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Ausgabe:

1982

Spalte:

275-277

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bachmann, Michael

Titel/Untertitel:

Jerusalem und der Tempel 1982

Rezensent:

Grimm, Werner

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275

Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 4

276

Bachmann, Michael: Jerusalem und der Tempel. Die geographisch-
theologischen Elemente in der lukanischen Sicht des jüdischen
Kultzentrums. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz: Kohlhammer 1980.
X, 402 S. gr. 8" = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen
Testament, 109. Kart. DM 75,-.

Die Aufgabe, die sich der Verfasser gestellt hat, ist auf S. 9f so
beschrieben: „Es sind mithin, umfassend gesagt, die geographischtheologischen
Elemente in der lukanischen Sicht dessen, was historisch
-deskriptiv - aber, und das ist zentral zu eruieren, so auch im
Sinn des Lukas? - das jüdische Kultzentrum genannt werden kann,
zu erheben, und es ist mit ihnen, wenn möglich, der Raster eines es
betreffenden lukanischen Bildes zu gewinnen. Obwohl dies beschränkte
Vorhaben - bei dem es, da eben gerade nicht die erste
oben angesprochene Fragehinsicht leitend ist, natürlich nicht direkt
um das Verhältnis der lukanischen Schilderung zu archäologischen
Details geht - nicht unmittelbar zu einer Erfassung der theologischen
Verwendung geographischer Angaben, speziell: Jerusalem und den
Tempel berührender, bei Lukas führt und, wie begründet, auch nicht
fuhren soll, will es doch, um so mehr, als es schon an sich in besonderer
Weise theologisch befrachtete Größen betrifft, ein Beitrag zu
einer Ermöglichung und fundierten Beschreibung des Ausmaßes und
der Art solchen lukanischen Theologisierens - und, unmittelbarer,
zur Beurteilung bisheriger Versuche in dieser Richtung, zumal des
von Conzelmann entworfenen Bildes - sein." Dieses absichtlich
ungekürzt gebotene Zitat beleuchtet zunächst eine grundlegende
Schwierigkeit, mit der sich jeder Leser des Buches konfrontiert sieht:
Nur mit äußerster Konzentration und oftmals wiederholten Anläufen
will es gelingen, durch die langen Satzperioden durchzufinden und
die darin gespiegelten Denkprozesse mitzuvollziehen. Das ungeheuer
vielschichtige, differenzierte, assoziierende Denken läßt B. allzu reich
verzweigte und verästelte Bäume der Erkenntnis hervorbringen. Seine
kompliziertest strukturierten Satzgebilde erweisen sich bei Überprüfung
als „mathematisch" präzise, verleiden aber streckenweise die
Lektüre. Schade, denn die Untersuchung zeitigt doch eine unbedingt
notwendige Korrektur einer bestimmten Tendenz in der Lukasforschung
.

B. setzt ein am doppelten Sprachgebrauch von 'lepovocdijp./
'hpoaöXvpa in Lk-Ev und Apg (S. 13-66). Seine diffizile, auch textkritisch
vorgehende Analyse deckt auf, daß Lukas in aramäisch vorzustellender
Rede bzw. bei überwiegend jüdischem Auditorium das
hebräischem Sprachhören entsprechende lepouaaXrip setzt. Dagegen
schreibt er „von sich aus", in redaktionellen Notizen und Erzählpartien
, 'lepoaöXüfia, die deklinable und also „griechischere" Form
(S. 52). Damit schon bekundet er das Wissen, daß der Tempel „hier-
on" als konstitutives Element zu Jerusalem gehört - denn bei zahlreichen
Schriftstellern der damaligen Zeit (Josephus, Hekataios, Poly-
bios, Lysimachos) wird der Name Iepoaökopa als auf das 'lepöv verweisend
empfunden (S. 64 f).

Im zweiten Kapitel wendet sich B. gegen einen breiten Strom der
exegetischen Literatur, die eine zweifache Verwendung von '/ooSai'a
durch Lukas behauptet. Sie übersieht insbesondere, daß Lukas in
Apg 10,37 und Lk 23,5, wo looSaia eindeutig im weiten Sinn des
ganzen jüdischen Landes gebraucht wird, geprägte Tradition (xaö'
öAf/c-Formel) aufnimmt. Im übrigen bezeichnet Lukas mit 'lovöaia
Judäa im engen Sinn, die Landschaft um Jerusalem; damit trägt er in
beachtlichem Maß der Gliederung des Landes Rechnung (S. 67-131).

Kap. III (S. 132-170) stützt die dem unbefangenen Bibelleser an
sich selbstverständliche, aber doch in der Forschungsgeschichte nicht
unbestrittene Auffassung, daß Lukas den Tempel als eine ganz
wesentlich, die Bedeutung Jerusalems bestimmende Größe betont.
Dies läßt sich an der redaktionellen Kleinarbeit des Lukas, aber auch
an sehr bewußt „spiegelbildlich" gesetzten vier „Jerusalem-Abschnitten
" (Lk 1,5-2,52; Lk 19,45-24,53; Apg 1,3-8,3;
Apg 21,15-23,32) nachweisen.

