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Ausgabe:

1982

Spalte:

295-296

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Schmälzle, Udo Friedrich

Titel/Untertitel:

Ehe und Familie im Blickpunkt der Kirche 1982

Rezensent:

Winter, Friedrich

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295

Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 4

296

Religions- und Kirchensoziologie

Schmälzte. Udo Friedrich: Ehe und Familie im Blickpunkt der Kirche
. Ein inhaltsanalytisches Forschungsprogramm zu Zielwerten in
deutschen Hirtenbriefen zwischen 1915 und 1975. Freiburg-Basel-
Wien: Herder 1979. XIV, 466 S. m. 60 Abb. gr. 8* = Freiburger
Theologische Studien, 113. Kart. DM 68,-.

Der Wert dieser für den Druck kaum veränderten Dissertation
eines Franziskaners im Fachbereich Theologie der Universität Würzburg
ist noch nicht voll zu übersehen, weil sich dieser Band weithin
im Formalen und Methodischen bewegt. Er versucht, die Voraussetzungen
für eine inhaltsanalytische Beurteilung der genannten Hirtenbriefe
zu schaffen. Vf. weist selbst darauf hin, daß sich Forschungskonzepte
erst dann als sinnvoll erweisen, wenn sie Forschungsgegenstände
im konkreten Akt der Bearbeitung sachgerecht zu erfassen und
zu durchdringen vermögen (S. 90,164,386, 392 u. ö.).

Das Vorwort berichtet über die Entstehung der Arbeit (S. Vf). Das
Inhaltsverzeichnis macht bereits deutlich, wie kompliziert die Materie
behandelt werden soll (S. VII-XIV). Die Einführung bietet eine
gute Zusammenfassung des Ganzen (S. 1 f). während der Schlußteil
(S. 375-398) darauf ausgerichtet ist, die „theologische Relevanz des
Forschungskonzeptes" herauszustellen (Teil IV). In einem Anhang
finden sich Tabellen und Schaubilder, die Einblicke in die heutige
Ehe- und Familiensituation besonders der Bundesrepublik bieten
(S. 399-443). Daran schließt sich ein umfangreiches, sehr stark soziologisch
bestimmtes Literaturverzeichnis an (S. 444-461), auch ein
Register mit wichtigen Stichworten.

Im I. Teil, „Entwicklung der Fragestellung und Festlegung der
Forschungsziele" (S. 3-92), stellt Vf. soziologische und überwiegend
katholische, aber auch evangelische theologische Tendenzen zur
Familienforschung vor, macht auf die Spannungen zwischen ihnen
aufmerksam und fordert dann ein interdisziplinäres Forschungskonzept
, in dem unter Beachtung theologischer und soziologischer Interessen
Ehe und Familie empirisch verglichen werden können. Dieses
Konzept soll sich auf Zielwerte konzentrieren; in diesem Fall auf die
Reproduktion (S. 73, biologische Regeneration), die Rekrutierung
bzw. Sozialisation (S. 74, Gewinnung von Mitgliedern für ein bestimmtes
Rollenspiel in einer Organisation) und die „lebenslange
eheliche Gemeinschaft" (S. 80). Gegenüber Vorwürfen der Soziologen
, die katholische Kirche interessiere sich im Blick auf Ehe und
Familie primär für die Werte von Reproduktion und Rekrutierung,
möchte Vf. gern herausbekommen, daß der dritte Zielwert für sie entscheidend
sei (S. 383). - Über die Entstehung, Geltung und zeitliche
Streuung deutscher Hirtenbriefe seit 1915 (S. 56ff) geben weitere Abschnitte
Auskunft. Diese „Materialobjekte der Theologie" sollen mit
Hilfe soziologisch wie theologisch einwandfreier Fragestellungen auf
die drei Zielwerte hin abgeklopft werden.

Teil II, „Dimensionale Struktur der Datenerhebung" (S. 93-158),
wirkt in der Art der Darstellung besonders abstrakt. Auf welche
„Aspekte aus dem Gesamt der Wirkllichkeit" (S. 94) will der Autor,
der sich dabei mit entsprechenden wissenschaftstheoretischen Äußerungen
von Soziologen auseinandersetzt, achten? Die Datenfelder
und ihre Erhebungsverfahren sind festzulegen. In ihnen stecken
Wertordnungen und Interessen, die die empirische Wertforschung
aufspüren will. Das heißt speziell: Welche Werte werden den erhobenen
Daten zum Thema von Ehe und Familie in den Hirtenbriefen
beigefügt? Schließlich sind die Mittel der Verhaltenssteuerung zur
Durchsetzung der Wertungen der Kirche zu erforschen. Dabei beschränkt
sich Vf. auf die Analyse negativer Sanktionsmechanismen.

