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Ausgabe:

1982

Spalte:

54-55

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Droz, Eugénie

Titel/Untertitel:

Chemins d l'Hérèsie IV 1982

Rezensent:

Koch, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 1

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Schilderungen Luthers als Bibelübersetzer und als Prediger, die Darstellung
seines Streites mit Latomus oder mit Erasmus, Berichte über
sein behutsames, weil immer auf das „Evangelium" achtendes Wirken
als Reformator der Kirche liest: In immer wieder durch ihre einfühlende
Genauigkeit überzeugenden Gedanken und Formulierungen
wird für den Leser deutlich, wovon dieser Mensch, Luther,
eigentlich bewegt ist und warum er so denkt und handelt, wie er es
tut. Gerade hier, beim Mühen um ein Verstehen des Menschen
Luther, gelingen B. meisterhafte, zu treffsicherer Einfachheit geklärte
Formulierungen.

So etwa bei seiner Charakteristik der Wartburgpostille: an ihr, neben den
übrigen Wartburgschriften gelesen, gewinne man „den Eindruck, daß sie wie
keine andere ein ungenannter Freund für ihn gewesen ist, dem er anvertraute,
was ihn in seiner .Wüste' bewegte ..." Über ihr liege „eine Atmosphäre der
Ruhe, fast des Behagens" (42). Oder über Luthers Reaktion auf den Nürnberger
Reichstagsabschied von 1524: Luther zeige hier, „ohne es zu wollen und zu
wissen, daß er eine Macht war, allein durch seine Unbeugsamkeit, mit der er
alle Drohungen durch immer stärkere Zeugnisse seiner Furchtlosigkeit und
seines Zutrauens zur Führung Gottes beantwortete" (2780- Auch mittelalterlich
-fremdartig-Erscheinendes, wie etwa Luthers Erlebnisse von Teufelsspuk,
wird dem Verständnis heutiger Leser nahegebracht: darin verberge sich „eine
plastische Phantasie riesenhaften Ausmaßes und das Wissen um die Realität
des großen Gegners, der ihm in tausend Verkleidungen in allen Schlachten
seines Lebens gegenüberstand" (25). Die Überlegenheit, die Luthers Invokavit-
predigten ausstrahlten, beruhte „vor allem darauf, daß er sich mit diesem Gegner
auskannte". Eben deshalb konnte er auch „seine Wittenberger Mitarbeiter
vor der Gemeinde schonen" (75).

Daß B. mit der biographisch orientierten Behandlung von Schriften
Luthers zugleich eine vorbildlich in die Situationen eingezeichnete
Theologie dieses für die Reformation entscheidenden Lebensjahrzehnts
bietet, gehört zu den besonderen Leistungen dieses Werkes;
man wird kaum einen besseren Zugang zum Denken des „mittleren"
Luther als den hier gebotenen finden können. Wie er dabei die Aufgabe
des Biographen sieht, kommt in seinen Schlußbemerkungen zur
Darstellung der Erasmus-Kontroverse schön zum Ausdruck. Seine
Aufgabe sei nicht Kritik an Luthers Anschauung in De servo arbi-
trio, mag sie auch reichlich wachgerufen worden sein „durch seine
unerhörte Leidenschaft, gewagte Zuspitzungen seiner Thesen und die
Unbekümmertheit, mit der er über Abgründe von Problemen hinwegzuschreiten
scheint". Es könne hier „nur darum gehen, durch ein
Nachzeichnen der Wege, welche die große Diskussion genommen
hat, und die wenigstens andeutende Analyse seiner Denkmittel das
gewaltige Spannungsfeld seiner Anschauung als Einheit anschaulich
zu machen". Luther sei „weit davon entfernt, eine in sich geschlossene
Lehre über die ins Unausdenkbare reichenden Glaubensfragen zu
entwickeln. Sondern er eröffnet Perspektiven, allerdings solche, die
sämtlich strenge Wahrheit in sich tragen und darum mit fester Hand
gezogen werden müssen" (404).

Heroisierung im Stile älterer Lutherliteratur findet - dank des hohen
Maßes verstehenden Eingehens auf Luthers Person und Gedankenwelt
- nicht statt. Auch die immer wieder als besonders problematisch
empfundenen Aspekte im Wirken Luthers werden von B.
eingehend bedacht. Anstelle einer „unaufhaltsamen Folgerichtigkeit"
reformatorischen Handelns, die „die Kraft anderer Reformatoren"
war, finde man bei Luther immer wieder „ein retardierendes Fragen,
ob die Stunde reif und die Motive rein seien". Seine „Erwägungen
über Reformen bestehen ... in dem Versuch, den rechten Augenblick
für eine Änderung im Großen abzutasten, und in der oft angestellten,
aber nie wirklich bejahten Überlegung, ob man nicht die gereifteren
Glieder der Gemeinde als einen Vortrupp für künftige, allgemeine
Neubildungen sammeln solle" (79).

