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Ausgabe:

1982

Spalte:

757-759

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Brandhorst, Heinz-Hermann

Titel/Untertitel:

Lutherrezeption und bürgerliche Emanzipation 1982

Rezensent:

Petzoldt, Matthias

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Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 10

758

Die Bände werden ihren Weg machen, kann man doch wegen der
zumeist sehr instruktiven Darstellung durch die profilierten Verfasser
der einzelnen Biographien mit großem Gewinn zu ihnen greifen, doch
wären für die nachfolgenden Bände kurze Nachweise in Klammern im
Text einheitlich durch alle Beiträge wünschenswert.

Berlin Hans-Ulrich Delius

Kirchengeschichte: Neuzeit

Brandhorst, Heinz-Hermann: Lutherrezeption und bürgerliche
Emanzipation. Studien zum Luther- und Reformationsverständnis
im deutschen Vormärz (1815-1848) unter besonderer Berücksichtigung
Ludwig Feuerbachs. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
1981. 311 S. gr. 8* = Göttinger Theologische Arbeiten, 20 Kart. DM
58,-.

Diesem Buch liegt eine 1979 an der Göttinger Theologischen
Fakultät eingereichte und nachträglich für den Druck überarbeitete
Dissertation zugrunde. Vf. gibt einen zusammenfassenden Überblick
über die geistig und gesellschaftspolitisch bedeutungsvolle Wirkungsgeschichte
der lutherischen Reformation in der Periode deutscher Geschichte
zwischen Wartburgfest 1817 und Märzrevolution 1848. Im
Interesse einer historischen und ideologischen Legitimation beriefen
sich Theologen, Philosophen, Literaten und Publizisten auf je eigene
Weise und mit recht unterschiedlichem Tiefgang auf Luther und die
Reformation unter der gemeinsamen Zielstellung einer bürgerlichen
Emanzipation. Vf. läßt die Agitatoren des Wartburgfestes zu Wort
kommen sowie den Berliner Theologen und Schleiermacherfreund de
Wette (Kap. 3.1.). Börnes und Heines Luther- und Reformationsverständnis
und das der Schriftsteller des „Jungen Deutschland" zeichnet
er nach (Kap. 3.3). Sein Interesse gilt Rüge als dem Kopf der „Hallischen
" und späteren „Deutschen Jahrbücher" (Kap. 3.4.). Auch
Hegel würdigt er in diesem Zusammenhang mit einem kurzen Exkurs
zu seinem Verständnis vom Verhältnis zwischen Reformation und
Revolution (Kap. 3.2.). Das ganze 4. Kap. widmet er der Lutherrezeption
Ludwig Feuerbachs. Diese beiden wesentlichen Sachkapitel werden
- nach instruktiver Einleitung - durch das 2. Kap. „Zur Geschichte
der Auffassung von der unvollendeten Reformation" vorbereitet
und mit den leider zu knappen Ausführungen über den „Zerfall
des bürgerlich-emanzipatorischen Luther- und Reformationsverständnisses
" (Kap. 5) abgeschlossen.

Anlage und Zielsetzung des Buches erweisen sich beim näheren
Hinsehen als problematisch. Gegenüber der großen Aufmerksamkeit
Tür Feuerbachs Lutherrezeption - Vf. greift dabei auch in die gegenwärtige
Forschungsdebatte ein - fällt die Behandlung der anderen
Positionen entschieden zu kurz und zu flächig aus. Nur scheinbar glättet
die Differenzierung im Untertitel des Buches dieses formale Ungleichgewicht
. Und Br.s These von der Feuerbachschen Lutherrezeption
als dem „Höhepunkt des bürgerlich-emanzipatorischen Lutherund
Reformationsverständnisses" (93, vgl. 9f, 164) kann Rez. nur als
das persönliche Urteil in der wirkungsgcschichtlichen Wertung des
Vf. verstehen. Die Lektüre des Buches macht jedenfalls deutlich, daß
sowohl die Genese des Bildes, das der junge Feuerbach von Luther
und der Reformation hat, als auch die Ursache für seine späteren Lutherstudien
sich nicht aus dem Luther- und Reformationsverständnis
der bürgerlichen Emanzipationsbewegung herleiten lassen. Und als
dann Feuerbachs Lutherrezeption auf ihrem Höhepunkt tatsächlich
eine politische Motivation erkennen läßt - in dieser Beobachtung
sieht Rez. das entscheidende Verdienst dieser Arbeit - verweist Vf.
gerade auf den Unterschied zwischen Feuerbachs aufklärerischem
Verständnis von politischer Wirksamkeit und dem politischen Interesse
und Engagement der bürgerlichen Opposition (159ff). So erbringt
die Einbettung der Feuerbachschen Lutherrezeption in eine komplexe
historiographischr 'Jntersuciiung des bürgerlich-fortschrittlichen

Lutherbildes im deutschen Vormärz weniger als vom Vf. veranschlagt
.

