Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1982

Spalte:

831-834

Kategorie:

Kirchengeschichte: Territorialkirchengeschichte

Autor/Hrsg.:

Hauschild, Wolf-Dieter

Titel/Untertitel:

Kirchengeschichte Luebecks 1982

Rezensent:

Bunners, Michael

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

831

Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 11

83?

und weitere 22 Bibliotheken und Archive), aus denen häufig auch
wichtige Passagen zitiert werden, wird durch die Beigabe von 27 Abbildungen
(davon 18 Flugschrifttitelblätter) eindrucksvoll ergänzt. Im
Anhang werden die Ergebnisse des Versuchs, Konrad Sams Bibliothek
zu rekonstruieren, mitgeteilt. Eine Liste von mehr als 100 identifizierten
Titeln ist beigefügt. Leider fehlt ein ähnliches alphabetisches
Autorenverzeichnis zum Ausstellungskatalog. Die Veröffentlichung
gibt einen guten Einblick in die Ulmer Reformation anhand der zeitgenössischen
Druckschriften. Sie ersetzt z. T. fast eine illustrierte Geschichte
der Reformation in Ulm.

Corrigenda: Das „Mönchskalb" wurde in Waltersdorf geboren (36); Die
Tauflehre der Böhmischen Brüder ist nicht mit der der Wiedertäufer identisch
(87.92). Auch die Taufe der Neucintretcnden wurde schon 1534 zugunsten der
Kindertaufe aufgegeben. Der Nachdruck von Michael Weißes Gesangbuch
kann nicht ohne weiteres als Zeugnis einer „in dieser Zeit beispiellosen religiösen
Toleranz" (92) gewertet werden. Gesangbücher enthielten lange Zeit
auch Lieder von Autoren, deren Schriften sonst nicht geduldet wurden (z. B.
Müntzerliederbisins 18. Jh.).

Berlin Siegfried Bräuer

Territorialkirchengeschichte

Hauschild, Wolf-Dieter: Kirchengeschichte Lübecks. Christentum
und Bürgertum in neun Jahrhunderten. Lübeck: Schmidt-Römhild
1981. 596 S. m. 87 Abb. gr. 8". Lw. DM 45,-.

Der Münchener Kirchenhistoriker Wolf Dieter Hauschild , „geboren
1941 in Lübeck, dort aufgewachsen, durch humanistische Erziehung
und lübische Christlichkeit geprägt" (Klappentext), unternimmt
es, mutig und mit Elan auf dem Feld der Territorialkirchengeschichte
eine Konzeption auszuführen, die die Beziehung der Kirchengeschichte
zur politischen, ökonomischen und kulturellen Geschichte
aufsucht. Dabei wird exakte Wissenschaftlichkeit von populärwissenschaftlichem
Bemühen begleitet, denn eifrig wird vielerorts das Gespräch
mit der Tradition gesucht, Interesse an der Geschichte wächst.
Rechtes Verstehen der Gegenwart gelingt erst, wenn Geschichte bedacht
und bewußt wird. Das Buch erscheint im Jahr des 450. Reformationsjubiläums
Lübecks. Das ist Anlaß, weiteren Leserkreisen Geschichte
vorzutragen.

Im Spektrum der Geschichte der einstigen „Königin der Hanse" als
einem Mikrokosmos reflektiert sich Gesamtgeschichte. Die Nähe von
Geistlichem und Weltlichem und ihre stete Beziehung zueinander gewinnen
in der Darstellung Hauschilds lebendige Anschauung und
Aussagekraft. Der religiöse Horizont gehört zur allgemeinen Geschichte
und wirkt weit über den Bereich der Geschichte der Institution
Kirche hinaus.

Bei der Begründung der Thematisierung auf „Christentum und Bürgertum
", deren Symbiose in eindrucksvoller Kontinuität durch die
Geschichte Lübecks dauert, beruft sich H. auf den berühmtesten Sohn
der Stadt. Thomas Mann, in dessen Werk bürgerlich-christliches Erbe
wcltwirksam ist, formulierte das Bürgerliche als die „Idee der Mitte".
Übertragen auf die Kirchengeschichte Lübecks heißt diese Erkenntnis
: „Das äußert sich auch in der lübischen Christlichkeit gleichsam
als eine Konstante: maßvolle Nüchternheit, allen Extremen abhold,
aufs Praktische konzentriert, doch aufgeschlossen für das Transzendente
, gemäßigt in den religiösen Äußerungen, oft auch mäßig oder
gar mittelmäßig, aber nie unreligiös, als wäre der Mensch das Maß
aller Dinge" (S. 15).

Dem Autor bot sich neben eigener Auswertung der Quellen für
seine Arbeit das weite Feld der für Lübeck vielfältig auch in jüngster
Zeh vorangetriebenen regionalgeschichtlichcn Forschungen zu Spe-
zialthemen (umfangreiches Literaturverzeichnis S. 560-576). Durch
Aufarbeitung in die nun vorliegende Gesamtschöpfung einer Kirchengeschichte
Lübecks erhält heimatgeschichtliches Bemühen neue
Qualität und Bedeutung. Subjektive Wertungen und Akzente werden
bewußt von H. gesetzt und beleben geschichtliche Wahrnehmung.

