Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1982

Spalte:

381-383

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Zur Mühlen, Karl-Heinz

Titel/Untertitel:

Reformatorische Vernunftkritik und neuzeitliches Denken 1982

Rezensent:

Fischer, Hermann

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

381

Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 5

382

Systematische Theologie: Allgemeines

Zur Mühlen, Karl-Heinz: Reformatorische Vernunftkritik und neuzeitliches
Denken. Dargestellt am Werk M. Luthers und Fr. Gogar-
tens. Tübingen: Mohr 1980. IX, 337 S.,gr. 8'. = Beiträge zur historischen
Theologie, 59. Lw. DM 98,-.

Die vorliegende Untersuchung, eine Tübinger Habilitationsschrift
für das Fachgebiet der Kirchengeschichte, ist auf der Grenze von
historischer und systematischer Theologie angesiedelt. Im Medium
historischer Analysen liegt ihr an einer systematisch orientierten Klärung
der Bedeutung reformatorischer Theologie für das neuzeitliche
Denken, die am Leitfaden der Vernunftkritik in Luthers Theologie
vorgenommen wird. Entgegen allem Anschein und aller neuzeitlichen
Kritik an Luther erweist sich die Produktivität seiner Vernunftkritik
und des ihr entsprechenden Personverständnisses darin,
so die These der Arbeit, daß sie das menschliche Handeln von Überansprüchen
mit den für die humanitas ruinösen Folgen befreit.
Anders als das „transzendentalistisch" auf die Subjektivität fixierte
neuzeitliche Bewußtsein, dem die geschichtliche Wirklichkeit des
Menschen zu entgleiten droht, vermag die Vernunftkritik mit dieser
Entlastung in einen konstruktiven Dialog mit den heutigen Humanwissenschaften
und der von ihnen thematisierten empirischen Rationalität
einzutreten. Ihre Illustration und Bewährung erfährt diese
These an der neuzeitlichen Lutherrezeption, für die das Lutherverständnis
Friedrich Gogartens des Paradigma abgibt. Unbeschadet
ihres Ranges bezeugt auch Gogartens Lutherinterpretation mit ihrer
Personalistischen Engführung, zumal im Kontext ihrer Vorgeschichte
(Dilthey, Graf York von Wartenburg, Troeltsch, Holl), den nachhaltigen
Einfluß neuzeitlicher Subjektivitätsphilosophie (J. G. Fichte
), so daß die gegenwärtige Kritik an Luthers Theologie mehr an
dieser Rezeptionsgeschichte als an der reformatorischen Vernunftkritik
selbst begründeten Anhalt hat. Das letzte Interesse der Arbeit
geht deshalb dahin, gerade im reformatorischen Denken eine „der
Neuzeit... selbst verborgene Dimension ihres Sinnes" zu erschließen
(Vorwort).

Das Buch ist außerordentlich klar konzipiert, es gliedert sich in
zwei Hauptteile. Nach einer Einleitung (1-8: Zum Problem der trans-
zendentalistischen Verengung und heutigen Relevanz von Luthers
Theologie), die die Fragestellung der Untersuchung entwickelt, bietet
der [. Teil (9-167: Soteriologische Kritik der praktischen Vernunft in
der Theologie Luthers) auf dem Hintergrund eines Überblicks über
den substanzontologischen Zusammenhang von Person, Werk und
Vernunft in der scholastischen Theologie, vornehmlich bei Thomas
v. Aquin (11-21) und Gabriel Biel (21^*3), eine Darstellung der
reformatorischen Vernunftkritik in den einzelnen Entwicklungs-
Phasen der Theologie Luthers. Auch der II. Hauptteil (169-306: Die
Kritik der neuzeitlichen Vernunft bei Fr. Gogarten unter Berufung
auf Luthers Theologie) setzt nicht unmittelbar bei Gogarten ein, sondern
wendet sich zunächst wiederum der Vorgeschichte zu und skizziert
die Verhältnisbestimmung von Reformation und Neuzeit bei
w-Dilthey und Graf York von Wartenburg (173-181), bei
E- Troeltsch (181-189) und K. Holl (189-201), um dann Gogartens
Lutherrezeption und die darauf begründete Kritik der neuzeitlichen
Vernunft in seiner Frühzeit, in der mittleren Phase und im Spätwerk
zu verfolgen. Durch einen Vergleich mit neueren Ansätzen einer
Zuordnung bzw. Gegenüberstellung von Reformation und Neuzeit
(H. Rückert, G. Ebeling, H. Blumenberg, H. Marcuse und G. Picht)
kommt es zu einer Vertiefung des gewonnenen Bildes (283-303), die
•n ein Resümee grundsätzlicher Art ausmündet (304-306), nachdem
Gogartens Kritik der neuzeitlichen Vernunft im Lichte der Vernunftkritik
Luthers schon vorher (272ff) eine abschließende Zusammenfassungerfahren
hatte.

