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Ausgabe:

1982

Spalte:

273-274

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Pregeant, Russell

Titel/Untertitel:

Christology beyond dogma 1982

Rezensent:

Luz, Ulrich

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Seite 1

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273

Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 4

274

Pregeant, Russell: Christology Beyond Dogma. Matthew's Christ in
Process Hermeneutic. Philadelphia, PA: Fortress Press; Chico,
CA: Scholars Press 1978. 176 S. 8' = SBL Semeia Supplements,
7. Kart. $4.95.

Die Bände der Reihe "Semeia Supplements" haben Experimental-
charakter. Die hier vorzustellende anregende Skizze hat ein doppeltes
Anliegen, das in Titel und Untertitel ausgedrückt ist.

"Matlhew's Christ in Process Hermeneutic": Pregeant versucht,
mit Hilfe der Philosophie von A. N. Whitehead Schwierigkeiten, in
die die existentiale Hermeneutik Bultmanns und die sog. „neue Hermeneutik
" (Ebeling, Funk, Gadamer) führen, zu überwinden. Sie
bestehen für ihn vor allem darin, daß die Unterscheidung von eigentlicher
(„primal") und uneigentlicher („discursive") Sprache (29)
theologische Aussagen von Alltagserfahrungen isoliert und theologische
Sprache zu einer elitären Sprache macht. Außerdem wird die
Wahrheitsfrage zu einer nur subjektiv beantwortbaren: Wahr ist, was
Eigentlichkeit erschließt; der Gegenstand, von dem die Texte reden,
kann nicht mehr direkt mit der Wahrheitsfrage zusammengebracht
werden. Hier hilft die idealistische Philosophie Whiteheads in doppelter
Hinsicht weiter (33-45): Whitehead ist überzeugt, daß Verstehen
jenseits konkreter Selbsterfahrung Bezug auf die objektiven
Potentialitäten des Seins ist ("a primal awareness of our relationship
to the causal nexus in which we exist" 33). Über den Existentialismus
zurückgreifend knüpft er also in gewisser Weise bei der Erkenntnistheorie
Descartes' an. Die Wahrnehmung ist aber nicht nur rationaldistanzierend
, sondern ein Ereignis, das das erkennende Subjekt mit
einschließt, d. h. symbolisch, wertend, die Gefühlsdimension mit einbeziehend
, intuitiv. Von hier aus wird seine Sprachtheorie verständlich
: Sprache ist „analogisch", d. h. nie univok, sich auf absolut definierte
Gegenstände beziehend (die ideale Welt ist eine Welt der Bewegung
, des Werdens!), unvollständig und fragmentarisch, wertgeladen.
Sätze zielen primär auf Gefühl ("the primary funetion of theories is as
a Iure for feeling"); Interesse kommt vor der Wahrheit ("thereby
providing immediaey of enjoyment and purpose"1; "the importance
of truth is, that id adds to interest"2). Interpretation ist somit Prozeß,
Ereignis des Werdens, "an ongoing interplay between image and con-
ceptualization ... based ... upon participation"(166).

Diesen hermeneutischen Ansatz verbindet Pregeant mit Schubert
Ogdens theologischer Grundposition. Ihr Anliegen ist im Haupttitel
ausgedrückt: "Christology beyond Dogma ". Ogdens Anliegen ist die
Uberwindung von Bultmanns Dilemma (?), daß einerseits Eigentlichkeit
der Existenz eine originale, authentische menschliche Möglichkeit
ist (Schöpfungswirklichkeit), also eine "possibility in.principle"
(53), andererseits aber nur durch Christus vermittelt, also keine
"possibility in fact" (ebd.). Bultmanns Entmythologisierung macht
nach Ogden also (inkonsequenterweise) vor dem christologischen Paradox
halt. Mit Hilfe des Sprachverständnisses Whiteheads sieht nun
Pregeant eine Chance, ein dogmatisches, exklusives, defmites, abschließendes
Verständnis der Christologie zu überwinden und den
„katalytischen" Charakter der Christologie herauszustellen. „Kataly-
tisch" bedeutet: in einem bestimmten Moment der Geschichte bringt
Jesus "to füll and definitive expression" (d. h. wirkt als Katalysator)
a possibility of existence before God always given in human existen-
ce ' (d. h. eine schöpfungsmäßig gegebene Möglichkeit) (158). Christus
ist also im Sinne Whiteheads Repräsentant der Gotteswelt für die
Menschheit. Christologie ist „paradigmatisch", „symbolisch", a
Proximate Iure" (157) für eine universale Möglichkeit menschlicher
Authentizität, die Pregeant als die Aufgabe der sich in der Geschichte
wandelnden "agapic response" (163) bestimmt.

