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Ausgabe:

1982

Spalte:

379-380

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Grabner-Haider, Anton

Titel/Untertitel:

Ideologie und Religion 1982

Rezensent:

Fritzsche, Hans-Georg

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Seite 1

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379

Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 5

380

ther und die Bekenntnisschriften", unter der eine Tagung der Luther
-Akademie Ratzeburg 1978 stand, werden interessante Teilthemen
entfaltet: Maurice Schild, Die Bedeutung des lutherischen Bekenntnisses
für eine Diaspora-Kirche, S. 9-19. Leiv Aalen, Confessio
Augustana 1530-1980, Jubiläum oder Mausoleum? Zur Bedeutung des
Schrifttheologen Luther für die Augsburgische Konfession und das lutherische
Bekenntnis, S. 20-45. Albrecht Peters, Die Bedeutung der Katechismen
Luthers innerhalb der Bekenntnisschriften, S. 46-89. Siegfried Hebart, Die
Bedeutung der lutherischen Bekenntnisschriften für die Gegenwart, S. 90-106.
Bengt Hägglund, Die Rezeption Luthers in der Konkordienformel,
S. 107-120. Peter Manns, Luther auf der Koburg. Das Reichstagsgeschehen
von Augsburg und die Entstehung der Confessio Augustana, S. 121-130
(schade, daß dieser Beitrag nur in einer autorisierten Kurzform erscheinen
kann); Jörg Bau r, Luther und die Bekenntnisschriften, S. 131-144.

M. P.

Philosophie, Religionsphilosophie

Grabner-Haider, Anton: Ideologie und Religion. Interaktion und
Sinnsysteme in der modernen Gesellschaft. Wien-Freiburg-Basel:
Herder 1981. 171 S.gr. 8*. Kart. DM 22-

Die Untersuchung verbindet Religionskritik mit Ideologiekritik,
wobei unter Ideologie ein Drittes in der Abfolge vom Mythos zur Religion
verstanden wird und diese dem wissenschaftlichen Denken entgegengesetzt
wird. Die ersten Abschnitte des Buches befassen sich mit
der Problemgeschichte der Ideologieforschung. Die historische Wurzel
des Ideologiebegriffes wird in der französischen Aufklärung gesehen
, der sachliche Ursprung in der Idolenlehre des Francis Bacon.
Der marxistische Sprachgebrauch kenne auch Ideologie im positiven
Sinne; „einer bürgerlichen Ideologie stehe die Ideologie der Arbeiterklasse
entgegen" (15, Hinweis auf E. Hahn: Ideologie. Zur Auseinandersetzung
zwischen marxistischer und bürgerlicher Ideologie.
Berlin 1968).

Die Untersuchung kommt freilich auch zu dem Ergebnis der
„Ambivalenz" von Ideologien, d. h. einer positiven wie negativen
Beurteilung. Sie gibt aber zunächst durchweg solche Kriterien für
Ideologien an, die diese in Gegensatz zur Wissenschaft stellen: eine
bipolare Weltdeutung, Feindstereotypen, absolute Wahrheitsbehauptungen
, Kritikimmunität, Vermischung von Wertungen und
Tatsachenerkenntnis u. a. Der Erkenntniskritik an der Ideologie wird
an die Seite gestellt das psychologische Eruieren „ideologischen Verhaltens
", besonders als Folge von Fehlerziehung in der Kindheitsphase
eines Menschen. Daß Ideologien in Mythos und Religion wurzeln
, wird besonders an dem Zug verdeutlicht, daß Ideologien Heilslehren
darbieten, die einen reinen Urzustand wiederherstellen und
ein Paradies auf Erden errichten wollen (59). Die Utopie der Erlösung
von allem Übel erscheint vor allem als mythologischer Rest in der
Ideologie. Der Leser fragt sich freilich, an was der Autor eigentlich
konkret denkt und ob hier nicht eine Karikatur von Ideologie'
errichtet wird.

