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Ausgabe:

1982

Spalte:

509-510

Kategorie:

Judaistik

Titel/Untertitel:

Nidda (Unreinheit der Frau) 1982

Rezensent:

Schreiner, Stefan

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509

Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 7

510

Die Mischna. Text, Übersetzung und ausführliche Erklärung mit eingehenden
geschichtlichen und sprachlichen Einleitungen und textkritischen
Anhängen, hrsg. v. K. H. Rengstorf u. L. Rost. VI. Seder:
Toharot. 7. Traktat: Nidda (Unreinheit der Frau). Text, Übersetzung
und Erklärung nebst einem textkritischen Anhang von
B. Z. Barslai. Berlin-New York: de Gruyter 1980. X, 193 S.
gr. 8°. Kart. DM 85,-.

Mit dem hier anzuzeigenden Band, der die Erklärung des Traktats
Nidda beinhaltet, ist das 1912 von G. Beer und O. Holtzmann begonnene
Projekt der „Gießener Mischna", wenn auch noch keineswegs
abgeschlossen, so doch seinem Abschluß wiederum ein Stück
nähergekommen.

Der Traktat Nidda („Unreinheit der Frau"), dessen „Lehrstoff...
in der Hauptsache auf Lev 15,19-30 bezügl. der Menstruation und der
Genitalblutungen außerhalb dieser; auf Lev 12,1-8 über die Geburt
und die Bestimmungen für die Wöchnerin, und schließlich auf
Lev 18,19; 20,18 bezüglich des Verbots des ehelichen Verkehrs während
der Genitalblutungen und der damit verbundenen Unreinheit
(vgl. auch Ez 18.,6)" basiert (S. 2), nimmt unter den Traktaten im
Seder Toharot insofern eine gewisse Sonderstellung ein, als er der einzige
unter ihnen ist, der eine babylonische und eine jerusalemische
Gemara hat (von letzterer besitzen wir heute allerdings nur noch jene
zu den ersten drei und zum Anfang des vierten Kapitels), nicht zuletzt
deshalb, weil seine Bestimmungen zur Sexualhygiene zu allen Zeiten
unvermindert aktuell waren, also stets beachtet und daher auch
immer von neuem ausgelegt, modifiziert oder/und erweitert wurden
(S.3f). Barslais Kommentierung gilt freilich nur dem Mischnatraktat
selbst, wenngleich er natürlich vielerorts auch die Gemara und deren
Auslegung im Laufe der Jahrhunderte berücksichtigt.

Der Anlage der „Gießener Mischna" gemäß bilden den Hauptteil
dieses Bandes (S. 26-165) die (sehr sorgfältige) Edition des Textes', der
die Handschrift MS Kaufmann, Budapest, die G. Beer 1930 als Faksimile
herausgegeben hat, zugrunde liegt (S. 167), dessen (gut lesbare
und verständliche) Übersetzung sowie deren ausführliche Kommentierung
in Form von Fußnoten, ein Verfahren, dessen Probabilität
(einschließlich seiner Grenzen) nicht zuletzt die bis heute viel benutzte
Ausgabe der „Mischnajot - Die Sechs Ordnungen der Mischna.
Hebräischer Text mit Punktation, deutscher Übersetzung und Erklärung
" (6 Bde, hrsg. von A. Samter, D. Hoffmann u. a„ Neudruck
Basel 1968)bewiesen hat.

Darüberhinaus umfaßt der Band neben Registern (S. 184-186), Ab-
kürzungs- (S. 187-189) und Literaturverzeichnis (S. 190-193) einen
für die Textgeschichte des Traktats wichtigen, gründlich gearbeiteten
„Textkritischen Anhang" (S. 167-183), in dem nicht nur die Lesarten
und Varianten der fünf vollständigen Handschriften (KCP LM) und
der Erstdrucke der Mischna (N), des Bavli (B) und Jeruschalmi (J),
sondern auch fünf Geniza-Fragmente des Traktats Nidda berücksichtigt
werden. Dem Hauptteil vorangestellt ist schließlich eine „Einleitung
" (S. 1-24), in der der Vf. den Leser mit den sogenannten Einleitungsfragen
, angefangen von der Erklärung des Namens Nidda für
diesen Traktat (S. 1 0, über dessen religionsgesetzliche Voraussetzungen
(S. 2-5) und zu seinem Verständnis notwendige medizinische
Sachkenntnisse (S. 5-8) bis zur „Komposition des Traktats" (S. 8-10)
und der Klärung des „Verhältnisses des Mischnatraktats Nidda zum
gleichnamigen Traktat der Tosefla" (S. 10-18), bekannt macht. Den
Schluß der Einleitung bildet ein chronologisch geordnetes „Verzeichnis
der im Traktat Nidda genannten Rabbincn mit kurzen Erläuterungen
ihrer Person" (S. 18-24).

