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Ausgabe:

1982

Spalte:

355-358

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Titel/Untertitel:

Sa vie et son oeuvre 1982

Rezensent:

Ullmann, Wolfgang

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Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 5

356

etwa auf der „mittleren Ebene" zwischen allgemeinverständlicher
Auslegung und detailgepanzerter wissenschaftlicher Kommentierung
-, der auch neben den „großen" Kommentaren von R. Bultmann
und R. Schnackenburg volles Gewicht hat.

Naumburg (Saale) Nikolaus Walter

Kirchengeschichte: Alte Kirche

Nautin, Pierre: Origene. Sa vie et son oevre. Paris: Beauchesne 1977.
474 S. gr. 8° = Christianisme Antique. Bibliotheque de recherches,
l.ffi-240.-;

Man wird die Lexikon- und Handbuchartikel über Origenes in
Zukunft anders schreiben müssen, nämlich ausgehend von den
Grundlagen, die in diesem Buch von Nautin gelegt worden sind.
Ohne den Ehrgeiz, die alten Klassiker der Origenes-Biographik, Hue-
tius (1668), Redepenning (1841-1846) und de Faye (1923-1928) ersetzen
zu wollen, vermittelt der Vf. uns doch ein eindrucksvolles Bild
davon, wie anders unser Wissensstand selbst gegenüber der. Autoren
der ersten Dezennien unseres Jahrhunderts geworden ist.

Denn ohne daß das - zumal in der theologischen Öffentlichkeit -
mit besonderer Aufmerksamkeit registriert worden wäre, hat sich
unser Bild von einem der größten Theologen des christlichen Altertums
nicht weniger gewandelt als das der Umwelt des NT durch die
Qumranfunde und das der Gnosis durch die Nag-Hammadi-
Codices. Handschriftenfunde haben uns unerwartete Chancen eröffnet
, die überlieferten Origenestexte neu zu kontrollieren; und der
von Scherer 1949 erstmalig edierte Dialog mit Heraklides brachte uns
in den Besitz eines Beispiels von Werken des Origenes, von deren
Vorhandensein wir bis dahin nur über Pamphilus und Euseb informiert
waren, jener Dialogprotokolle, die uns den großen Bibeltheologen
in der Diskussion mit Bischöfen und anderen Theologen
seiner Zeit zeigen. Nautin selber kündigt die Edition des ebenfalls in
den Tura-Papyri gefundenen Traktates „Über das Passa" für den
2. Band des vorliegenden Werkes an. Aber jetzt schon kann man
sagen, daß die neugewonnenen Textevidenzen unser Urteil über die
Origenes-Überlieferung erheblich modifiziert haben. Die Geringschätzung
für Übersetzungen wie die des Rufinus - in Koetschaus
GCS-Ausgabe von Peri Archon hat sie ihren vielleicht wirksamsten
Niederschlag gefunden! - ist einer nüchterneren Betrachtung gewichen
. Umgekehrt haben wir gelernt, unser Urteil über das, was
„Origenismus" genannt wird, nicht mehr unkritisch durch die Brille
des Hieronymus oder gar Justinians färben zu lassen. Dazu gehört
auch, daß wir in weit höherem Maße als noch Koch oder Völker
sehen, daß Origenes sich auch der Gegensätze zwischen griechischer
Philosophie und biblischer Tradition, zumal des AT, sehr wohl bewußt
war, wie gerade der Heraklidesdialog in überraschender Prägnanz
zutage brachte.

Nautin selber hat an diesen Forschungen schon lange mitgewirkt,
wie seine Edition von Passa-Homilien aus dem Einflußbereich des
Origenes (wobei er schon einige interessante Fragmente aus dem
Passatraktat des letzteren abdrucken ließ) und der Jeremia-Homilien
des gleichen Autors in den Sources Chretiennes bezeugen. Der hier zu
besprechende Band gibt nun so etwas wie ein erstes Resümee der jahrelangen
Forschungsarbeit des gelehrten Autors. Wie der Verfasser
selbst im Vorwort es tut, muß man, um falsche Erwartungen nicht
aufkommen zu lassen, klarstellen, daß Nautin nicht beabsichtigte,
das von Redepenning oder de Faye längst Klargestellte abermals
wiederzugeben, sondern seine Untersuchungen auf die der Erhellung
noch harrenden Punkte in der Biografie und der Werkchronologie des
Origenes konzentrieren wollte. Ergebnis des so konzipierten Unternehmens
ist also eine Quellenkunde und Quellenkritik aller für die
Biografie des Origenes relevanten Texte (Euseb, Pamphilus, Korrespondenz
des Origenes, Dankrede des Theodor-Gregor, Porphyrius

u. a.). Hieraufbaut im 2. Teil des Werkes eine vollkommen neu konstituierte
Chronologie der Werke des Origenes auf, wobei der Hexa-
pla das ganz besondere Interesse des Autors gilt. Den Schluß bilden
eine Zeittafel, eine biografische Skizze, die die Untersuchungsergebnisse
verarbeitet sowie eine Reihe von Exkursen zu Einzelfragen, die
den Fluß der Darstellung wegen ihres allzu speziellen Charakters
nicht unterbrechen sollten.

