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Ausgabe:

1982

Spalte:

694-696

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schlögel, Herbert

Titel/Untertitel:

Kirche und sittliches Handeln 1982

Rezensent:

Ernst, Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 9

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tung der Welt zu erwarten" (63). Im ökonomischen Handeln werden
falsche Erwartungen an den Reichtum abgewehrt, denn Ökonomie
darf nicht zum „Träger eines unbedingten Lebensinteresses" werden
(66). Die Mittel der technisch-naturwissenschaftlichen Naturbeherrschung
laufen Gefahr, sich gegenüber der Gesamtkultur zu verselbständigen
, und daher wird ihre Beherrschbarkeit zur Spitze der
ethischen Argumentation etwa im Zusammenhang der Frage nach der
Nutzung der Kernenergie. Schließlich kann sich die Kirche ebenfalls
nicht als Selbstzweck verstehen, sondern muß offen sein und sich vor
dem „Klerikalismus" hüten, der Religion mit einer bestimmten
Kirchlichkeit identifiziert.

An diesem Durchgang durch die Lebensbereiche innerhalb eines
Abschnittes mag beispielhaft deutlich werden, wie es dem Vf. gelingt,
ein bestimmtes Muster der Argumentation quer durch die verschiedenen
Lebensbereiche durchzuhalten. Daß er bei seiner Stellungnahme
akute Strömungen aufgreift, wie in dem eben referierten Abschnitt
das Streben nach eigener Selbstverwirklichung, bietet sicher
Angriffsflächen, bewahrt die Aussagen aber auch vor steriler Richtigkeit
. Der Leser wird nicht mit einer Fülle von Informationen und
Ratschlägen überschüttet, sondern kann sich an klaren Unterscheidungen
und Zielvorstellungen orientieren. Vielleicht wird des Guten
in Richtung auf einprägsame Formulierungen zu viel getan, wenn
sogar Handlungsmaximen im Anschluß an Kants kategorischen Imperativ
formuliert werden (15, 75, 119 u. ö.), die Antizipationen der
Disposition des folgenden Kapitels bringen. Doch sicher ist es ein
Vorzug des Buches, daß durch knappe Formulierungen und deutliche
Hervorhebung der leitenden Gesichtspunkte die Lektüre erleichtert
wird. Für die Weiterarbeit sind die auf den neuesten Stand gebrachten,
aber nicht überquellenden Literaturhinweise eine wichtige Hilfe.

Zur Auseinandersetzung reizen wohl vor allem zwei Voraussetzungen
, die das ganze Buch durchziehen. Die eine ist die „mittelbare
Theologizität der Konkretionen" (12), d. h. der Verzicht auf eine
unmittelbare Rückführung der Konkretionen auf die theologische
Tradition aus der „Einsicht, daß die Theologie hier kein Herrschaftswissen
zur Verfügung hat, sondern ihr Wirklichkeitsverständnis auf
vermittelte Weise konstruktiv ins Spiel zu bringen hat" (13). Gewiß
muß es nicht gleich ein Herrschaftswissen sein, das die Wirklichkeit
überfremdet, doch es bleibt eine Frage, ob es nicht doch eine Verschleierung
ist, wenn die christliche Tradition in der biblischen Par-
änese oder den Konzeptionen der theologischen Lehrer vergangener
Jahrhunderte kaum explizit gemacht wird. Es soll nicht angezweifelt
werden, daß diese Tradition im Hintergrund der Aussagen des Vf.
steht, aber dem Leser wird das kaum durchsichtig; statt dessen
gewinnt er den Eindruck einer allgemeinen Vernünftigkeit der Gedanken
, die nur die Notwendigkeit von Religion voraussetzt. Der Vf.
macht allerdings deutlich, daß es ihm um eine ethische Theologie und
nicht schlechthin um eine allgemeine Ethik geht.

Die andere Voraussetzung ist die Unbefangenheit, mit der den Entschlüssen
und Handlungen des einzelnen die meisten Entscheidungen
zugemutet werden. Daß vor allem im wirtschaftlichen und politischen
Handeln Zwänge wirksam werden, die dem einzelnen kaum Spielraum
für Verantwortung im Sinne von „Traditionsbildung, Weitergabe
von Lebensmöglichkeiten" (75) lassen, wird zu wenig sichtbar.
Die Folgen des Handelns, von denen S. 131 ff die Rede ist, entziehen
sich für den einzelnen weithin der Beherrschbarkeit, so daß die
Maxime „Handle so, daß Du Dich durch die Folgen Deines Handelns
korrigieren lassen kannst" (133) nicht mehr im freien Handlungsspielraum
des einzelnen liegt. Wie weit genügt es etwa, das ökonomische
Handeln daran zu messen, „daß jedermann Zugang zum
Markt hat und niemand davon ausgeschlossen ist" (84), wenn die Interessen
der Konzerne und internationale Machtstrukturen dies schon
lange verhindern? Die an dieser Stelle bei der Lektüre aufbrechenden
Fragen scheinen mir damit zusammenzuhängen, daß die verschiedenen
Lebensbereiche auf das gleiche individualethische Schema
bezogen werden, dessen Effizienz für Wirtschaft und Politik problematisch
geworden ist.

