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Ausgabe:

1982

Spalte:

817-819

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schmithals, Walter

Titel/Untertitel:

Die theologische Anthropologie des Paulus 1982

Rezensent:

Hübner, Hans

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Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 11

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parallele Texte werden mitunter auch aus dem gleichen Abschnitt
oder aus derselben Schrift herausgelöst. B.-L. benutzen dabei geistreich
eine Technik des Zerschneidens und Zusammensetzens, die zu
formal und inhaltlich glatten Textabläufen führt. Man kann freilich
fragen, ob eine stilistisch und gedanklich bzw. geschehensmäßig
exakte Abfolge immer einen sachgemäßen Maßstab für die Beurteilung
des heute vorliegenden Textes sub specie der Abgrenzung von
Tradition und Redaktion abgibt. Man kann fragen, ob z. B. hinter
einem Bericht nicht mitunter ein komplexerer Geschehensablauf
steht, als der Literarkritiker für möglich hält.

So kommen B.-L. etwa im Verhör Jesu vor dem Hohen Rat zu zwei ganz verschiedenen
causae Mir die Verurteilung Jesu (Mkl4,61c-64 gegen
Mt 26,60b-63a.65a.66). Dem Historiker überlassen sie dann das Urteil darüber
, was dem tatsächlich Geschehenen am nächsten ist (75).

Man könnte sodann wohl behutsamer sein mit der Rückführung
zweier thematisch verwandter Logien auf ein einziges Jesuswort (s.
etwa zu Mk 10,23-27) (um etwas ganz anderes handelt es sich m. E.
bei den Wiederholungen in Joh2). Jedenfalls sind die Argumentationsgänge
der Vff. in verschiedenem Maße überzeugend3 (unabhängig da
von, daß sie einleitend bemerken, sie vereinfachten mitunter, um
deutlicher zu sein [9]).

Der Schluß (109-117) hebt nicht zuletzt hervor (das ist in der Tat
Voraussetzung für die Arbeitsweise der Vff.), daß bei der Redaktion
von Evangelien und Acta literarisch fixierte Überlieferungen verwendet
sind. Nur so erklären sich die durch B.-L. herausgestellten Schwierigkeiten
(113-115). Schließlich bemerken sie, daß die gebrauchte
Methode nicht mehr als Wahrscheinlichkeiten aufzuweisen vermag.
Aber sie ist nicht aufzugeben, sondern zu verbessern. Um ihrer Unent-
behrlichkeit willen muß man die Fackel wieder ergreifen, die die
„Alten" hielten (117)'.

Halle (Saale) Gerhard Delling

' 30. Doch ist z. B. „am letzten Tag" Joh 6,39 usw. Glosse des Herausgebers
des Joh (29).

1 B.-L. denken freilich z.B. auch für Joh 7,28.30.33-36; 8,l9.20b-22 an
Verwertung verschiedener Quellen (22-24).

' Maria „saß zu den Füßen des Herrn" Lk 10,39a - Joh 11,20 „sie blieb daheim
sitzen", 11,32 sie fallt „zu seinen Füßen": diese verbalen Entsprechungen
weisen kaum auf Einflüsse der Erzählung des Lk in Joh (880. Durch Einfügungen
in Joh 11 sei Martha im Vergleich zu Maria (gegen Lk 10.38-42) als le
disciple schlechthin herausgehoben (88-90).

* Übers.: Marie-Emile Boismard - Arnauld Lamouille, Aus der Werkstatt
der Evangelisten. Einführung in die Literarkritik. München: Kösel 1980, 150 S.
Das Vorwort von Bernhard Lang (9-19) führt in das Heft, „eine wegweisende,
wenn nicht bahnbrechende Schrift" (9). ein, insbesondere - auf dem Hintergrund
der Forschungsgeschichte - in die komplizierte Theorie B s über Vorstufen
und Entstehungsgeschichte der Synoptiker und des Joh.

Schmithals, Walter: Die theologische Anthropologie des Paulus. Auslegung
von Rom 7,17 - 8,39. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz: Kohlhammer
1980. 204 S. 8* = Kohlhammer Taschenbücher, 1021.
Kart. DM 16,-.

Bereits in seinem 1975 erschienenen Buch „Der Römerbrief als
historisches Problem"' hat Sch. die literarkritische Analyse des Rom
ausführlich begründet, die er in der hier zu besprechenden Schrift eingangs
nur kurz skizziert und im übrigen dann voraussetzt: Rom besteht
in der Hauptsache aus zwei Briefen: Brief A = 1,1-11,36 (ohne
5,1-11)+ 15,8-13; Brief B der Rest ohne 13,1-7.11-14 und Kap. 16.
Ich habe dazu bereits Stellung genommen und verweise deshalb hier
nur auf diese Kritik, in der ich die Gründe gegen die Teilungshypo-
fiesc im einzelnen dargelegt habe.2 1975 hat Sch. auch schon, wenn
auch mehr am Rande, zum Ausdruck gebracht, daß 7.17-8.39 weithin
vorgedachtes und vorformuliertes Gut sei und als eine Dogmatik in
nuce betrachtet werden könne.1 In seinem neuen Werk führt er diesen
Gedanken genauer aus. Er interpretiert diesen Abschnitt als Kompendium
paulinischer Theologie, die aus einer relativ frühen Zeit pauli-
nischer Theologiebildung stammen müsse und deren Inhalt eine theologische
Anthropologie sei (S. 7). Nach der Einleitung „Das Rätsel des
Rom" wird „die kleine Dogmatik" (kD) in sechs Abschnitten ausgelegt
: 1. Die Überleitung 7,1-16; 2. Die Sünde 7,17-25a; 3. Die Erlösung
8,2-11; 4. Die Ethik 8,12-17; 5. Die Eschatologie 8,19-30; 6.
Klimax 8,31-39.