Der Sachkenner wird in allen Teilen dieses Buches auf hochinteressante
Details stoßen. Sie aufzuführen würde den für diese Rezension
gebotenen Rahmen sprengen. Man brauchte nur die in dem
Paris 1958 erschienenen «Origene» von Marguerit Harl enthaltene
chronologische Tafel mit der von Nautin zu vergleichen (a. a. O.
409-412), um das Ausmaß der veränderten Forschungssituation mit
einem Blick zu erfassen.

Aber folgende Ergebnisse von Nautins Untersuchungen erscheinen
mir doch allgemeines Interesse beanspruchen zu können. Die quellenkritische
Analyse des 6. Buches von Eusebs Kirchengeschichte hat
eine Bedeutung weit über den Rahmen der Origenes-Forschung hinaus
. Ihre nüchterne Sorgfalt hebt sich wohltuend ab von jenen Sottisen
gegenüber Euseb, die seit Burckhardts „Zeit Konstantins"
gerade in der deutschen Forschung als Ausweis kritischer Wissenschaftlichkeit
gelten wollten. Indem Nautin Eusebs Quellen herausschält
, seine chronologischen Irrtümer aufklärt und historisch nicht
verifizierbare Aussagen kenntlich macht, wird der Historiker Euseb
ungleich ernster genommen als eine voreingenommene Tendenzkritik
es vermochte. Für sie möge hier nur der bekannte ZKG-Arti-
kel von Hornschuh aus dem Jahre 1960 über das Leben des Origenes
stehen, der durch Nautins Euseb-Analyse eine wohlverdiente Abfuhr
erleidet.

Das Bild der ersten, Alexandrinischen Periode der Schriftstellerei
des Origenes wird auf Grund der Feststellungen des Vf. vor allem dadurch
verändert, daß nicht mehr Peri archon, sondern eine Gruppe
von Kommentarwerkeh (Psalmen-, Klagelieder-, Genesiskommeh-
tar) und theologischen Traktaten (De resurrectione, Stromateis, De
naturis) an der Spitze stehen. Peri archon wird dann interpretierbar
als eine erste Replik des Origenes auf die Kritiken, die besonders
die Stromateis und der Genesiskommentar ausgelöst haben. Die
Gründe, die Nautin für die Wichtigkeit der Stromateis beibringen
kann, wird man kaum entkräften können. Zu ihnen gehört auch ein
bisher unerkanntes Fragment dieser leider verlorenen Schrift, das von
Hieronymus überliefert, als Zitat aus De resurrectione mißverstanden
und so übrigens auch im 17., 1844 erschienenen Band der Ori-
genes-Ausgabe von Lommatzsch gedruckt worden ist. Der Rez. gestattet
sich bei dieser Gelegenheit den Hinweis, daß in der Wiedergabe
dieses Stromateis-Zitates durch Hieronymus deutlich 2 Teile erkennbar
sind, eine erste nur referierende und eine, nach der letzten
kritischen Zwischenbemerkung des Hieronymus mit «Est, inquit. . .»
einsetzende, die Origenes wörtlich wiederzugeben beansprucht, was
in Nautins Abdruck (298ff) nicht kenntlich gemacht ist. Wer diese
Rekonstruktion der ersten Periode von Origenes' theologischer Wirksamkeit
mit ihren Kommentaren und den Stromateis im Mittelpunkt
unvoreingenommen auf sich hat wirken lassen, für den wird
jene Art von Vulgärpiatonismus, der in manchen Darstellungen als
sog. „System des Origenes" noch immer herumgeistert, für immer der
Vergangenheit angehören.

Auf durchaus neue und die weitere Diskussion sicherlich anregende
Aspekte sieht sich Nautin bei seinem Versuch geführt, den
Werdegang der Hexapla, des größten philologischen Unternehmens
des Origenes, aufzuhellen. Das Ergebnis - ein Exkurs des Schlußteils
diskutiert die abweichenden Thesen von Procksch, Hemmerdinger,
Devreesse und Barthelemy - weicht nicht wenig von dem ab, was
man in den meisten patristischen Handbüchern und solchen der atl.
Einleitungswissenschaft lesen kann. Nach Nautin hat Origenes nicht
die Hexapla aus den ihm vorliegenden griechischen AT-Über-
setzungen erstellt. Vielmehr hat er auf Grund einer ihm vorliegenden
hellenistisch-jüdischen Synopse, die den hebräischen Text, dessen