Was macht nun nach Lukas die Bedeutung des jerusalemischen

Heiligtums aus? (Kapitel IV). Zunächst: Lukas weist „mit Nachdruck
und ohne Spur einer Kritik" (S. 182) daraufhin, daß für das Judentum
der priesterliche Dienst am jerusalemischen Tempel im Bewußtsein
der besonderen „Nähe" Gottes vollzogen wird („vor Gott"
Lkl,8f; iepaxeösiv lk. Hapaxlegomenon). Gerade Lk 1 zeigt eine
erstaunliche Kenntnis des Priesterstandes und seiner Funktionen.

Das Synhedrium ist bei Lukas recht eng mit dem Tempel zusammengesehen
(S. 195; S. 206: Sitzungen des Synhedriums finden im
Tempelbereich statt Lk 22,66-71; Apg4,5ff; 5,21.27-40; 22,30«)
und dabei keineswegs als „Stadtrat" (Conzelmann) allein Jerusalem
zugeordnet. Lukas hat weder, wie Conzelmann meinte, Jerusalem
und Tempel auseinandergehalten, noch Jerusalem als profanes politisches
Gebilde verstanden. Vielmehr: Dem Synhedrium, mehr als
politischer Instanz, kommen auch bei den Juden außerhalb Judäas
gewisse Kompetenzen zu (Apg 9,2; 9,21; 22,5).

Interessant die Stefanusrede Apg 7,2ff: die Zusage an Abraham, die
die Geschichte Israels bestimmte, hat es zentral mit der Gabe des
Landes zu tun, als dessen Zentrum und Inbegriff das jerusalemische
Heiligtum aufgefaßt ist (Apg 7,3-6.44ff; vgl. Lk 1,73-75 mit
Apg 7,5b.7b; auch Apg 13,19.26).

Indem Lukas die Wirksamkeit Jesu im Tempel (Lk 19,45-24,53)
eindeutiger als Markus unter den Oberbegriff des Lehrens stellt,
zeichnet er - die Wortgruppe Siödoxeiv/öiöärjxaAoc; zielt im Lk-Ev auf
die öffentliche Lehre - den Jerusalemer Tempel als den Ort der öffentlichen
, für den ganzen Äaö<; relevanten Rede (vgl. Joh 18,20!!). Gegenstand
dieser Lehre sind vor allem Fragen des Gesetzes (Belege
S. 287ff). Das ganze Volk ist „repräsentativ anwesend" am Tempel,
und das jüdische Gesetz hat hier seinen sichtbaren Haftpunk« (S. 289)
- diese lk. Konzeption ruht letztlich auf einem durch die Josia-Kul-
tusreform bereiteten geschichtlichen Fundament.

Dem Jerusalemer Tempel eignet darüber hinaus ein universaler
Geltungsanspruch (S. 289-314). In Apg2,5ff; 8,26ff; 20,16;
24,11 f. 17f; Lk2,41ff zeigt.sich mindestens eine „Affinität zum
Phänomen Wallfahrt" (S. 303). Dabei ist die Universalität des
Pfingstereignisses streng geographisch, nicht ethnisch: es wallfahren
zum Jerusalemer Tempel Glieder der jüdischen Gemeinschaft aus
allen Gegenden der Erde (S. 302). An dieser Stelle wäre m. E. noch
genauer zu unterscheiden, ob in der jeweiligen Passage eher das
Motiv des Wallfahrens zu einem der Feste, das Motiv der eschato-
logischen Völkerwallfahrt (Jes 2,2ff; Mi 4,1 ff) oder das Motiv von der
Sammlung des zerstreuten Gottesvolkes (Jes 43,5-7; 49,12) vorliegt.

Die „Wallfahrenden" kommen zur Anbetung, zur Darbringung
von Opfern und Gaben und zur Gesetzeserfüllung, und diese Vorgänge
machen auch das alltägliche Leben im Tempel aus.
Apg 21,18ff; Lk 2,22-38; 21,1-4 u. a. zeigen, wie gut Lukas darüber
Bescheid weiß (S. 315-332).

Den Kern des Tempelgeschehens (Xaxpeikiv) bildet nach Lukas die
Proskynese (vgl. vor allem Lk 2,370 - hier ist das Wesen des jüdischen
Heiligtums zu greifen; hier sehen wir auch „Nichtamtliche"
agieren; hier erweist sich die Kontinuität zwischen der neuen Bewegung
und ihrer jüdischen Umgebung (S. 342). Die genaue Erfassung
des Sia navxöq (hebr. „tamid") in Lk 24,53 zusammen mit Apg 1,14;
2,42.47a; 10,2 macht es wahrscheinlich, daß die Urgemeinde mit der
jüdischen Gemeinde durch das „Ausharren im Gebet" zu den drei
festen, dem Tempelkultus entsprechenden Gebetszeiten verbunden
ist (S. 332fT).

Schlußendlich erscheint das Heiligtum auch als (Gebets-)Ort göttlicher
, auf Zukunft bezogener Offenbarung, wobei die kollektive
Hoffnung Israels zur Sprache kommt (Apg22,17ff; Lk l,5ff; 2,22ff;
24,53).

In summa: „Lukas sieht... in dem Tempel zu Jerusalem das Zentrum
jüdischen Gottesdienstes und damit den einen irdischen Haftpunkt
des gesamten (durch das Gesetz bestimmten) jüdischen Lebens
und Hoffens, das sich nach (dem einen) Gott ausrichtet" (S. 374f).

Immer wieder wies B. im Vollzug seiner Untersuchung mit Recht
daraufhin, daß Lukas keine eigen-sinnige Sicht von „Jerusalem" und