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Ausgabe:

1982

Spalte:

603-606

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Theißen, Gerd

Titel/Untertitel:

Studien zur Soziologie des Urchristentums 1982

Rezensent:

Walter, Nikolaus

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Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 8

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ren zu unbegründbaren Spekulationen" (S. 67); „In der sich .kritisch'
nennenden Forschung, die eine Ausbildung des jungen Pharisäers
Paulus zu Jerusalem und seine .dortige Verfolgertätigkeit gern bezweifelt
, wurde leider viel zu wenig darüber nachgedacht, was es bedeutet
, wenn Paulus selbst davon spricht, daß er Pharisäer... war
und die Mehrzahl seiner Altersgenossen im .Judaismus', d. h. im
Gesetzesstudium, bei weitem überflügelte. Von einem organisierten
Diasporapharisäertum und von pharisäischen Schulen außerhalb
Jerusalems vor 70 n. Chr. wissen wir nichts" (S. 71); „Kephas-Petrus
war nicht der typische Vertreter des strengen gesetzestreuen Judenchristentums
und damit auch nicht der eigentliche Gegner des Paulus
" (S. 79); „Die sogenannte erste Missionsreise des Barnabas und
Paulus... könnte beispielhaft für mehrere ähnliche Reisen im
syrisch-kilikischen Raum und in den westlich und nördlich daran angrenzenden
kleinasiatischen Gebieten stehen..., die Reise in die
kleinasiatischen Grenzgebiete Apg 13 und 14 war nicht eine Folge,
sondern eine Voraussetzung des ,Konzils'" (S. 91f.94); „Sein [des
Lukas],moderierter' und darum gewiß für uns fragwürdiger Paulinismus
hat dem wahren Paulus und seinen Schriften mit zu ihrer Bedeutung
in der Kirche und zu ihrem Platz im Kanon verholfen" (S. 105).
Das ist m. E. alles richtig und wichtig, und auch die (freilich nicht ausreichend
als hypothetisch gekennzeichnete) Vermutung, daß in der
„frühen judenchristlichen Gemeinde... die aus der Verkündigung
Jesu stammende innere Freiheit noch stärker wirksam war als in späterer
Zeit" (S. 70) und es „erst allmählich in ihr - nicht zuletzt unter
dem Druck der jüdischen Umwelt und unter dem Einfluß des Herrenbruders
Jakobus - zu einer neuen Wertschätzung des Gesetzesgehorsams
und einer entschiedeneren Rückbindung an die Thora kam"
(S. 81; vgl. auch 95), ist sehr erwägenswert.

Zu starken Bedenken geben dagegen m. E. folgende Thesen Anlaß:
das Verbot der Unzucht im Aposteldekret fordert schwerlich „sexuelle
Enthaltsamkeit außerhalb der Ehe" (S. 97); daß Lukas in den
Samaritanern „Verlorene Schafe des Hauses Israel" gesehen habe
(S. 69), ist nirgendwo angedeutet; und die Feststellungen, „die Gegner
des Paulus im 2. Korintherbrief lassen sich am besten erklären, wenn
man in ihnen Abgesandte der mit Paulus konkurrierenden Petrusmission
sieht" (S. 83), und „die besondere Rolle, die Petrus in dem in
Syrien entstandenen Matthäusevangelium spielt", sei darin begründet
, daß „die Gemeinde in Antiochien und d. h. damit wohl die
Gemeinde Syriens überhaupt... unter den Einfluß des Petrus" getreten
sei (S. 84), sind allerhöchstens diskutierbare Vermutungen. Auch
scheinen mir keine ausreichenden Gründe für die Annahme vorzuliegen
, daß „Paulus und Petrus auf dem Missionsfeld nolens volens zu
.Konkurrenten' wurden, obwohl die Gesetzesfrage kaum mehr zwischen
ihnen stand" (S. 104). Aber solche Einwände zu einzelnen
Punkten ändern nichts an der Feststellung, daß die gesamten Ausführungen
Hengeis weiterführend und sehr lesenswert sind.

Marburg Werner Georg Kümmel

Theißen, Gerd: Studien zur Soziologie des Urchristentums. Tübingen
: Mohr 1979. VI, 317 S. gr. 8' = Wissenschaftliche Untersuchungen
zum Neuen Testament, 19. Lw. DM 79,-.

Gerd Theißen, der zunächst mit Untersuchungen zu christolo-
gischen und eschatologischen Traditionen im Hebräerbrief (1969; vgl.
T. Holtz, ThLZ 96, 1971 Sp. 345-347) und einer formgeschichtlich-
literatursoziologisch angelegten Arbeit zu den „Urchristlichen Wundergeschichten
" (1974; vgl. G. Schille, ThLZ 100,1975 Sp. 430-433)
bekannt wurde, ist seither mit zwei Serien von Aufsätzen (zur Jesustradition
und zu Paulus, insbesondere zum 1. Korintherbrief) hervorgetreten
, in denen er sich um die Erprobung soziologischer Fragestellungen
in der neutestamentlichen Forschung bemüht. Besonders
bekannt wurde der erste der Aufsätze zur Jesustradition: „Wander-
radikalismus"(ZThK 70, 1973, 245-271) und sodann eine Art erster