Derl. Teil „Kleriker und Stadtgemeinschaft. Die Kirche im Mittelalter
" schildert zunächst die Voraussetzungen der Stadtentstehung
und Anfänge des Christentums. Die dunkle und leidvolle Geschichte
der Christianisierung und Kolonisierung des slawischen Abotriten-
landes im Hin und Her des Kräftespiels schuf schließlich eine Konstellation
, die die alte Burgsiedlung in der Nähe der Travc zu einem
der geschichtsträchtigsten Orte des Ostsccraumes werden ließ. Leider
wird das Thema der Kaufmannskirchen zu kurz behandelt, obwohl
sich doch gerade hierbei Gelegenheit geboten hätte, der Tendenz zum
Aufweisen kontinuierlicher Traditionen zu entsprechen'. „Neben den
bisherigen Typen von Städten, den Bischofsresidenzen, den fürstlichen
Burgen und königlichen Pfalzen ist der von Lübeck repräsentierte
Typ der bürgerlichen Kaufmannsstadt etwas eigentümlich
Neues" (S. 40). „Der Fernkaufmann in der Weite des Ostsccraumes"
hat als das prägende Element der jungen Stadtkultur zu gelten. Die
Gunst der geschichtlichen Stunde und Situation läßt in Lübeck eine
Kirchengeschichte gleichsam aus dem Nullpunkt sich entwickeln.

Mit der Neugründung Lübecks 1159 durch Heinrich den Löwen (es
handelt sich eigentlich um die dritte Gründung) beginnt kräftiges und
schnelles Wachstum; damals wurde jedoch aus dem bisherigen Olden
burger Bistum durch Verfügung Heinrichs des Löwen ein Lübecker.
Das brachte Konflikte und Kontroversen mit dem Domkapitel mit
sich. Das städtische Selbstbewußtsein läßt sich an der Geschichte
dieser Auseinandersetzungen verfolgen (Streit um Pfarrbesetzungs-
rechte seit 1220 und um das Bürgerhospital), bis schließlich „die
innerstädlische Dominanz der weltlichen Gewalt" anerkannt wurde,
und „das Bistum sich bemühte, dem Rat willfährig zu sein" (S. 88).
Diese Vorgänge werden anschaulich vorgestellt wie auch das diplomatische
Geschick des Rates im politischen Ringen zwischen dem Reich,
dem Herzog, Dänemark und den Territorialfursten.

Die (weithin archäologisch) nachweisbare ausgedehnte kirchliche
Bautätigkeit von Anfang an dokumentiert sehr früh Frömmigkeit und
Glaubenssinn des Bürgertums: „Denn noch war in jenem sakral geprägten
Zeitalter nicht das Rathaus .. ., sondern die Kirche des Sinnbild
der Gemeinde im bürgerlichen wie im geistlichen Verständnis"
(S. 53). Aufschlußreich für die stets neu Gestalt annehmende Dynamik
der jungen Gründung ist die bald einsetzende missionarischkolonisatorische
Aktivität im östlichen Ostseeraum. Lübeck wurde
zum Zentrum einer weiteren christlichen, politischen und wirtschaftlichen
Expansion (S. 60ff).

Höhepunkt des I.Teiles bildet das 5. Kapitel (S. 105ff) „Bürgerliche
Frömmigkeit in Lübecks großer Zeit". Glänzend wird u. a. über
die kunstgeschichtliche Leistung der Erbauung von St. Marien zu
Lübeck hinaus, diese Kirche gedeutet als „steinernes Abbild der göttlichen
Herrlichkeit" und „Hinweis auf menschliche Schöpferkraft"
(S. 107). Eingängig wird das Kirchengebäude als Darstellung des
himmlischen Jerusalem interpretiert. Weitergehend wäre zu bedenken
, wieweit der gesamte Stadtkomplex als himmlisches Jerusalem
verstanden werden kann.2 Wie sehr diese Frömmigkeit eschatologisch
geprägt war im Blick auf den Ernst des Jüngsten Gerichtes, wird u. a.
an den Reaktionen auf die Pestepidemien (Lübecks berühmter Totentanz
) und an den Formulierungen in Vermächtnissen und frommen
Stiftungen anschaulich nachgewiesen.

Das 7. Kapitel „Das Spätmittelalter als religiöse Blüte und Umbruchzeit
" beschreibt umfassend, wie erfüllt und gleichsam gesättigt
Lübeck vor dem großen Umbruch der Reformation in seinem Glaubensleben
in einer - so möchte man sagen - „ästhetischen Frömmigkeit
" sich vorfand. Gerade an den zahlreichen Zeugnissen der Architektur
und bildenden Kunst werden Sinn und Sinnlichkeit des (ilau-
bens offenbar. Verdienstvoll würdigt H. die vielen brudcrschaftlichcn
Zusammenschlüsse in ihrer religiösen Motivation. Aufmerksamkeit
fordert die Pflege der Frömmigkeit und der Caritas in den „religiösen
Frauenbewegungen". Auch die „devotio moderna" hat ihre Anhängerschaft
. „Auf allen Gebieten des religiösen Lebens zeigte sich ein
extensives Bemühen um transzendentale Sicherheit. . . von den institutionell
-kultischen bis hin zu den privatpersonalistischcn" (S. 153).