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Ausgabe:

1982

Spalte:

475-477

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Guhr, Ekkehard

Titel/Untertitel:

Personale Beratung 1982

Rezensent:

Stollberg, Dietrich

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475

Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 6

476

Praktische Theologie: Seelsorge

Guhr, Ekkehard: Personale-Beratung. Voraussetzung und Methode.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1981. 297 S. gr. 8". Kart.
DM 29,80.

Diese Mainzer Dissertation versucht, Theorie und Methodik einer
ganzheitlich-anthropologischen Beratungswissenschaft zu entwickeln
und darzustellen. Sie setzt sich dabei mit Autoren aus Psychotherapie
(von S. Freud bis z. B. H. Argelander und J. Willi), Lebensberatung
(z. B. W. Lüders) und Seelsorgebewegung (z. B. Piper, Riess,
Scharfenberg, Thilo) auseinander. Die literarischen Gesprächspartner
kommen allerdings oft nur äußerst ungenau ins Blickfeld und
werden dort ausgeblendet, wo der Vf. angeblich Neues entdeckt zu
haben glaubt: z. B. wenn er „die Einbeziehung der Situation als einer
grundlegenden theologischen Kategorie der Lebenseinheit der Wirklichkeit
in die Praxis" der Seelsorge fordert oder die theologisch
uralte und in der sog. personalen Anthropologie wie in verschiedensten
Seelsorgelehren der Vergangenheit und Gegenwart längst
vertretene „Erkenntnis, daß die Person eine Schlüsselrolle im sprachlichen
Vermittlungsprozeß hat," proklamiert (vgl. u. v. a. A.
Sborowitz [Hrsg.] Der leidende Mensch, Darmstadt 1965).

Der Vf., der zweifellos über eine große Praxiserfahrung verfugt, will
zu Recht von konkreten Realitäten statt von hohl gewordenen Begriffen
und sterilen Papierwahrheiten ausgehen, gerät dabei freilich
zuweilen in falsche Alternativen und übersieht beispielsweise den
empirischen „Sitz im Leben", den Religiosität im kollektiven und
individuellen Phantasiebereich der Menschen einnimmt und von wo
aus personale Wirklichkeit entscheidend mitgestaltet und auch verändert
wird, so daß theologischen Implikaten, ja der Erarbeitung
eines „persönlichkeitsspezifischen Credo" (K. Winkler) während des
Beratungsvorgangs eine zentrale Funktion zukommt, die das Buch so
gar nicht wahrnimmt. Denn, was auf ganzen 38 von insgesamt 231
Seiten zur Theologie angeboten wird, ist äußerst dürftig: „Die personale
Beratung im Kontext der praktischen Theologie." Was hätte
man theologisch aus der kritisch gegen zitierte Autoren eingebrachten
Beobachtung machen können, „daß in jeder Beziehung Frustrationen
und Auseinandersetzungen eine Rolle spielen"! Guhr fragt aber zu
wenig nach der Bedeutung praktischer Theologie für die personale
Beratung - offenbar aus Angst vor einem und Abneigung gegen einen
dogmatischen Mißbrauch deduktiver Theologie - und endet, als wäre
das ganz selbstverständlich, bei der Frage nach der Bedeutung, „die
eine personale Beratung für die praktische Theologie unmittelbar
haben kann". Der Antwort, daß sie eine Befreiung der Theologie aus
deren lehrhafter und geisteswissenschaftlicher Engführung ermöglichen
und den rationalisierenden, d. h. schmerzhafte Wirklichkeitserfahrung
abwehrenden Charakter abstrakter philosophischer
und theologischer Deutungen und Postulate aufdecken bzw. ablösen
kann, wird man zustimmen.

Dieses Ergebnis steuert der Vf. in mehreren Schritten an:

1. Was ist Beratung - Problem, Person, Methode, Institutionalisierung
- ? Dieser Teil soll die Situation skizzieren, in die hinein
bzw. auf deren Hintergrund das Buch entworfen ist. Erst dann folgt
eine Erläuterung der Konzeption der Arbeit, die „auf die Bedeutung
grundlegender Elemente zwischenmenschlicher Verständigung, die
wissenschaftliche Notwendigkeit ihrer Berücksichtigung in einer
Methodik der Lebensberatung sowie auf die Möglichkeit ihrer
methodischen Anwendung in einer beratenden, therapeutischen und
(Anm. d. Rez.: Man beachte das Und zwischen kategorial verschiedenen
Begriffen!) kirchlichen Praxis aufmerksam" machen will.
Kurz gesagt: Verständigung statt Indoktrination! D'accord!