Daß dieses Buch sich nicht in Allgemeinheiten erschöpft, sondern
konkrete Stellungnahmen zu aktuellen Themen wagt, macht die Beschäftigung
mit ihm interessant. Die bestechende Durchsichtigkeit der
Disposition und die klare Diktion empfehlen es nachhaltig für alle, die
ein modernes Lehrbuch der theologischen Ethik suchen.

Leipzig Joachim Wiebering

Schlögel, Herbert, OP: Kirche und sittliches Handeln. Zur Ekklesio-
logie in der Grundlagendiskussion der deutschsprachigen katholischen
Moraltheologie seit der Jahrhundertwende. Mainz: Grünewald
1981. 261 S. 8' = Walberberger Studien. Theol. Reihe, 11. Lw.
DM 42,-.

Unter den gegenwärtigen moraltheologischen Arbeiten dürfte es
wohl nur wenige geben, die nicht in irgendeiner Form auf die Enzyklika
Papst Pauls VI. „Humanae Vitae" Bezug nehmen. Das ist nur
zu verständlich, wenn man bedenkt, daß das Erscheinen dieser Enzyklika
eine intensive Diskussion über das Verhältnis von Lehramt und
Moraltheologie und - dahinter zurückgreifend - über die ekklesiolo-
gischen Grundlagen der Moraltheologie ausgelöst hat.

Die Frage, ob und in welcher Weise die Ekklesiologie in der Grundlagendiskussion
der Moraltheologen zum Tragen kommt, ist bisher
noch kaum untersucht worden. Vf. kommt das Verdienst zu, dieses
nicht einfache Problem in seiner Dissertation (Bonn) aufgegriffen zu
haben. Seine Untersuchung erstreckt sich auf die deutschsprachige
Moralthologie seit der Jahrhundertwende. Diese Eingrenzung ist legitim
, denn zum einen ist in neuerer Zeit die deutschsprachige Moraltheologie
führend, und zum anderen setzt um die Jahrhundertwende -
wenn auch zunächst noch sehr zögernd - in der moraltheologischen
Grundlagendiskussion ein erstes Bemühen um die Klärung des bis
dahin unbefragten Verhältnisses von Ekklesiologie und Moraltheologie
ein.

In Anlehnung an J. G. Ziegler teilt Vf. den Zeitraum von der Jahrhundertwende
bis zum Ende der siebziger Jahre in drei Zeitabschnitte
ein: die Zeit der Grundsatzdebatten von 1900-1930; die Zeit der
Neukonzipierung der Handbücher von 1930 bis zum Zweiten Vatikanischen
Konzil; die Zeit der theologischen Vertiefung vom Konzil bis
zur Gegenwart.

In methodischer Hinsicht geht Vf. auf unterschiedliche Weise vor.
Für den ersten und zweiten Zeitabschnitt untersucht er die Position
einzelner Autoren in Aufsätzen und Handbüche:n; für den dritten
Zeitabschnitt geht er nach systematischen Gesichtspunkten vor. Bezüglich
des ersten Zeitraums kommt Vf. zu dem Ergebnis, daß die
Stellung der Kirche für die Moraltheologen noch nicht zu einem
wissenschaftlichen Diskussionsproblem geworden ist. Von Kirche ist
in der Hauptsache unter dem Aspekt ihrer Gesetzgebungsvollmacht
die Rede. Daher haftet dem Kirchenbild ein stark juridisch bedingtes
Verständnis an. Kontroverse Fragen, die in den Auseinandersetzungen
mit der protestantischen Ethik zu Anfang des Jahrhunderts
(W. Herrmann) aufbrechen, führen zu apologetischen Darstellungen
und lassen die Substanz des Kirchenverständnisses sowie das Selbstverständnis
der Moraltheologie, die sich weithin funktional als praktische
Hilfe für den Beichtvater versteht, weithin unberührt.

Im zweiten Zeitabschnitt kommt es nach Vf. zu einer Reihe von
fruchtbaren Neuansätzen, die mit den Stichworten „vertiefte heilsgeschichtliche
Schau des Mysteriums Christi" und „organischer Aufbau
aus der Offenbarung in Christus" zu kennzeichnen sind. Diese Zeit
der Neukonzipierung der Handbücher ist bestimmt von der Frage
nach dem Aufbauprinzip der Moraltheologie. Für F. Tillmann, der
als Wegbereiter dieser Epoche gelten kann, ist es das Prinzip der
„Nachfolge Christi"; fürO. Schilling das „Caritasprinzip"; für J. Stel-
zenberger die „Idee der Königsherrschaft Christi"; und für B. Häring
das „Gesetz Christi". Auch wenn nicht alle Autoren das „Bild vom
mystischen Leib Christi" explizit in ihren Ansatz aufgenommen
haben, so ist dieses Bild in dieser Epoche doch der zentrale ekklesiale
Ausgangspunkt. Der früher vorherrschende Gedanke der praktischen