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Ausgabe:

1982

Spalte:

491-493

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Niemöller, Martin

Titel/Untertitel:

Was würde Jesus dazu sagen? 1982

Rezensent:

Haustein, Manfred

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Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 7

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bleme der Diakonie, die trotz der enger gewordenen Verbindung von
Kirche und Diakonie nicht zu übersehen sind. Für die Zukunft fordert
P. „Konzentration auf Profile" und damit „quantitative Selbstbeschränkung
". - Spezieller gefaßt ist die Thematik von
W. Matzke: „Die Kirche und ihre Psychiatriediakonie" (157-196).
Eine tiefgreifende neutestamentliche Besinnung versucht an drei Texten
(Jakobusbrief, Apg 6, Rom 12,10 das Wesen der Diakonie theologisch
zu erfassen. Anthropologische Überlegungen handeln vom Nutzen
und Sinn des Lebens im Blick auf Behinderte, die ihrerseits als
„Testfall für die diakonische Existenz von Gemeinde" geltend gemacht
werden. Abschließend skizziert M. die psychiatriediakonische
Ausbildung und Praxis in den Samariteranstalten Fürstenwalde. -
Wesentlichen Aspekten geistlichen Lebens in der Arbeit mit „Geistigbehinderten
" wendet sich Chr. Weber zu (171-180). Ausgehend
von dem „Vorschuß von Vertrauen", den diakonisches Handeln als
Proprium einbringt, wird im Anschluß an Zinzendorf das „Gefühl als
Erkenntnisprinzip" für Behinderte postuliert und ein „non-verbales
Bekenntnis" (Anzeichen von Vertrauen und Geborgenheit) als Antwort
erwartet. Der bloße Besuch des Sonntagsgottesdienstes ist als
geistliches Angebot ungenügend; wichtig ist die tägliche geistliche Zuwendung
, die möglichst alle Sinnenbereiche anspricht und das Leben
als Geschenk erfassen lehrt. Solcher Dienst bereichert auch den Mitarbeiter
, der darüber hinaus auf ein wechselseitiges Miteinander mit der
Ortsgemeinde achten sollte. - Der letzte, von P. Meis und
H. J. Wollstadt stammende Beitrag (181-199) sammelt und deutet
Erfahrungen des geistlichen Lebens geistig Behinderter in verschiedenen
Anstalten der Diakonie in der DDR unter der Fragestellung
nach der „therapeutischen Bedeutung christlicher Lebensformen".
Wenn auch die Berichte im einzelnen zeigen, daß von einer „therapeutischen
" Funktion im strengen Sinn kaum die Rede sein kann, so
nimmt man dennoch bewegt zur Kenntnis, welche bergende und befreiende
Kraft vertraute, ständig wiederkehrende geistliche Lebensformen
gerade für geistig Behinderte besitzen.Voraussetzung ist freilich
, daß die ihnen zugeordneten Mitarbeiter aus der gleichen Quelle
schöpfen.

Greifswald Günter Haufe

Niemölier, Martin: Was würde Jesus dazu sagen? Reden - Predigten -
Aufsätze 1937 bis 1980. Hrsg. von Walter Feurich unter Mitarbeit
von Carl Ordnung. Berlin: Union Verlag 1981. 291 S. 8'. Lw.
M9,80.

Das Problem von Auswahl-Bänden liegt in der dem Herausgeber
auferlegten bzw. freigegebenen Selektion. Einseitige Akzentuierungen
und tendenziöse Zuschnitte sind möglich. Beispiele gibt es dafür mehr
als genug. Diese durch Walter Feurich, dem jahrzehntelangen Vorsitzenden
der Kirchlichen Bruderschaft Sachsens, in seinem letzten
Lebensjahr besorgte Auswahl vermittelt demgegenüber ohne Zweifel
ganz und gar den authentischen Martin Niemöller. Wer ihn als Gesprächspartner
, Prediger, Referenten persönlich erlebt hat, begegnet
ihm hier in seiner unverwechselbaren Prägung wieder.

Der Auswahl vorangestellt (S. 7-26) ist ein aus langer theologischer
und freundschaftlicher Verbundenheit - Feurich war ein „echter Dah-
lemit" - schöpfendes Vorwort des Herausgebers. Den Band beschließen
(S. 286-291) „Bemerkungen zu dieser Auswahl" von Carl Ordnung
, die vor allem den zeitgeschichtlichen Kontext betreffen und die
Entwicklungen des Vf., der bis in sein hohes Alter geistig beweglich
bleibt und immer „weitergeht", deutlich machen.