Teil III wird etwas konkreter und beschäftigt sich mit der
„Entwicklung von Kategoriensystemen" (S. 159-374). Man fühlt sich
lebhaft an Systematisierungsversuche zur dogmatischen Locifindung
aus Scholastik und Orthodoxie erinnert; nur daß hier in einer
Mischung von soziologischen, ethisch-katholischen und allgemein

anthropologischen Kategorien Aspekte von Ehe und Familie zusammengestellt
und subsumiert werden. Das geschieht zuerst generell
zum Thema von Ehe und Familie. Doch dann werden „bezugsanalytische
Kategoriensysteme" zu den drei Zielwerten der Reproduktion,
der Rekrutierung und der lebenslangen ehelichen Gemeinschaft entworfen
. Und zum Abschluß kommen recht knapp Kategorien für
eine Sanktionsanalyse zu Wort.

Vorteile der Arbeit liegen darin, daß Vf. entgegen dem Mißtrauen
zwischen Soziologen und Theologen ein leistungsfähiges Forschungskonzept
erstellen möchte, dem sich beide zu öffnen bereit sind. Für
dieses Ziel setzt er eine abstrakte, aber dann auch wirklichkeitsnah
bestimmte Gedankenführung ein. Deutlich wird, wie unter den Soziologen
eine Methodenvielfalt herrscht, die nicht immer tiefgründig
und umfassend reflektiert wird. Anzuerkennen ist das Bemühen, zu
verbindlichen anthropologischen Kategorien im Bereich von Ehe
und Familie vorzustoßen, mit denen sich Soziologen und Theologen
in gleicher Weise einverstanden erklären können. Überhaupt ist es erfreulich
, daß hier ein Theologe eine soziologische Studie wagt, wo zur
Zeit besonders in unserem Lande wenig für diese Fragestellung seitens
der wissenschaftlichen Theologie, aber auch kirchlicher
Gremien überhaupt, getan wird. Es ist eben momentan das Gespräch
mit der Psychologie „modern", während die Soziologie als Gesprächspartner
zurücktritt. Wann erscheint wohl bei uns die nächste
theologische Dissertation, die Fragestellungen zwischen Theologie
und Soziologie aufgreift?

Zum Nachteil gereicht der Arbeit die zum Teil schwierige Sprache
und breite Gedankenführung. Die sog. „Zusammenfassungen" sind
mehr als solche. Querverweise könnten oft deutlicher erfolgen. Das
Ganze wirkt recht formalisierend. Und die Beweislast für den Wert
des Forschungskonzeptes steht noch aus. - (Tiefen)psychologische
und linguistische Erkenntnisse werden mehr am Rande und nicht
ausreichend abgesichert mit verhandelt (vgl. etwa S. 34, 97ff, 208,
338, 383). Da hat sich Vf. z. T. übernommen. - Ob die Kategorien zu
den drei Zielwerten wirklich in die Lage versetzen, Aussagen zum
kirchlichen Verständnis von Ehe und Familie richtig zu erfassen,
müssen die ins Gespräch verwickelten Fachleute entscheiden. Doch
schon jetzt befriedigt manches nicht. Z. B. beachtet Vf. von vornherein
die Familie mehr als die Ehe. Das mag unbewußt eine katholische
Eigenart sein. Bedenklicher stimmt das, was unter dem Stichwort
einer „christlichen Tiefenstruktur" angeboten wird (vgl. die Stellen
im Stichwortverzeichnis). Die biblischen Aussagen zur Ehe sind einfach
zu knapp gehalten.

So wird bei positiver Beurteilung der Arbeit ein evangelischer
Theologe eine ganze Reihe von theologischen Bedenken nicht unterdrücken
können. Der Ansatz zur Unterscheidung zwischen „spezifisch
christlichen" und allgemein menschlichen Kategorien bzw.
Wertvorstellungen in einem quantitativen Sinn mag in ein katholisches
Schema von Natur und Übernatur hineinpassen; aber nicht in
eine evangelisch begründete Anthropologie. So wichtig es ist, über die
Ehe auf Lebenszeit klare Aussagen zu machen, weil hier heute ein
Unsicherheitsdenken Platz greift: Gibt es nicht wichtigere Zielwerte,
die eine evangelisch begründete Ehe- und Familienlehre aufgreifen
möchte; z. B. das Leben unter Verheißung und Wort, mit Vergebung
und Gebot, aus Glaube und Liebe? Dankenswert ist, was Vf. davon
zum Schluß sagt: „Bislang weiß sich die Kirche in ihrer Identität
dann gesichert, wenn sie auch in den härtesten Konfliktfällen an der
klaren Norm des Evangeliums festhält. Diese Norm soll auch nicht in
Frage gestellt werden. Müßten wir uns jedoch nicht fragen, ob sich
das Handeln der Kirche an den Geschiedenen und Wiederverheirateten
nicht auch daran ausrichten müßte, wie Jesus mit Randgruppen
umgegangen ist? Daß das ,Rohr' bereits geknickt ist, belegen die
Daten ... Ist für die Kirche der Umgang mit den Normbrechern nicht
genauso verpflichtend wie seine klare Stellung in der Scheidungsfrage
? Ist pastorale Unglaubwürdigkeit für die Kirche nicht auch eine
Gefahr?" (S. 3960-

Berlin Friedrich Winter