2. Das Konzept wird anhand eines ausführlichen Fallberichts
veranschaulicht: Es geht nicht darum, aufgrund bestimmter statisch
verstandener Kriterien zu diagnostizieren und zu therapieren,
sondern echter Kontakt, der Konflikte nicht ausspart, wirkt heilsam
im Medium einer bewußt gestalteten dynamischen Beziehung. Ein

für sich bestehendes psychisches Strukturgefüge und ein entsprechendes
methodisches Instrumentarium, das die Person zur Sache
macht, ist nach Guhr nicht erkennbar; die Vieldimensionalität und
Komplexität menschlichen Lebens muß anders als medizinischtechnisch
wahrgenommen und gemeinsam verarbeitet werden. Ich
bin sehr einverstanden.

3. Es folgt ein Reflexionsteil, der „Voraussetzungen und Methodik
personaler Beratung" als Bestandteile einer adäquaten Theorie
erläutern will. „Die Bedeutung der Kategorie Beziehung" wird mit
Zitaten geeigneter Autoren (Buber, Christian, Maeder, Bovet),
zunächst - und gerade deshalb eigentlich nicht recht konsequent,
wenn Begriffe zugunsten von komplexer Realität zerstört (vgl.
P. Ricoeur, Rez.) werden sollen - nur „für den Personbegriff", unterstrichen
. Hinsichtlich der Subjekt-Objekt-Problematik wird (mit
A. Hollweg und dessen Gewährsleuten) die Ablösung aristotelischer
Logik durch galileische Relativität konstatiert und ein sozialempirischer
Personbegriff formuliert: „Die Person ist mit denjenigen
Faktoren, mit denen sie die Beziehung zur Umwelt eingeht, definierbar
." K. Lewin, R. Spitz, E. Erikson u. a. stehen dafür in bunter
Mischung gerade. Sodann wird die Relevanz der weltanschaulichen
Werte für den Verlauf des Beratungsprozesses angesprochen - eine
wichtige und oft vernachlässigte Fragestellung, deren gründlichere
Bearbeitung gelohnt hätte! Es genügt nicht, personale Beratung „als
interpersonalen Prozeß" zu beschreiben, „der weniger an formulierten
Werten als mehr an einer person(en)zentrierten Beziehung
orientiert ist". Hier hätte ein Wahrheits- und Wertebegriff entstehen
können, der Wahrheit als Geschehen und Werte als feldbezogene
Symbole verstehbar und in ihrer Beratungsrelevanz erkennbar macht.
Der positive Sinn einer funktional verstandenen Theologie für den
Beratungsprozeß gehörte in diesen Zusammenhang (vgl. u. a.
J. Scharfenberg/H. Kämpfer, Mit Symbolen leben, Ölten 1980).

Im folgenden werden für die Beratungsmethode drei Schwerpunkte
herausgestellt: Wahrnehmen, Verstehen, Vermitteln. Problematisch
erscheint besonders das „Vermitteln", wenn formuliert wird, personale
Beratung versuche, „dem Ratsuchenden eine personale Identität
zu vermitteln". In einer dynamischen „participation mystique"
soll durch die engagierte Distanz des Beraters mit Interventionen des
Bestätigens und Verwerfens im Sinne der Echtheits-Variablen von
Rogers und keinesfalls im Sinne psychoanalytischer und anderer
Deutungen Hilfe zu einem realitätsbezogeneren Identitätserleben
gegeben werden.

4. Ausgehend von dem Beratungsfall werden Psychiatrie, Psychotherapie
, psychologische Therapie (z. B. Verhaltenstherapie) und
Seelsorge auf ihren Umgang mit depressiven Syndromen befragt.
Guhr stellt u. a. eine „Verleugnung der Person zu Gunsten der
Methode" bei psychoanalytischen Konzepten fest und sieht in
Gesprächspsychotherapie wie humanistisch-psychologischen Verfahren
zu Recht einen Fortschritt. Der Mangel an genauerer Kenntnis
dieser aktuellen, in sich äußerst differenzierten Richtung führt freilich
zu unangemessen pauschaler Kritik, wie sie auch sonst in diesem
Buch immer wieder vorlaut zu Wort kommt. Es folgen ein paar
Seiten zur Verhaltenstherapie, die man schon deshalb mit Interesse
liest, weil G. Besiers von vielen als Überraschungsangriff erlebter
Rundumschlag (Seelsorge und Klinische Psychologie, Göttingen
1980) diesen Komplex lerntheoretischer Techniken gerade mit
Alleinvertretungsanspruch für die Pastoral Psychologie requiriert hat.
Daß Guhr seine personal-kommunikativen Absichten hier nicht
vertreten sieht, ist verständlich. Dies gilt auch für die Kommunikationstherapien
, die er von den Verhaltenstherapien unterscheidet
. Sein Vorwurf, die Person des Rat und Heilung Suchenden
bleibe primär Objekt einer Methode und habe keine intendierte
Chance, die eigene Realität als echter Partner des Beraters oder
Therapeuten ausreichend zur Geltung zu bringen, gilt auch ihnen.
Die personale Beratung, wie Guhr sie sich - zu Recht - wünscht, hat
demgegenüber „ihren Platz außerhalb der psychologischen oder
psychotherapeutischen Praktiken". (Dabei muß man beachten, daß