Die Sammlung, von der letzten Predigt vor der Verhaftung, gehalten
am 25. Juni 1937 in Berlin-Dahlem, bis zu einem der typisch
spontanen, temperamentsbestimmten Interviews Niemöllers („Was
ist aus den Neuanfängen geworden?"), das er 1980 Pfarrer Heinrich
Werner für die „Neue Stimme" gab, umschließt zahlreiche Beiträge
sowohl vielfältiger Thematik als auch unterschiedlicher Gattung:
Aufsätze, Vorträge, Ansprachen, Predigten, Stellungnahmen, Interviews
und Presseartikel. Als die beiden Hauptthemen, die N. offensichtlich
in wachsender Leidenschaftlichkeit und bewußt vorsätzlicher
Einseitigkeit bewegen, erweisen sich, engstens aufeinander
bezogen, die Frage des Friedens angesichts der atomaren Totalbedrohung
der Menschheit und die Weltverantwortung der Christenheit
. Unverkennbar, und zwar mit den Jahren zunehmend, ist eine
gewisse Animosität gegen die akademische Theologie, welche zumindest
auch von daher gespeist wird, daß diese in der Sicht des Vf. ihre
Routine-Probleme und spezialistischen Fragen weiter vor sich her
betreibt, als ob nicht schlechterdings alles, Menschheitsuntergang
oder Weltfrieden, Tod oder Leben, auf dem Spiel stünden. Sie beruht
aber auch auf einer ebenso konzentrativen wie einfachen theologischen
Position, die alle zwischenerrichteten dogmatischen Lehrgebäude
mit unerhörter Geste beiseiteschiebt (sogar die Theologie seines
verehrten Freundes und Kampfgefährten Karl Barth wird da nicht
ausgenommen!) und nahezu jedes Theologische in die eine Frage,
welche der Band als Titel trägt, zusammenfaßt: „Was würde Jesus
dazu sagen?"

Es wird deutlich, daß die Zuspitzung nach Inhalt und Form, die
Niemöller schon immer eigen war, manches Ärgernis provozierte,
aber vor allem die jeweilige Entscheidungssituation in ganzer Radikalität
bewußt machte, in den Beiträgen der letzten Jahre noch zugenommen
hat. Man würde es sich aber mit Sicherheit zu leicht machen,
darin nur die nicht seltene Alterspotcnzierung einer bestimmten
charakterlichen Eigentümlichkeit zu konstatieren. Diese Zuspitzung
der Zuspitzung und Radikalisierung der Radikalität beruht zweifellos
entscheidend auf der Zunahme der Menschheitsbedrohung und der
trotz mancherlei Aufbrüche und Ansätze nach dem Eindruck N.s aufs
Ganze gesehen noch immer ausgebliebenen Erweckung der Christenheit
, der Kirchen zu einer faktischen, entschiedenen Weltverantwortung
.

Niemöllers Weltsicht im Lichte des Glaubens an Jesus Christus ist
von außerordentlicher Evidenz und Klarheit. Daraus erstehen zwingend
seine kategorischen Alternativen, für die er so unglimpflich streitet
. Dabei handelt es sich gerade nicht, was ohne weiteres spürbar ist,
um eine nur andere Form vielfältig geübter phänomenologischer Analytik
der Weltlage, die damit nicht herabgesetzt wird, sondern um eine
pneumatische Sicht, um Durchblicke und Aufrisse im Geiste Gottes,
der kein anderer als der Geist Jesu Christi ist. Dem Glauben, welcher
den Zeugen Niemöller durchdringt und bestimmt, wohnt eine Erkenntniskraft
sui generis inne, die sich keineswegs lediglich auf Inneres
und Geistliches beschränkt. Nimmt es wunder, wenn es immer
wieder Stimmen gab und gibt, welche die Kategorie des Prophetischen
auf ihn anwandten und anwenden?!

Immer aber zielt seine Verkündigung - und als Verkündiger, Botschafter
versteht er sich in jeder Weise - in das Gewissen, diesem dem
Menschen eingestifteten Zentrum der Verantwortlichkeit. Dabei
erweist sich niemand, kein einzelner, aber auch kein kollektiver Bereich
als tabu und ausgenommen. Die Betrefflichkeit ist schlechterdings
universell. Es ist aber auch nicht zu übersehen, daß N. - und dies
ebenfalls zunehmend - als die treibende Kraft auf die Weltkatastrophe
zu den „Zwingherrn Mammon" (S. 242 und an vielen anderen Stellen
) identifiziert und von daher zu einer immer entschiedeneren Absage
an die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung
gelangt. Die prinzipielle Bejahung möglicher, ja notwendiger konkreter
gemeinsamer Aktionen von Christen und Kommunisten ohne
Vermischung und Einvernahme, die er klar vertritt und praktiziert,
hat hier einen ihrer entscheidenden Gründe. (Dazu u. a.: „Das Verhältnis
zwischen uns Christen und den Kommunisten", 1973,
S. 202-206; „Kann ein Pfarrer Mitglied der DKP sein?", 1976,
S. 222-224)

Ohne Martin Niemöllers Positionen im einzelnen immer teilen zu
können - so ist dem Rezensenten die konkrete Vermittlung der Proklamierung
der Bergpredigt als allein vernünftige Politik (S. 243) in
pauschaler Weise mit der an anderer Stelle zitierten 5. Barmer These,
welche vom Staat besagt, daß er „in der noch nicht erlösten Welt. . .