Zusammenfassung der Studien in dem Heft „Soziologie der Jesusbewegung
" (1977; vgl. G. Baumbach, ThLZ 104, 1979 Sp. 512-514).
Jüngst konnte festgestellt werden, daß Theißen mit diesen Arbeiten
„die Erforschung des synoptischen Stoffes ... ungemein vorangetrieben
" habe (H.-W. Kuhn, in: Kirche, FS für G. Bornkamm, 1980,
122). Der Verstärkung dieses Impulses soll und wird die hier vorgelegte
Zusammenfassung der verstreut erschienenen Aufsätze gewiß
dienen, zumal der Autor selbst feststellt, daß sie von vornherein gewissermaßen
„als Kapitel eines Buches" konzipiert waren. Dem Rez.
war eine solche Sammlung schon seit einiger Zeit als erwünscht erschienen
, zumal auch die Aufsätze zu Paulus bzw. zu den Verhältnissen
in der korinthischen Gemeinde erst miteinander ein abgerundetes
Bild ergeben. - Thematisch etwas abseits liegt wohl der Aufsatz „Sote-
riologische Symbolik in den paulinischen Schriften" (KuD 20, 1974,
282-304); gleichwohl wäre eine Aufnahme (vielleicht in den grundsätzlichen
Teil) günstig gewesen.

Für die exegetischen Studien in Teil II und III muß hier zur Information
über den Inhalt des vorliegenden Bandes die Nennung der
Aufsatztitel genügen: Teil II (Evangelien): Nr. 4: Wanderradikalismus
(s. o.); 5.: „Wir haben alles verlassen" (Mc. X. 28) (NovTest 19,
1977, 161-196); 6.: Die Tempelweissagung Jesu (ThZ 32, 1976,
144-158); 7.: Gewaltverzicht und Feindesliebe (Mt 5, 38-48/Lk
6,27-38) und deren sozialgeschicht icher Hintergrund (bisher unveröffentlicht
). -Teil III (Paulus): 8.: Legitimation und Lebensunterhalt
(NTS21, 1974/75 [so statt 1975], 192-221); 9.: Soziale Schichtung in
der korinthischen Gemeinde (ZNW 65, 1974, 232-272); 10.: Die
Starken und Schwachen in Korinth (EvTheol. 35, 1975, 155-172);
11.: Soziale Integration und sakramentales Handeln. Eine Analyse
von 1 Cor XI 17-34 (NovTest 16, 1974, 179-206; die fehlerhaften
Angaben im Inhaltsverzeichnis sind zu berichtigen). Die Aufsätze sind
fast alle photomechanisch, also unverändert nachgedrückt.

Diesen beiden Hauptteilen ist ein Teil I „Grundsätzliches" vorangestellt
, mit einer für diesen Band geschriebenen Einführung „Zur
forschungsgeschichtlichen Einordnung der soziologischen Fragestellung
" (Nr. 1) und dem Wiederabdruck der Aufsätze (2.). „Die soziologische
Auswertung religiöser Überlieferungen" (Kairos 17, 1975,
284-299) und (3.) „Theoretische Probleme religionssoziologischer
Forschung die Analyse des Urchristentums" (NZSTh 16, 1974,
35-56). Hier begründet, z. T. auch verteidigt Theißen die von ihm
praktizierte Arbeitsmethode, forschungsgeschichtlich (Nr. 1) mit dem
zutreffenden Hinweis, daß die sozialgeschichtliche Fragestellung
durch die formgeschichtliche eigentlich schon angebahnt und auch
durch andere Forschungen um die Jahrhundertwende (bes. bei E. von
Dobschütz) schon vorbereitet war, dann aber in der Mitte des Jahrhunderts
- unter dem Einfluß kerygmatisch-theologischer Exegese -
noch einmal zurückgetreten ist; der geistesgeschichtliche Zusammenhang
des Neuansatzes mit den sozialkritischen Bewegungen der
späten 60er Jahre wird natürlich nicht geleugnet.

Positiv zu würdigen ist Theißens theoretische und methodologische
Offenheit. Sein Interesse liegt nicht bei der Ausbildung einer religionssoziologischen
Theorie des Urchristentums, sondern bei der Erhellung
sozialgeschichtlicher Wirklichkeit. Zu diesem Zweck ist Theorie
nicht überflüssig, weil sie den Rahmen für die Ordnung und Interpretation
von Beobachtungen hergeben muß. Aber die auf geschichtliche
Realität bezogene Förschungsabsicht erlaubt, ja fordert eine offene
Handhabung von Theorien, erlaubt bewußt ekletische Heranziehung
verschiedener Ansätze (vgl. S. 23 ff - z. B. auch aus der marxistischen
Religionssoziologie gewinnt Th. wichtige Erkenntnisse, ohne ihre
Einseitigkeiten zu dogmatisieren, vgl. etwa S. 67 ff). Theißen bevorzugt
den funktionalistischen Ansatz in der Religionssoziologie, weil
dieser auch zu anderen Ansätzen hin offen ist (S. 58ff); aber Maß der
Arbeit ist nicht diese oder jene Theorie; sondern die Daten, Belege
und Beobachtungen. Theorien sind „Hilfsmittel..., die Wirklichkeit
unter verschiedenen Aspekten zu erfassen" - nicht mehr (S. 61
Anm. 14); verschiedene Theorien repräsentieren verschiedene mögliche
Aspekte der Wirklichkeit; sie werden also erst dann falsch, wenn