Die mittleren Abschnitte des Buches sind der Mythen- und Religionskritik
zugewendet. Die Religionskritik erfolgt vor allem von der
Psychologie her, wobei u. a. S. Freud Pate steht (87ff). Hinzu kommt
die Methode der sog. Transaktionalen Analyse, eine subtile Psychologie
vor allem der Kindheitsphasen eines Menschen, die mehrere
Ich-Zentren („Ich-Zustände", „Subsysteme der Persönlichkeit")

unterscheidet. An den Religionen, gerade auch den Hochreligionen,
wird deren starke Verwurzelung in archaisch-mythischem Denken
besonders in der Vorstellung von der Abhängigkeit des Menschen
von Mana-Kräften herausgestellt. Das gibt Anlaß, Religion in der
Analogie zur Psychologie bzw. seelischen Verfremdungen in der
Kindheitsphase eines Menschen zu sichten. Religion wird von daher
gesehen, daß sie lebensverneinend und menschen verkümmernd sei
und eine negative Identität des Menschen präge. „Die erste Erlaubnis,
die ein Neugeborenes braucht, besteht darin, daß es überhaupt leben
darf. Nun erhalten aber viele Menschen in ihren ersten Lebensmonaten
die Botschaft ,Lebe nicht!' Diese negativste Sjcriptein-
tragung, die viele Menschen in einen frühen Tod oder'in dem Selbstmord
treibt, kann auch in der Religion ihren Ausdruck finden. Sie
führt zur völligen Selbstabwertung oder Selbstzerstörung des Menschen
angesichts des Heiligen oder des Göttlichen: ,Der Mensch ist
ein Nichts, Gott ist alles', sagen viele Mystiker und Asketen.
... Auch die Einschärfung, jemand anderer sein zu müssen, drückt
sich in Mythos und Religion vielfältig aus: Hierher gehören alle Vorstellungen
von der Sündhaftigkeit', ,Unfreiheit' und ,Schlechtigkeit'
des Menschen" (99). Es sind vor allem die Begriffe Sünde, Schuld,
Erbsünde, aber auch Gnade, Opfer, Leiden, Erlösung, die Religion als
Ausdruck von Komplexen, die deshumanisierend sind, darstellen sollen
. In vielen religiösen Symbolsystemen finden sich „Selbstzerstörungstendenzen
, diffuse Schuldgefühle, Selbstabwertungen und
Bedürfnisbefriedigung durch Schmerz und Leid". „Der religiöse
Mensch kann nicht zu voller Freiheit und Autonomie kommen"
(105).

Auch die Ideologiekritik erfolgt weitgehend von psychologischen
Erhebungen aus. „Ideologisches Verhalten" wird als gestörte, wenn
nicht krankhaft pervertierte Kommunikation dargestellt. Vor allem
in der Kindheitsphase unterdrückte natürliche Emotionen werden für
ideologisches Verhalten verantwortlich gemacht: unterdrückte Aggressionen
, verdrängte Lusterfahrungen, verdeckte Schmerzerlebnisse
, überhaupt das Verbot des freien Gefühlsausdruckes. Doch wird
u. E. dieser Faktor, daß „ideologisches Verhalten stark durch emotionale
Gegebenheiten determiniert wird" (138), der ausführlich erörtert
wird, erheblich überschätzt. Die Frage bleibt offen, wie es aus einer
Summe von „ideologischem Verhalten" von Einzelsubjekten zu objektiven
Ideologien und „Großideologien" kommt und wie die Geschlossenheit
ihrer Vertreter zu erklären ist, wo doch offenkundig
auch psychisch intakte Menschen zu ihren Vertretern zählen - und
umgekehrt psychisch defekte Persönlichkeiten ebenso in Kreisen der
wissenschaftlichen, absolut unreligiösen und unideologischen Menschen
zu finden sein dürften.

Aber die Voraussetzung ist, daß ideologisches Verhalten (und entsprechend
religiöses Verhalten) so tief in einem Menschen von dessen
Kindheitsgeschichte her steckt, daß es auf der theoretischen bzw.
rationalen („kognitiven") Ebene allein nicht ausgetrieben werden
kann.

Die Untersuchung schließt mit der Feststellung, daß sowohl der
Mythos und die Religion als auch die Ideologie „ambivalent" sind.
Das heißt: Sie können positive Funktionen in der Gesellschaft erfüllen
, Mythos und Religion können Leid und Tod ertragen lassen
und in der Erfahrung der Irrationalität der Welt oder der rationalen
Nichtentscheidbarkeit von Lebenssituationen zur inneren Stabilisierung
und Identitätsfindung des Menschen, überhaupt zur Wert-
findung, beitragen, Ideologien können dem Individuum wie der
Gruppe eine Weltorientierung und einen Lebenssinn geben und ein
bestimmtes Wert- und Normensystem vermitteln, ja beide können
„sowohl ideologisch als auch nichtideologisch geglaubt und kommuniziert
werden" (155, vgl. 156). Aber beide können auch - und das
herauszustellen ist die eigentliche Tendenz der Untersuchung -
destruktiv, kommunikationshemmend und persönlichkeitszerstörend
wirken.

Berlin Hans-Georg Fritzsche