Den Einsatz seiner Fragestellung läßt sich der Vf. von H. Marcuses
Lutherkritik vorgeben. Nach Marcuse hat Luther vor allem in seiner
Freiheitsschrift die Freiheit der inneren Sphäre der Person zugewiesen
; die äußeren unfreien Verhältnisse werden vergleichgültigt
wenn nicht gar gerechtfertigt. Damit sieht H. Marcuse die Weichen
für die spätere Entwicklung zum transzendentalen Freiheitsverständnis
Kants und überhaupt zur bürgerlichen Philosophie gestellt.
Mit der Ausrichtung des Interesses auf die transzendentale Freiheit
geraten die faktische Unfreiheit des Menschen und sein äußeres Elend
aus dem Blick. Zur Mühlen widerspricht dieser Interpretation
Luthers im Spiegel Kantischer Transzendentalphilosophie.
Luther versteht Person nicht als „bloße Erscheinung des transzendentalen
Ich in der Zeit", vielmehr geht es in seiner Theologie „um das
empirische Ich in der konkreten Erfahrung das geschichtlichen
Seins", das sich durch den Anruf des Evangeliums „in seinem einmaligen
, unwiederholbaren Selbstsein vor Gott" erkennt (4). Eine
nähere Interpretation des Vernunftverständnisses und des Personbegriffs
bei Luther soll die grundsätzliche Verschiedenheit der reformatorischen
Theologie von neuzeitlicher Subjektivitätsphilosophie
unter Beweis stellen. Zur Mühlen weiß sich für seine Analysen den
Forschungen W. Joests über die „Ontologie der Person bei Luther" in
besonderer Weise verpflichtet, will aber über ihn hinaus auch die
Realisierung des Personseins in seinem Praxisbezug zur Welt bzw.
zur Gesellschaft deutlich machen (7).

Die Konturen der Theologie Luthers zeichnen sich auf dem Hintergrund
der mittelalterlichen Scholastik besonders scharf ab. Thomas
von Aquin entwickelt mit seinem Personbegriff das durch die
christliche Offenbarung erschlossene unverwechselbare einmalige
Sein des Menschen, verschafft aber mit seinem Verständnis von Person
als individueller vernünftiger Substanz (im Anschluß an Boe-
thius) einer aristotelischen Seinsvorstellung Eingang in das christliche
Denken. Wohl ist die eschatologische Vollendung der menschlichen
Natur in der Partizipation an der göttlichen „reines Gnadengeschenk
", und doch schließt die Verwirklichung des menschlichen
Seins ontologisch eine Disposition für dessen eschatologische Vollendung
ein. „Damit wird aber das der christlichen Offenbarung entsprechende
Verständnis von Person durch Kategorien griechischer
Ontologie überfremdet und dessen relationaler Empfangs- und Ereignischarakter
vor aller Praxis zurückgedrängt" (21). Zur Wahrung der
Freiheit Gottes und der Gratuität seiner Gnade betont der Nominalismus
in Übereinstimmung mit der franziskanischen Theologie die
durch keinen Seins-Ordo eingeschränkte potentia Dei absoluta. Aber
unter dem Gesichtspunkt der potentia Dei ord'nata gewinnt das
facere, quod in se est in der Auslegung Gabriel Biels doch wieder
„disponierende Kraft für das Sein in der Gnade", so daß das soteriologische
Grundmodell des Thomas trotz der antipelagianischen Vorbehalte
Biels erhalten bleibt (40).

Im Gegensatz zu solch einem weiterhin mit Ungewißheiten belasteten
, weil am menschlichen Handeln orientierten, Verständnis
der Freiheit und Gnade Gottes dringt erst Luther zu ihrer theologisch
stringenten Fassung vor, indem er die Gewißheit und Identität stiftende
Macht göttlicher Gnade vor allem menschlichen Werk radikal
unabhängig macht. In subtilen und interessanten, allerdings zu Wiederholungen
neigenden Einzelanalysen verfolgt zur Mühlen diesen
Entwicklungsprozeß von den frühen bis zu den späteren Schriften
Luthers mit dem Ergebnis, daß Luther das Personsein des Menschen
nicht mehr substantialistisch, sondern existential denkt, strikt
zwischen Person und Werk unterscheidet, der Vernunft und dem
Handeln jegliche Heilsbedeutung abspricht, gerade aber durch diese
soteriologische Kritik der Vernunft bzw. deren soteriologische Entlastung
die natürliche Rationalität in ihrer säkularen Funktion freisetzt
(66). Leider bleibt es aber bei dieser mehrfach wiederholten, sich
beinahe schon zu einer Formel verfestigenden Versicherung; das Versprechen
, das vernünftige Handeln im weltlichen Kontext bei Luther
auch wirklich über Joest hinaus zur Darstellung zu bringen, wird
nicht eingelöst.

In Gogartens Theologie und seiner vor allem an der Unterscheidung
von Säkularisierung und Säkularismus verdeutlichten Kritik
der neuzeitlichen Vernunft (242ff) sieht zur Mühlen das theo-