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Ausgabe:

1982

Spalte:

573-586

Autor/Hrsg.:

Boor, Friedrich

Titel/Untertitel:

A. H. Franckes Beitrag zu einer umfassenden Interpretation der Römerbriedvorrede Luthers 1982

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Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 8

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meinem Glauben um christliches Glauben handelt, weil es der Gott
Jesu ist, der diesen Glauben bestimmt. Ich bin deswegen von der Richtigkeit
dieser Behauptung überzeugt, weil ich meine, daß sie sich
- methodisch kontrolliert - verifizieren läßt.

Und nun die Provokation: Ich stelle mir vor, es kommt jemand und
zeigt mir: Der christliche Gott, das ist der Gott, den Matthäus bezeugt.
Die Wahrheit des Matthäus ist also die christliche Wahrheit. Und ich
stelle mir vor, daß er mir das (wieder: methodisch kontrolliert) zeigt,
so daß ich keine Möglichkeit habe, ihn zu widerlegen. Was würde daraus
für mich folgen? Ich meine, dieses: Ich darf in Zukunft nicht mehr
behaupten, ein Christ zu sein, denn diese Behauptung wäre ganz
offenkundig falsch. Und ich würde dann wohl auch darauf verzichten,
ein Christ sein zu wollen. An diesem Etikett kann mir doch nichts
mehr liegen. Dafür kann ich nur einen einzigen Grund nennen: Ich
bin nicht bereit, meinen Glauben aufzugeben, weil ich seine Wahrheit
darin erfahren habe, daß er mich trägt. Darum habe ich auch die Zuversicht
, daß er mich weiterhin tragen wird. Im Leben, und, wie ich
hoffe, auch im Sterben.

1 Studium der Theologie. Eine enzyklopädische Orientierung (UTB 446),
Tübingen 1975, S. 82.

1 Einleitung in das Neue Testament, 4. Aufl. Gütersloh 1978, S. 21.
Der erste Brief an die Thessalonicher (Zürcher Bibelkommentare, NT 11,1),
Zürich 1979, S. 48 f.

' Wenn man heute an ältere „Exegesen" anknüpft, sollte man bedenken:
Luther, Zwingli, Calvin, aber auch das Tridentinum gehören in die Vor-
Aufklärungszeit. Das ist sicher eine Binsenweisheit. Es genügt aber nicht, sie
nur zu kennen.

'Theologie des Neuen Testaments, 5. Aufl. Tübingen 1963,S. 599.
4 Hervorhebung von mir.

7 A. a. O. (Anm. 2), S. 13-23; vgl. auch S. 258-293.

* Vgl. W. Marxsen, Anfangsprobleme der Christologie, Gütersloh 1960,
S. 7-20.

* Vgl. W. Marxsen, Die Kontrolle der Exegese, in: Der Exeget als Theologe,
Gütersloh 1968, S. 198-213.

Zu diesem Komplex vgl.: W. Marxsen, Der zweite Thessalonicherbrief
(Zürcher Bibelkommentare, NT 11.2),Zürich 1982, S. 43-52 undS. 107-117.

A. H. Franckes Beitrag zu einer umfassenden Interpretation
der Römerbriefvorrede Luthers* (I)

Erhard Peschke zum 75. Geburtstag
Von Friedrich de Boor, Halle (Saale)

In seinen Untersuchungen zur Theologie A. H. Franckes hat
Erhard Peschke wiederholt auf die grundlegende Bedeutung Luthers
für Francke hingewiesen.1 Dabei wird von ihm mehrfach Luthers
Vorrede zum Römerbrief (im folgenden = VR) als eine entscheidende
Quelle für Franckes Lutherverständnis genannt2 und gelegentlich aus
einer Vorlesung zitiert, die Francke über diese Vorrede gehalten hat
(im folgenden = FL).5

Mit dieser hohen Wertung der VR befindet sich Peschke in voller
Ubereinstimmung mit der vorangehenden Franckeforschung, welche
die Bedeutung dieser Vorrede für Francke auf Grund des Selbstzeugnisses
am Schluß seines Bekehrungsberichtes eingehend diskutiert
hat. Dagegen ist die umfangreiche Vorlesung Franckes über diese
Vorrede bisher nur von Herbert Stahl stärker beachtet worden.5
Auch Martin Schmidt, der die Wirkungsgeschichte der VR im Pietismus
insgesamt dargestellt hat und dabei in Auswahl auch auf Aussagen
Franckes eingegangen ist,6 hat diese wohl umfassendste Interpretation
der VR im Pietismus nicht beachtet.7

Von daher erscheint es berechtigt zu sein, die auf einen allgemeinen
theologiegeschichtlichen Vergleich ausgerichteten Untersuchungen
des Jubilars zum Verhältnis Franckes zu Luther in einem direkten
Textvergleich weiterzuführen und Franckes Vorlesung über die VR*
mit diesem zentralen Luthertext zu konfrontieren, der auch in der
Lutherforschung als „eine kurze Summe der Theologie Luthers"
gewertet wird.*

I.

