für die weibliche kadag) an Kultstiftung beteiligt. Die Iberer
hätten ihren Übergang vom Heidentum zum Christentum als Ursprungsmythus
eines Kultes gestaltet; Rufin habe das in christlichabendländische
Vorstellungen übertragen und möglicherweise die
Züge schamanistischer Besessenheit getilgt. Der Ursprungsmythos
wurde zu einem historischen Missionsbericht. Die Vfn. begründet ihre
These natürlich weit ausführlicher und mit vielen Einzelheiten. Ich
halte ihre Deutung der captiva nicht für ausgeschlossen, fühle mich zu
einem Urteil in dieser Materie jedoch nicht befugt.

4. Die strukturalistische Methode hat mit der alten religionsgeschichtlichen
Forschung die Vorliebe für gewagte Parallelen gemein
und sie ist nicht weniger findig im Aufsuchen mythischer Züge, als
schon vor 100 Jahren Karl Müllenhoff und seine Schule, welche im
germanischen Epos mythische Grundstrukturen aufzudecken suchten
: Warnzeichen der Wissenschaftsgeschichte.

So erscheint mir auch das Verfahren der Vfn. bei der Feststellung
struktureller Schemata in Rufins Darstellung zuweilen anfechtbar.
Die beiden Wunder des hl. Spyridon (Diebe werden durch unsichtbare
Fesseln am Einbruch gehindert und dann gelöst; Spyridon spricht mit

seiner toten, im Grabe ruhenden Tochter) auf den abstrakten Nenner:
Übergang vom Unbeweglich-Festen (den Fesseln, der Starre des
Todes) zur Bewegung (des Lösens, des Sprechens der Tochter) gebracht
und so eine gemeinsame Struktur entdeckt; im Bericht über das
Konzil von Tyrus entspricht die (aus der Verfolgung herrührende)
Verstümmelung des Paphnutius der Nicht-Verstümmelung des angeblich
von Athanasius ermordeten Arsenius; die dritte Säule, welche
sich beim Bau der iberischen Basilika der Aufrichtung widersetzt, sei
das Symbol des Kreuzes (denn bei Philo von Tirak, 7. Jh., werde von
Aufstellung eines mirakelhaften Kreuzes, nicht einer Säule, durch die
Missionarin gesprochen), sie entspreche dem dritten Kreuz bei der
Kreuzesauffindung durch Helena in Jerusalem; das Schweben der
Säule habe sein Gegenstück im Schweben des Heilands am Kreuz
und der Glaube der captiva am Glauben der Helena (S. 4710- Hier
scheint die strukturalistische Methode zu ähnlichen Exzessen zu führen
wie die altkirchliche und mittelalterliche Typologie. Ich habe
auch Bedenken gegen die Ersetzung des Kausalbegriffs durch Typologie
(die wunderbare Krankenheilung als „Symbol"-statt „Ursache"-
des Seelenheils), sie erscheint mir als Rückfall in die pensee sauvage.
Doch kann das hier nicht näher ausgeführt werden.

5. Damit sollen die Verdienste des gehaltvollen Buches nicht geschmälert
werden. Die Vfn. hat die Zuverlässigkeit Rufins als Quelle
für die Missionsgeschichte und für das alexandrinische Heidentum des
4. Jahrhunderts erhärtet. Sie hat die hagiographischen Teile des Werkes
als Glaubenszeugnis gewürdigt. Aber das kann kein günstigeres
Urteil über die hagiographische Seite 'dieser Kirchengeschichte begründen
. Wenn Rufin aus theologischen oder hagiographischen
Gründen Tatsachen verfälscht (wie in der Biographie des Basilius von
Cäsarea oder mit der Ansetzung der gegen Athanasius gerichteten
Synode von Tyrus unter dem „gottlosen" Konstantius statt unter dem
„frommen" Kaiser Konstantin), so heiligt der Zweck durchaus nicht
die Mittel. Und wenn ein häretischer Philosoph nicht durch lehrhafte
Darlegungen, sondern durch mirakelhafte Wirkung eines durch einen
einfältigen Bekenner aufgesagten Credo bekehrt wird (das Reich Gottes
stehet nicht in Worten, sondern in Kraft), so zeigt die Parallelfassung
dieser Legende bei Sozomenus (1,18,5ff Bidez-Hansen: der
völlig ungelehrte Alexander von Byzanz muß auf Wunsch Konstantins
mit einem Philosophen disputieren und raubt diesem („im
Namen Jesu Christi" einfach die Sprache), daß weniger 1 Kor 4,20 als
der Triumph der Gewalt über die Intelligenz dahinter steht. Rufin hat
als Katholik, Mönch und Priester seine Kirchengeschichte mit innerer
Beteiligung und Parteinahme (als histoire engagee) geschrieben. Aber
gerade die „fromme Parteilichkeit" mindert seinen Rang als
Historiker.

Mainz RudolfLorenz

Sie stützt sich auf das Werk von G. Charadchidze: Le Systeme religieux de la
Georgie paienne, Paris 1968.

Kirchengeschichte: Neuzeit

Zwischen Aufbruch und Beharrung. Der deutsche Protestantismus in
politischen EntScheidungsprozessen. Berlin: Union Verlag 1978.
235 S. 8*. Kart. M 8,20.

Wenn Walter Bredendiek in seinen 12 „Thesen zur Rezeption
des progressiven Erbes im deutschen Protestantismus des 19. und
20. Jahrhunderts auf die Dringlichkeit einer präzisen Positionsbestimmung
von Kirche und Theologie in gesellschaftspolitischen Fragen
durch die Kirchengeschichtsforschung hinweist, die beträchtliche
Auswirkungen auf deren Neuprofilierung hat, so leisten die Vff. der in
diesem Sammelband vereinten Aufsätze hierfür eine wichtige Arbeit.
Einige dieser Beiträge dürfen sogar für sich in Anspruch nehmen,
empfindliche Lücken der bisherigen Forschung zu schließen. Dabei