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Ausgabe:

1982

Spalte:

538-539

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Peschke, Erhard

Titel/Untertitel:

Kirche und Welt in der Theologie der Böhmischen Brüder 1982

Rezensent:

Wendelborn, Gert

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Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 7

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kirchlich-religiösen Ausgangslage, die A. vorfindet, wären auch die
Forschungen von W. Zeller zu beachten.)

Trotz der als „frühpietistisch" anzusprechenden Aspekte in A.s Reformkonzeption
wird die unverwechselbare Eigenart von Reformprogrammatik
und Reformwerk A.s erst im umfassenderen Bezugsfeld
Reformation - Orthodoxie - Humanismus/Spiritualismus/Panso-
phie - Pietismus/Aufklärung zu erfassen sein. A., der - wie van Dülmen
deutlich macht-gegen die Säkularisierung der bürgerlichen Kultur
im Späthumanismus und in der Ära des aufsteigenden Frühabsolutismus
die Konzeption einer Rechristianisierung der Gesellschaft
(nicht im restaurativen Sinne, sondern als Konsequenz reformatorischen
, nachdrücklich auf den Vollzug des Glaubens im Leben
gerichteten Erneuerungswillens) zu verwirklichen sucht, dürfte als
Reformer sui generis zu begreifen sein. Herausgefordert von den geistigen
und gesellschaftlichen Umbrüchen der Epoche läßt A. das (in
seiner Frühphase durch Traditionen eines pansophisch angereicherten
' Humanismus modifizierte) vorwiegend ethizistisch interpretierte
Erbe der lutherischen Reformation Gestalt werden in der gesellschaftlichen
Wirklichkeit seiner Zeit, deren Schäden in Kirche, Bildungswelt
und Staat er benennt und bekämpft.

Man wird daher nicht nur Kontinuität zur lutherischen Reformation
, sondern auch situationsbedingte Transformierung konstatieren
müssen. A.s Denken ist ohne Zweifel auf die neuzeitliche' geistige
(u. a. Aufschwung der Naturwissenschaften) und gesellschaftliche
Gesamtkonstellation bezogen. Seine denkerischen Experimente (Rezeption
pansophischer Elemente) sind als Modelle solcher Transformation
zu begreifen, die (auch innerhalb von A.s Entwicklungsgang)
eine bestimmte Phase des Umformungsprozesses markieren. Eine
sektiererische .Kanonisierung' seiner Experimente muß A. daher als
Irrweg abweisen. - A.s Übersetzung' des Luthertums in das neuzeitliche
' Koordinatensystem impliziert 1. den Mut zu einer neuen Identität
, die (unter Betonung des Lebensbezugs der Lehre) doktrinäre,
retrospektive Stagnation überwindet. Von einer ,Autarkie', die den
durch den geschichtlichen Wandel eingetretenen Identitätsverlust
negiert, ist A. durch seinen in der Bewältigung der Krisenerfahrung
gewonnenen neuen Ansatz geschieden. Bei der Begründung seiner
Position bedient sich A. anderer (in der Frühzeit: ,platonisch-hermetischer
') Formungselemente als die lutherische Orthodoxie. - A.s
.Übersetzung' impliziert 2. die legitime Weitergabe der biblisch-reformatorischen
Botschaft (in Kontinuität zur Reformation und in Konvergenz
mit der Orthodoxie). Als christlicher Denker baut er das .neuzeitliche
' Koordinatensystem grundlegend um. (Ein Indiz für seine
Verweigerung der .Anpassung' ist die Ablehnung der curiositas, vgl.
S. 105ff). Trotz des ausgeprägten Bewußtseins der Tragweite des geschichtlichen
Wandels ist A. seinem Selbstverständnis nach durchaus
.orthodox'. Daher kann er seinen Kritikern gegenüber mit Recht
seine Rechtgläubigkeit betonen.

Zur Bestimmung der Funktion pansophischer und spiritualistischer
Elemente bei A. werden noch weitere Untersuchungen erforderlich
sein. - Die Biographie A.s macht jedenfalls deutlich, daß dieser Lutheraner
die von den .Linken' (Spiritualisten und Pansophen) artikulierte
Kirchen- und Gesellschaftskritik als Herausforderung zu einem
dem reformatorischen Glaubenszeugnis adäquaten Lebensvollzug angenommen
und ernst genommen hat; weitergehende destruktivseparatistische
Konsequenzen jedoch verwirft er.

Mit dem lutherischen Laien J. Boehme und dem Brüderbischof
J. A. Comenius gehört der württembergische Pfarrer und Generalsuperintendent
J. V. Andreae zu den wegweisenden Gestalten des
17. Jh., die der welterneuernden und -umgestaltenden Dimension
christlicher Verkündigung und Lebenshaltung Ausdruck verliehen
haben.