Eine Einzelbesprechung dieser Abschnitte ist hier nicht möglich. So
beschränke ich mich auf einige allgemeine Charakterisierungen und
wenige Bemerkungen zu Einzelfragen. Deutlich zeigt sich Sch. als
Schüler Rudolf Bultmanns, wenn er die kD existential interpretiert.
Wer Bultmanns Werke kennt, merkt schon bei der ersten flüchtigen
Lektüre, wie stark dessen Einfluß ist - bis in die Formulierungen hinein
. Sch. gelingt es in weiten Partien, die Fruchtbarkeit der Methode
der existentialen Interpretation gerade an paulinischen Texten deutlich
werden zu lassen, jener Methode nämlich, die heute meist aus
Unkenntnis dessen, was sie denn nun wirklich ist und was sie zu leisten
vermag, abgelehnt wird. (Ihre Gegner offenbaren oft schon durch
die Art der Polemik gegen die existentiale Interpretation, daß sie Heidegger
, von dessen existenzialer Interpretation in „Sein und Zeit" sie
abgeleitet ist, nicht studiert und ihr Arsenal an kritischen Einwänden
eben nur der Sekundärliteratur entlehnt haben!) So kann das Buch
von Sch. dankenswerterweise zeigen, daß existentiale Interpretation
biblische Aussagen plastisch in den heutigen Verstehenshorizont
hineinzustellen vermag. Sch. hat recht, wenn er in 7,17-8,39 von
theologischer Anthropologie redet, die eben theologisch ist. Er geht
darin über Bultmann hinaus, daß er konkreter als dieser das moderne
Selbstverständnis thematisiert. Den Abschnitt „Die Sünde" z. B. liest
man mit Gewinn. Richtig stellt er heraus, daß Sünde nur da recht verstanden
wird, wo die Rechtfertigung des Gottlosen richtig verkündigt
wird (S. 61). Aber setzen wirklich alle politischen Theologien bei
einem defizienten Sündenbegriff ein (S. 61)? Unscharf in der Gedankenführung
scheint mir die Darlegung zuweilen zu sein, wenn Sch.
hinsichtlich 7,17 ff davon spricht, daß die Sünde die handelnde Macht
des Menschen selbst ist (S. 38). „Person steht gegen Person, Ich gegen
Ich. Die Person Sünde bemächtigt sich der menschlichen Person"
(S. 39). Soll man nach Käsemanns'' bahnbrechender Interpretation
von Rom 7 wirklich noch vom Menschen sprechen, der als Ich gespalten
ist (S. 39)?

Doch noch grundsätzlicher: Ist Rom 7,17-8,39 wirklich ein Abschnitt
, der lange vor Rom verfaßt und später von Paulus selbst mit
geringen Modifikationen in den Brief A eingefügt wurde? Die Interpretation
der sog. kD müßte dies ja erweisen. M. E. hat sie das nicht
vermocht. Sch. verweist auf inhaltliche Differenzen zwischen der Gesamttendenz
von Rom A und Aussagen der kD. So sei z. B. die
Thematik von Rom A, die Universalität des Heils, nur schlecht in die
kD einzubringen gewesen (S. 20), in ihr werde die Differenz zwischen
Juden und Heiden nicht reflektiert (S. 37), es fehle in ihr jeder Gedanke
an eine Endkatastrophe, die Parusie Christi werde nicht erwähnt
(S. 173). Aber findet Sch. nicht deshalb diese Themen nicht in
der kD, weil er 7,17-8,39 künstlich aus dem übrigen Rom herausnimmt
und folglich thematisch isoliert? Ist nicht eher anzunehmen,
daß Paulus in der kD deshalb nichts darüber sagt, weil er es ja gar nicht
nötig hat?: Sie ist doch im Kontext des ganzen Briefes zu lesen! Ist
nicht der ganze Rom auch in ihr mitgedacht und somit gedanklich
vorausgesetzt? Zumindest steht das methodische Vorgehen von Sch.
in der Gefahr, petitio prineipii zu sein. Daß alle historischen Interpretationen
zirkelhaften Charakter haben, weiß jeder, der sich ernsthaft
mit hermeneutischen Problemen befaßt hat. Ebenso weiß er, daß die
Grenze zwischen notwendig hermeneutischem Zirkel und petitio
prineipii zuweilen fließend ist. Ich fürchte aber, daß sich Sch. doch
schon weit jenseits dieser Grenze aufhält. Wenn er mit einer theologischen
Entwicklung zwischen kD und Rom A rechnet, so bin ich mit
meiner eigenen Pauluskonzeption der letzte, der einen solchen hypothetischen
Gedanken durchzuspielen nicht bereit wäre. Wer diesen
Gedanken von vornherein als verbotenes Terrain betrachtet, nimmt