Im Blick auf ihren Beitrag zur Feuerbach-Forschung gliedert sich
die vorliegende Studie wohltuend ein in das Anliegen jüngster Feuerbach
-Interpretationen, nicht vorschnell kühne Grundsatzpositionen
pro oder contra aufzubauen, sondern gründliche Detailanalysen an
den Quellen zu treiben. In diesem Zusammenhang hat sich in den letzten
Jahren u. a. die Frage nach dem Stellenwert von Luthers Theologie
in Feuerbachs Philosophie und Religionskritik herausgeschält.
Besonders J. Glasse und C. Ascheri sowie J. Wallmann und O. Bayer
hatten die Forschung maßgeblich vorangetrieben und Erkenntnisse
über Zeitpunkt, Umstände und Ursachen der auffälligen Konzentrierung
Feuerbachs auf Luther in den vierziger Jahren als auch über die
Tragweite der inhaltlichen Auseinandersetzung und der Rückwirkung
der Frömmigkeit und Theologie des Reformators auf die Genese der
Philosophie des Religionskritikers freigelegt. Das Forschen des Vf.
„nach den die Lutherrezeption präjudizierenden Motiven, dem interpretationsleitenden
Interesse Feuerbachs, dem konkreten Interpretationsverfahren
und dem Stellenwert dieser Rezeption im Gesamtkomplex
seiner Religionsphilosophie" (22) führt in mehrfacher Hinsicht
über die bisherigen Ergebnisse hinaus:

1. Br. verschafft erstmalig einen Überblick über Feuerbachs Bild
von Luther und der Reformation vor Beginn der eigentlichen Lutherstudien
(Kap. 4.1. und 4.2.). Er beobachtet die anfänglich scharfe
Polemik und später ambivalente Beurteilung des Protestantismus als
der nur praktischen Auflösung aber theoretischen Restauration des
Christentums. Die Reformation blieb unvollendet. Sie verharrte im
Widerspruch zum menschlichen Wesen und hielt die Vernunft im
Glauben gefangen. Die scharfe Kontrastierung der lutherischen Differenz
von Glaube und Vernunft, Religion und Philosophie dient (1839)
Feuerbach als polemische Waffe im „Leo-Hegelschen-Streit". Noch
in der I. Aufl. des „Wesen des Christentums" 1841 hat sich an dem
ambivalenten Verständnis nichts geändert. Luthers Frömmigkeit und
Theologie ist ihm bis dahin immer eine nachträgliche Bestätigung seiner
religions- und theologiekritischen Ansichten gewesen, nie aber
zum Impuls seiner religionsphilosophischen Entwicklung geworden
(129).

2. Br. schließt sich der Erkenntnis an. daß Müllers kritische Rezension
der 1. Aufl. vom „Wesen des Christentums" bei Feuerbach die
Quellenstudien der Theologie Luthers ausgelöst hat. Er unternimmt
aber den Versuch, den Zeitpunkt des Beginns dieser Studien zu präzisieren
(Kap. 4.3.). In Frage kommt für ihn der Zeitraum zwischen dem
Abschluß der Replik auf Müllers Rezension (Dez. 1841) und der
zweiten Januarwoche 1842. Es bleibt zu hoffen, daß die weitere Herausgabe
des Feuerbach-Nachlasses mehr Licht in dieses Dunkel
bringt, weil davon die Beantwortung der Frage abhängt, inwieweit
zeitlich benachbarte Schriften von der Auseinandersetzung mit Lutherbeeinflußt
sein könnten.

3. Br. gelingt es, die Schriften der Jahre 1842-44 einschl. der Überarbeitung
des „Wesen des Christentums" zur 2. Aufl. auf deren historischen
Kontext hin und Relevanz in seiner Lutherrezeption zu
durchleuchten (Kap. 4.4. bis 4.7.) und dabei auch den Pseudonymen
Artikel „Luther als Schiedsrichter zwischen Strauß und Feuerbach"
sowie das Fragment „Notwendigkeit einer Veränderung" einzuordnen
. Unverständlich ist, warum Vf. die Aufsätze „Der Unterschied
der heidnischen und christlichen Menschenvergötterung" und
„Merkwürdige Äußerungen Luthers nebst Glossen" (1844) völlig unbeachtet
ließ.

4. Schien die Forschung schon zu dem Konsens gefunden zu haben,
daß bei der Herausbildung seiner „neuen" Philosophie die Lutherstudien
maßgeblich Feuerbachs Hinwendung zu einem positiven Verhältnis
zur Religion und zum Standpunkt der Sinnlichkeit gefördert
hätten, so ist diese Sicht durch Br.s Untersuchungen in einen fruchtbaren
Zweifel gezogen worden. „Luthers Theologie war Feuerbach
... ein zwar äußerst gewichtiger, aber eben nur nachträglicher, nur
verstärkender Beleg" für seine neuen Anschauungen (145). Auch die