Jena Eberhard Pältz

' Über die vielfältigen Beziehungen A.s zu Paracelsisten und dessen bereits
im Elternhaus geforderte naturwissenschaftliche Interessen orientiert van Dülmen
ausfuhrlich; eingehend dargestellt wird das geistige Umfeld von A.s Rosen-
kreuzerschriften: „Die .Geheime Verbrüderung' und A.s Freundeskreis in
Tübingen", in dessen Mittelpunkt der Paracelsist Tobias Hess stand (S. 46fT).

Peschke. Erhard: Kirche in der Theologie der Böhmischen Brüder.

Vom Mittelalter zur Reformation. Berlin: Evang. Verlagsanstalt
1981. 219 S. 8° Pp. M 10,80; Ausland 16,-.

Man muß dem Verlag sehr dankbar dafür sein, daß er dieses Werk
des emeritierten Hallenser Kirchengeschichtlers herausbrachte, mit
dem dieser seine 1935/40 begonnenen Studien über „Die Theologie
der Böhmischen Brüder in ihrer Frühzeit" (Stuttgart) abschließt, handelt
es sich doch bei den hier dargestellten Phänomenen der Kirchengeschichte
um wenig bekannte, doch höchst interessante, die es wert
sind, der Vergessenheit gerade im deutschen Sprachbereich entrissen
zu werden. Hatte Vf. die Theologie der Hauptrepräsentanten der
frühen Brüderunität und ihrer Vorläufer damals unter dem Gesichtspunkt
ihres Abendmahlsverständnisses erörtert, so betrachtet er sie
jetzt unter dem noch aufschlußreicheren ihrer Verhältnisbestimmung
von Kirche und Welt. Dabei greift er bei den meisten Kapiteln auf
Spezialstudien zurück, die in Aufsatzform v. a. in der Wiss. Zeitschr.
der Rostocker Univ. sowie in dem 1964 im selben Verlag erschienenen
Büchlein „Die Böhmischen Brüder im Urteil ihrer Zeit" publiziert
wurden.

Nach einer Einleitung, die kurz auf mannigfaltige Kräfte vor dem
Beginn des Hussitismus besonders in Böhmen aufmerksam macht,
wendet er sich im 1. Teil der Schrift des Hus von der Kirche, der
Postille des Utraquisten Rokycana und der Chronik des Taboriten
Nikolaus von Pilgram zu. Gerade hier macht er den Leser mit völlig
neuen den Quellen abgelauschten Erkenntnissen vertraut. Damit konfrontiert
er ihn mit der Mitte des Denkens des Begründers der hussiti-
schen Bewegung wie der wohl bedeutendsten Vertreter ihres konsequenten
wie ihres kompromißbereiten Flügels. Es wird ersichtlich,
daß der utraquistische Prager Erzbischof grundlegend gebliebene traditionell
-katholische Gedanken mit kritischen Sonderlehren Wiclefs,
Janovs und Jakobells verband. Sein vermittelnder Standpunkt in der
Marien- und Heiligenverehrung wie bei der Betrachtung der guten
Werke, die Ausdruck seines Synergismus ist, ist ebenso augenfällig wie
sein Streben nach Verinnerlichung der Frömmigkeit. Vf. kennzeichnet
seine Theologie als eklektisch, ausgewogen, schlicht und praktisch
motiviert. Dagegen wird bei Hus wie erst recht bei dem Taboriten-
bischof der Gegensatz gegen das römische Kirchenverständnis zu
Ende gedacht. Richtig ist gesehen, daß der Prädestinationsgedanke
hier wie schon bei Wiclef zum kritischen Prinzip für die Beurteilung
der etablierten Weltkirche wird, und Vf. hebt auch mit Recht hervor,
daß Hus' „De ecclesia" kein dogmatisch-theoretisches Werk, sondern
eine Kampfschrift sein wollte.

Schon bei Hus und Nikolaus v. Pilgram treten zentrale Anliegen zutage
, die ich mit A. Molnär als typisch für die 1. Welle der Reformation
in Mittel- und Westeuropa betrachte. Dazu gehört der Antichrist-
Gedanke ebenso wie das Bewußtsein, zur Minorität der rechten Christen
zu gehören, die stets verfolgt werden und also in der Nachfolge
ihres inkarnierten und gekreuzigten Herrn selbst dem Leiden unterworfen
sind. Dem Verfallsgedanken entspricht die Idee von den Zeugen
der Wahrheit. Es handelt sich mithin um eine dezidiert kirchenkritische
Theologie, deren Kritik vorrangig nach innen gerichtet ist
und der Buße dienen will. Das Bündnis von Thron und Altar seit
Konstantin wird entsprechend polemisch betrachtet. Vf. arbeitet diesen
Tenor in wünschenswerter Deutlichkeit heraus, legt zugleich aber
großen Wert darauf, die zahlreichen Unterschiede zwischen den einzelnen
Richtungen des Hussitismus und v. a. der Brüderunität hervortreten
zu lassen. Das wird besonders deutlich im 2. Teil. Hier wird die
Lehre der Böhmischen Brüder nacheinander an Chelcicky, Br. Gregor
, Thomas Pfeloucsky, der Kleinen und Großen Partei und Lukas