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Ausgabe:

1982

Spalte:

37-39

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stuhlmacher, Peter

Titel/Untertitel:

Vom Verstehen des Neuen Testaments 1982

Rezensent:

Haufe, Günter

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Seite 1, Seite 2

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Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 1

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Neues Testament

Stuhlmacher, Peter: Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine
Hermeneutik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1979. 262 S.
gr. 8° = Grundrisse zum Neuen Testament. Das Neue Testament
Deutsch. Ergänzungsreihe, 6. Kart. DM 24,-.

Die vorliegende „Hermeneutik" entfaltet geschichtlich und systematisch
im Detail, was der Autor bereits in verschiedenen Aufsätzen
grundlegend und in großen Zügen ausgeführt hat. Insofern bringt sie
keine eigentlich neuen Themen oder Thesen, wohl aber eine willkommene
, auf breitere Leserkreise zugeschnittene Entfaltung bisher
schon mehrfach vertretener Ansätze. Der Leser hält nicht weniger als
eine auf Wesentliches konzentrierte, zugleich mit eigenen Akzenten
versehene Geschichte der biblischen bzw. neutestamentlichen Hermeneutik
in der Hand, die vom Schriftverständnis Jesu bis zur philosophischen
und theologischen Hermeneutik P. Ricoeurs reicht
(§§5-13). Die diesem großen auslegungsgeschichtlichen Mittelteil
vorangestellten §§ 1-4 dienen der problembezogenen Hinführung, die
nachgestellten §§ 14 und 15 der eigenen Problemlösung. Als Ziel der
gesamten Darstellung formuliert der Vf.: „Sie möchte einen heute
einleuchtenden, der Bibel angemessenen und vor unserer kirchlichen
Tradition ebenso wie vor dem Forum der Wissenschaft vertretbaren
Weg der Schriftauslegung und des Schriftverständnisses aufzeigen"
(15).

Einleitend (§ 1) macht der Vf. darauf aufmerksam, wie unausweichlich
schon in den verschiedenen modernen Bibelausgaben die Problematik
eines unterschiedlichen Schriftverständnisses begegnet. Vertieft
wird diese Einsicht durch einen ersten Überblick (§2) zum
gegenwärtigen Streit um das rechte Schriftverständnis, wobei die
Sympathien des Autors eindeutig dem hermeneutischen Standort der
„positiven Kritik" gehören. Schon hier zeigt sich, was später noch
deutlicher hervortritt: der Vf. setzt sich gegen zwei Fronten zur Wehr,
gegen die „radikale Kritik" und gegen das „Nein zur Bibelkritik". Die
erste zerstört die Kontinuität mit der kirchlichen Tradition, die
zweite die Kontinuität mit dem modernen Wahrheitsbewußtsein. Als
weiterer Zugang zur hermeneutischen Problematik wird die Entstehungsgeschichte
des ntl. Kanons zur Sprache gebracht (§ 3), ferner
die Rede von der Bibel als „Wort Gottes" und die Lehre von der
Schriftinspiration (§4), wobei der Vf. darauf dringt, „den biblischen
Kanon aus Altem und Neuem Testament als inspiriertes Zeugniswort
von Gottes Offenbarung in seinem Sohn'" zu verstehen (50).

Der große Hauptteil zur Geschichte des Schriftverständnisses
braucht hier nicht im Detail vorgestellt zu werden. Von Interesse sind
aber die persönlichen Akzente, die der Vf. setzt. Im Rückblick auf das
altkirchlich-mittelalterliche Schriftverständnis wird betont, daß hier
„nicht nur die Grundmöglichkeiten kirchlicher Schriftauslegung erprobt
" worden sind, sondern auch ein Maß an „exegetischer Integration
" erreicht worden ist, das „bewundernswert" bleibt. Die Grenzen
liegen in der für unser historisches Bewußtsein unwiederholbar gewordenen
Allegorese, die die geschichtliche und theologische Wider-
ständigkeit der Texte allzu leicht zugunsten eines kirchlichen Traditionalismus
übersieht (850- Luthers Hermeneutik hält an dem Verbund
von Schrift, Bekenntnis und Schriftauslegung fest, gibt aber der
Schrift das Hauptgewicht im hermeneutischen Zirkel zurück gemäß
der Überzeugung von der Klarheit der sich selbst auslegenden Schrift.
An die Stelle der Allegorese tritt die hermeneutisch angewandte Unterscheidung
von Evangelium und Gesetz. In Abwehr der gegenrefor-
matorischen Position wird die Bibel von der altprotestantischen
Orthodoxie „zur fehllosen Offenbarungsurkunde hochstilisiert"
(109). Pietistische und rationalistische Kritik verhelfen der historischkritischen
Schriftauslegung zum Durchbruch, ohne zugleich deren
theologisch-hcrmcneutischc Bewältigung zu leisten (132). Die notwendige
hermeneutische Synthese wird von Schleiermacher und
F. C. Baur „nur erst in Ansätzen" gewonnen, während D. F. Strauß
und Hofmann jeweils „in einem gleichermaßen unerträglichen