•rn Kapitel über die „Komposition des Traktats" begnügt sich der
»£ mit einigen Anmerkungen zum außerordentlich ausführlichen
Inhaltsverzeichnis, in dem er seine Gliederung des Traktats in 22 Kapitel
mit einer Fülle von Unterkapiteln zusammengefaßt hat
(S. VII-X), um am Ende dieser Anmerkungen nur noch festzustellen,
daß über „die Entstehungszeit des ganzen Traktats. . . heute nichts
Genaues mehr gesagt werden", sondern nur vermutet werden kann,
daß er „gegen Ende des 2. Jahrhunderts seine endgültige Gestalt

gehabt hat, obwohl auch anzunehmen ist, daß hier und dort die Hand
des Mischnaredaktors einige unwesentliche Korrekturen vorgenommen
hat, die heute nicht mehr auszumachen sind" (S. 10). Ebenso
beschränkt sich der Vf. im Vergleich von M Nidda mit T Nidda
darauf, „ein Bild vom gemeinsamen Traditionsgut von M Nidda und
T Nidda herzustellen und das Verhältnis zwischen ihnen aufzuzeigen
" (S. 11), was im übrigen bereits A. Guttmann, „Das redaktionelle
und sachliche Verhältnis zwischen Misna und Tosefta", Breslau
1928, getan hat, auf den der Vf. auch Bezug nimmt^ohne über das hinauszugehen
, was bei Guttmann nachzulesen ist. „Aus logischen Erwägungen
" folgt er bei seinem Vergleich der beiden Traktate „dem
T-Faden, da T Nidda im großen Ganzen M Nidda ... voraussetzt"
(ebd.). Am Ende des Vergleichs aber stellt er fest: „Wie wir gesehen
haben, weichen T und M vielfach voneinander ab, setzen sich aber
doch fast immer wieder gegenseitig voraus" (S. 18).

Spätestens an dieser Stelle, so wünscht man, hätte der Vf. auf
J. Neusncrs Arbeiten zur Mischna, vor allem auf dessen "A History of
the Mishnaic Law of Purities", vols 15-16: Niddah (= SJLA VI.
15-16, Leiden 1976-1977), zurückgreifen bzw. sich damit auseinandersetzen
sollen, der sich doch eingehend gerade mit den Problemen
der Redaktion(sgeschichte) von Mischna und Tosefta befaßt
hat. Doch der Name Neusner taucht in Barslais Buch nirgends auf.
Dabei wäre eine vom Standpunkt „traditioneller" Mischnaexegese,
wie sie der Vf. treibt, vorgenommene Überprüfung der Neusnerschen
Thesen am Detail nicht nur sehr interessant, sondern ebenso sehr verdienstvoll
gewesen. So aber bleiben die Ergebnisse, zu denen der Vf.
bei der Behandlung der Einleitungsfragen gelangt, letztlich unbefriedigend
, denn im Grunde wiederholen sie nur längsfBekanntes, ohne
daß an einer Stelle eine überlieferte Ansicht beleuchtet würde.

Auch im Kommentar, den Erläuterungen zur Übersetzung
beschreitet der Vf. die Wege der „traditionellen" Auslegung, dies wohl
freilich auch, weil es die Konzeption der „Gießener Mischna" so verlangt
. So erklärt »r, allerdings unter Heranziehung umfangreicher
Literatur, gründlich wieder und wieder alle Realien und gibt zudem
an vielen Stellen auch Erläuterungen zu sprachlichen, lexikographischen
wie grammatischen Problemen, die das Lesen und Verstehen
des hebräischen Textes durchaus erleichtern. Dennoch gilt,
was J. Neusner gegen W. Buntes Kommentar zum Traktat Kelim
(„Gießener Mischna" VI, 1; vgl. dazu die Rez. von L.Wächter in:
ThLZ 101, 1976 Sp. 747-749) vorgebracht hat ("A History of the
Mishnaic Law of Purities", vol. 1: Kelim, Leiden 1974, S. 8-9),
mutatis mutandis auch für Barslais Buch. Auch hier findet sich kaum
etwas,.das über bereits Bekanntes hinausgeht, wie schon ein einfacher
Vergleich mit Moses Auerbachs Kommentar zum Traktat Nidda (in:
„Mischnajot etc.", Bd. 6, Basel 1968, S. 503-556) hinreichend belegt.

Wenngleich man dem Vf. für die große Mühe, die Früchte exegetischer
, philologisch-kritischer Bemühungen der Gelehrten (freilich
nur) des 19. und 20. Jh. bequem und überschaubar (auch bibliographisch
) zusammengefaßt zu haben, schon danken muß, so darf man
dennoch fragen, ob diese Mühe wirklich gelohnt hat; denn die eigentliche
halachische Forschung mit ihren Fragen nach den Zusammenhängen
zwischen Einzelbestimmungen und Konzeptionen, die bereits
in den großen Kommentaren, die in der Romm'schen Mischnaaus-
gabe (Wilna 1887) abgedruckt sind, ein bis heute beeindruckendes
Niveau erreicht hat, bleibt leider unberücksichtigt (die gelegentlichen
Bezugnahmen auf Maimonides und Bertinoro, Raschi wird sogar nur
fünfmal erwähnt im Kommentar, können darüber auch nicht hinwegtäuschen
); dabei müßte aber gerade an sie jeder (neue) Mischna-
kommentar anknüpfen.

Naumburg-Berlin Stefan Schreiner

' Aufgefallen sind mir lediglich fünf Versehen, u. zw. muU es heißen: S. 118
Z. 2 sähü'; S. 136 Z. I säl äbän; S. 144 Z. 7 b'tök; Z. 146 Z. 8 metahärät; S. 152
Z. 7 ümetammä.