Um die von Francke in dieser Vorlesung vorgetragenen Interpretation
der VR historisch sachgemäß zu verstehen, sind zunächst einige
Vorbemerkungen notwendig.

1 • Es handelt sich um eine Vorlesung im Rahmen des sogenannten
Collegium paraeneticum,10 und zwar um die erste Stunde einer
Paranetischen Vorlesungsreihe Franckes zum Römerbrief aus dem
Jahre 1703." Francke hat in diesem Kolleg in der Regel keine
vorher schriftlich ausgearbeiteten Entwürfe vorgetragen, sondern anhand
eines kurzen Stich wortzettels, auf dem er die Gliederung, wichtige
Sachbegriffe und Bibelstellen notiert hatte, in freier Rede formuliert
, was ihn gerade im Blick auf die Studenten beschäftigte. Gele-
Vortrag vor dem Theologischen Arbeitskreis für reformationsgeschichtliche
Forschung (TARF) im September 1980 in Leipzig. Im folgenden wird die überleitete
und erweiterte Fassung des letzten Teils dieses Vortrags geboten.

gentlich las er auch, wie in der uns interessierenden Vorlesung,
einen Text vor, um anschließend die für ihn wichtigen Stellen zu erläutern
. Es ist verständlich, daß bei diesem Verfahren eine Vorlesung
gelegentlich aus den Fugen geraten konnte und deshalb für Francke
an sich wichtige Gedanken nicht mehr so zur Sprache kamen, wie er
es vielleicht ursprünglich beabsichtigt hatte. Eine weitere Schwierigkeit
für die Analyse ergibt sich ferner aus der Tatsache, daß die Nachschriften
in einem komplizierten Verfahren von mehr oder minder interessierten
Studenten zusammengestellt worden sind. So sind Fehler
in der Wiedergabe keineswegs auszuschließen. Schließlich ist zu
beachten, daß die Handschriften in der Regel zum Druck überarbeitet
wurden. Die Vorlesungen zum Römerbrief wurden erst 1732-1736
postum von Franckes Sohn Gotthilf August ediert.'2 Ob und in welchem
Umfang dabei eine Bearbeitung stattgefunden hat, ist nicht auszumachen
, da die studentischen Mitschriften nicht mehr vorliegen.
Wir haben aber auf jeden Fall keinen von Francke selbst autorisierten
Text vor uns, immerhin jedoch vielleicht die Chance, noch den unmittelbaren
Duktus der freien Rede Franckes erfassen zu können.

2. Bei der Analyse dieser Vorlesung ist außerdem zu beachten, daß
es sich bei dem Collegium paraeneticum um eine praktisch-existen-
tiell ausgerichtete Lehrveranstaltung handelt, die Francke seit 1694
wöchentlich einmal für alle Studenten der Theologie in Halle hielt.
Dabei wechselte er mehrfach den Inhalt. Neben einer Vielzahl von
Einzelermahnungen stehen Vorlesungsreihen zur Methode des Theologiestudiums
oder zur Idee eines rechten Theologiestudenten.

In der Frühzeit bevorzugte Francke, wohl in Weiterführung der in
Leipzig mit dem Collegium philobiblicum und den-Collegia biblica gemachten
Erfahrungen, Vorlesungen über paulinische Briefe. Er verweist
selbst am Beginn der Vorlesung über die VR auf diesen Zusammenhang
(FL 1 f). Nach einem kurzen Gebet (1,10-14) erwähnt er den Abschluß
der Vorlesungsreihe über den Hebräerbrief (1,15-17)" und erklärt
, daß er nun „versprochener maßen" beabsichtige, „die Epistel an
die Römer auf eben dieselbige Art exegetico-paraenetice zu tractiren",
und zwar „alles in derselbigen Kürtze und zu solchem Zweck, als bereits
in den Episteln geschehen ist, welche bis daher sind tractiret worden"
(1,17—2,6).'* Es ging ihm dabei nicht um eine rein wissenschaftlichphilologische
Exegese, sondern um die darauf aufbauende Applikation
des „spiritus Pauli" auf Leben und Studium der Hörer."

Dieser allgemeinen paränetischen Zielstellung diente auch seine
Interpretation der VR. Wir dürfen deshalb keine streng systematisch-