Dilemma" enden (148). Zu Beginn des 20. Jh. kommt Schlatter der
gesuchten Synthese trotz seiner Außenseiterrolle am nächsten (161).
Von ihm führt ein Weg zu K. Barth, dessen „selbständig ausgearbeitete
nachkritische Interpretationsmethode" den stärksten hermeneutischen
Rückhalt für die vom Vf. vertretene „positive Kritik" bildet
(186). Die Weiterarbeit der „Neuen Hermeneutik" von E. Fuchs , G.
Ebeling und H. G. Gadamer macht klar, daß Bultmanns Interpretationsweg
eine „Engführung" darstellt, die im Anschluß an P. Ricoeur
durch eine „theologische Exegese" abzulösen ist, die „heute erneut
vor die biblischen Texte gestellt ist, um aus ihnen einen wegweisenden
Welt- und Seinsentwurf zu entnehmen" (205).

Innerhalb des so eröffneten Raumes entwickelt der Vf. auf knapp
zwanzig Seiten seine „Hermeneutik des Einverständnisses mit den
biblischen Texten" (§ 14). Sie beruht auf der Überzeugung, daß die
protestantische Bibelwissenschaft heute dringend der „Selbstkritik"
bedarf, insofern sie bereit sein muß, die Tragweite und Begrenztheit
ihrer kritischen Mittel zu reflektieren Und die Rückbindung an die
protestantische Glaubenstradition zu suchen (210). Methodisch fußt
sie auf der Forderung, die von E. Troeltsch erarbeiteten Prinzipien
der Kritik, der Analogie und der Korrelation sowie der religiösen
Subjektivität „im Interesse neuer Wahrnehmungen in der Geschichte
" durch das „Prinzip des Vernehmens" zu ergänzen. Das Ziel ist
„ein ganzheitliches Verständnis der biblischen Textwelt" und ein
„mit der Überlieferung anzustrengender Dialog über die das menschliche
Leben konstituierende Wahrheit" (220). Beides kann nur im
Rahmen einer vielseitigen wirkungsgeschichtlichen Reflektiertheit
gewonnen werden, die neben dem Dogmatiker und dem Kirchenge-
schichtler auch die glaubende Gemeinde in den Prozeß der Auslegung
einbezieht. Solche „kirchliche Schriftauslegung" weiß zwar, daß
die biblische Exegese nicht den Glauben als Verständnisprinzip voraussetzen
kann, muß aber berücksichtigen, daß das biblische Wahrheitszeugnis
auf Glauben zielt. Ihre praktische Bewährung findet sie
deshalb erst in der persönlichen und gemeinschaftlichen Textmeditation
, in der Predigt und schließlich in einem „Leben mit der Bibel",
das ein „Leben aus der Versöhnung für die Versöhnung" ist, in dem
die Hermeneutik des Einverständnisses „ihren umfassendsten Bewährungshorizont
" hat (225).

Es leuchtet ein, daß der Vf. als „Verifikation" dieser Hermeneutik
den Grundriß einer biblischen Theologie des Neuen Testaments folgen
läßt (§ 15), der die Heilsbotschaft der neutestamentlichen Schriften
als Entfaltung des Evangeliums von der Versöhnung in Christus
interpretiert, wobei gewisse theologische Defizite am Jakobusbrief,
Hebräerbrief und Matthäusevangelium sachkritisch angemerkt
werden. Dem Vorwurf ungenügender Kritik begegnet der Vf. im Anschluß
an Schlatter und Ricoeur mit der These, „daß das Verstehen
von Texten sich vor diesen Texten und nicht in ihrer prinzipiellen
Hinterfragung abspielt" (246). - Ein ausführliches Literaturverzeichnis
zu den einzelnen Paragraphen, ein Sachregister und ein Bibelstellenverzeichnis
beschließen das Buch.

Es dürfte kaum einen Leser geben, der die Grundintention des Buches
, nämlich die Diastase von historischer Bibelkritik und gläubigem
Bibelverständnis in verantwortbarer Weise zu überwinden, nicht
aufrichtig teilt. Es fragt sich jedoch, ob der vom Vf. gewiesene Weg
schon in jeder Hinsicht befriedigen kann. Für das weitergehende Gespräch
seien hier nur folgende Fragen notiert: Ist das Festhalten an
einer nicht präzis definierten Schriftinspiration wirklich theologisch
notwendig? Wie verträgt es sich mit der auch vom Vf. gehandhabten
Sachkritik? Muß nicht eine dem Prinzip des Vernehmens
verpflichtete Schriftauslegung deutlicher als selbständiger Arbeitsschritt
von der historisch-kritischen Schriftauslegung abgehoben
werden, wenn die schon bei der Allegorese drohende Gefahr, daß die
historische und theologische Widerständigkeit der Texte zu kurz
kommt, nicht erneut aufbrechen soll? Gehört das „Vernehmen"
nicht bereits in den Raum der „Meditation"? Ist es exegetisch tatsächlich
geraten, die Mitte der ntl. Heilsbotschaft als „Evangelium
von der Versöhnung jn Christus" zu beschreiben, wenn man berück-