Besonders eindringlich bemüht sich B. um ein Verständnis von Luthers Haltung
und Äußerungen im Bauernkrieg. Er erinnert an Luthers im Vergleich zu
heutiger Quellenkenntnis schmalen Informationsstand: der Aufstand in Mitteldeutschland
als die für seine Beurteilung der Vorgänge entscheidende Anschauung
. In seinen erschreckenden, auch seine Freunde schockierenden Worten
wider die Aufständischen spiegeln sich seine maßlose Leidenschaft und zugleich
seine maßlose Sorge um das Verderben der Seelen bei den Bauern selbst
(336). Luthers Verteidigung des „harten Büchleins" wider die Bauern im nachfolgenden
„Sendbrief' versteht B. als ein „wider Willen und darum gereizt geführte
^) Wortgefecht, in dem er sich zur geistigen Fortsetzung des
Bauernkriegs gezwungen fand" (346). Besonders gefährlich sei es ihm stets erschienen
, „durch Nachgiebigkeit im Ton und in der Form den Schein zu erwecken
, als gebe er etwas von der Sache preis" (345). Im Ergebnis aber ist es für
B. klar, daß Luther nichts so sehr geschadet hat „wie dies, daß er sich fast ganz
auf die Verteidigung seiner angegriffenen Schrift beschränkte und sich eine Abrechnung
mit den Fürsten und Herren für eine andere Gelegenheit aufhob"
(347). Angesichts der politischen Zusammenhänge „wären die Traumvorstellungen
der Bauern mehr nach seinem Herzen gewesen" (350). So lag „das Tragische
in Luthers Stellungnahme . .. nicht darin, daß er zu bürgerlich, zu konservativ
gewesen wäre, um die Stimme der Sehnsucht aus einem unterdrückten
Stande zu vernehmen, sondern darin, daß sie von Anfang an verzerrt an sein
Ohr kam" (3510- Maßloser Zorn als Kehrseite der ungeheuren Standfestigkeit
verwehrte Luther zu sehen, in welche Umwelt er hineinsprach. Und die Normen
, die er dann einschärfte - Unrecht zu leiden -, reichten „nicht aus für die
Nöte eines Standes, die auch er zum guten Teil anerkannte" (351).

Wer die methodisch schwierige, weit gefächerte Thematik der Vita
Lutheri bewältigen will, muß sich zwischen möglichen Varianten der
Stoffauswahl und -anordnung entscheiden. So mag man immerhin
fragen, ob nicht im Zusammenhang mit der Darstellung von Luthers
Leben in Wittenberg und seiner Schriftauslegung auf Kanzel und Katheder
, über deren exegetische Erträge in den Abschnitten IX und XX
berichtet wird, auch über Luthers Verhältnis zu der von der neuen
Sicht der Dinge bewegten Studentengeneration zu sprechen gewesen
wäre. Als nicht genügend deutlich erscheint die Auffassung von den
Wittenberger Vorgängen 1521 /22. Durch die Art der Thematisierung
(„Unruhen in Wittenberg und Zwickau - Luthers Heimkehr", 56-71)
wie auch durch die Gewichtsverteilung in den Ausführungen selbst
kann der Leser den Eindruck gewinnen, als seien die „Zwickauer Propheten
" hauptverantwortlich für die Vorgänge, die dann Luther veranlassen
, die schon durch Ordnungen eingeführten Reformen wieder
rückgängig zu machen. Daß die „Ordnung der Stadt Wittenberg" von
Karlstadt entworfen wurde (228, vgl. 640, ist gleichfalls nicht so
sicher, wie es hier erscheint. Hier macht es sich bemerkbar, daß B.
neuere Literatur, in der diese Fragen mehrfach behandelt wurden,
nicht mehr einarbeiten konnte.

Anfragen ergeben sich auch zu chronologischen Vorstellungen. Der Buchtitel
„Martin Luther in der Mitte seines Lebens" dürfte weniger in einem allgemein
-biographischen Sinne (38. bis 47. Lebensjahr!) als im Sinne der Unterscheidung
vom Jungen Luther" im üblichen Sprachgebrauch der theologischen
Frühstadien gemeint sein. Nur so läßt sich die sonst etwas seltsam klingende
Formulierung von „den schweren Jugendjahren bis etwa 1519" (S. 22;
Luther 36jährig!) verstehen. Ein Kuriosum - fast zu einer Münchhausiade aus-
zuspinnen - ergibt die Datierung von Luthers Ritt zurück zur Wartburg (46):
„Am Mittag des 10. Dezember stieg er wieder in der gleichen Leipziger Wirtschaft
ab und ritt am Abend des 11. (!??) auf der Wartburg ein ..." (ca.
200 km!) nach unterwegs geführten Gesprächen und leichteren Herzens als
beim ersten Mal. Als weitere Corrigenda seien notiert: S. 175 Anm. 39 muß 88
statt 98 stehen; S. 520 Anm. 37 lies 81 ff. statt I07,10ff. Das Kapitel
„Erneuerung der Frömmigkeit" (180-205) wurde nicht erst 1975 (in: Luther.
Gestalt und Wirkungen) vorabgedruckt (so 180 Anm. 1), sondern findet sich
bereits in: Vierhundertfünfzig Jahre lutherische Reformation, Berlin 1967,
59-79 (als: Luthers Predigten 1522-1524). - Dankbar zu begrüßen sind die beigegebenen
Register (Personen, Orte, besprochene Schriften Luthers).

Berlin RudolfMau

Droz, Eugenie: Chemins de l'Heresie, IV. Textes et Documents.
Geneve: Slatkine 1976. XII, 386 S. m. Abb. u. Taf. gr.8

Der abschließende Band des vierbändigen Gesamtwerks (vgl. ThLZ
96, 1971 Sp. 278-279. 102, 1977 Sp. 743-745), in seinem Umfang
etwas geringer als die drei ersten Bände, ist seinem Inhalt nach zum
größten Teil Nebenfiguren des französischen Protestantismus des
16. Jh., Propagandisten des Calvinismus, Druckern und Predigern,