Diesen Ansatz führt Pregeant exegetisch am Beispiel des Matthäusevangeliums
durch. Matthäus eignet sich deshalb dafür, weil er das in
der Dialektik von Indikativ und Imperativ existential ausgelegte chri-
stologische Paradox nicht zu kennen und weil die exklusive Christologie
seines Hauptstroms ausgesprochen fragmentarischen Charakter
z" haben scheint (129fi), vor allem hinsichtlich der Bewertung von

Jesu Sühnetod. Eine Analyse von 5,17-20 (63ff) und 11,25-30 (85ff)
zeigt, daß die matthäische Christologie nicht „konfessionellen", sondern
„funktionalen" Charakter hat und der Auslegung der als Gnade
verstandenen Tora zugeordnet ist. Diese wiederum weist über ihre
heilsgeschichtlich-bundesmäßige Beschränkung hinaus auf die Universalität
von Gottes heilsamen Schöpferwillen (5,45b; 11,27 weist
zurück auf die theologische Dimension in 1 l,25f). Pregeant zeigt dies,
indem er die verschiedenen Lockungen ("lures") der Texte aufeinander
bezieht: "the interaction of the various lures ... shows ..., how a
non-univocal reading of proximate lures (z. B. zum Bekenntnis zu
Christus) actually serves to emphasize the reference to the broader-
ones" (99). Den universalistischen „Unterstrom" im Matthäusevangelium
bringt dann die Analyse von 13,36ff (107ff) und 25,31-36
(115fT) vollends zutage: Hier scheint das konfessionelle Moment,
nämlich die Lockung zum Bekenntnis zum Menschensohn, vordergründig
in einer Spannung zu einem universalen Moment, nämlich
dem Gericht über alle Menschen aufgrund der Liebe zu stehen. Die
Spannung löst sich, wenn die Christologie nicht „univok"als Standard
für sich interpretiert wird, sondern „imaginativ" (126) als Lockmittel
zu Gottes universalem Heilswillen, der über christliche Parti-
kularität hinaus gilt. In diesem Sinn hat die partikuläre Christologie
„imaginative", „symbolische" Funktion; man könnte sagen: sie
„dramatisiert" den universalen Wahrheitsanspruch, auf den sie hinweist
(vgl. 150).

Für Matthäus ergibt sich so eine vom Partikulären zum Universalen
führende systematische Ordnung: Christologie ist funktionaler
Ausdruck der Heilsgeschichte; Heilsgeschichte ist funktionaler Ausdruck
der Bundestora; die Bundestora ist funktionaler Ausdruck des
göttlichen Schöpfungswillens, d. h. der Humanität an sich (140). Ob
dies der Meinung des Matthäus entspricht, möchte ich bezweifeln:
Gerade die Abfolge des Sendungswortes 5,17 und des Ich-aber-sage-
euch der Antithesen 5,21 ff zeigt m. E„ daß für Matthäus die Tora der
Christologie unterzuordnen ist, nicht umgekehrt. Dasselbe zeigt m. E.
der matthäische Jubelruf 11,25-30, dessen Zentrum wohl doch V 27
ist. Universale Untertöne gibt es im Matthäusevangelium zweifellos,
aber es ist nicht ratsam, einzelne weisheitliche Jesusüberlieferungen
(etwa 5,45b) oder gerade im Kontext des Evangeliums nur schwer
integrierbare Texte wie 25,31 ff zum Angelpunkt einer Matthäusdeutung
zu machen. Ein solcher Angelpunkt kann sich m. E. nur aus seinem
Gesamtentwurf ergeben und dieser ist und bleibt eine Geschichte
des Gottessohnes Jesus, d. h. eine Christusgeschichte. Es ist also
m. E. kaum möglich, Matthäus in direktem Sinn zum Kronzeugen
für eine Theologie wie diejenige Schubert Ogdens oder Herbert
Brauns zu machen: Unterströme und Hauptströme lassen sich nicht
so einfach vertauschen.

Wohl aber verdanke ich dem anregenden und mutigen Büchlein
Pregeants zwei Impulse: Der Hinweis auf die Philosophie Whiteheads
und aufsein Sprachverständnis ist auch für denjenigen, der die
theologischen Voraussetzungen Ogdens nicht teilt, wichtig (vgl. die
sachliche Nähe zu Ricoeur!). Und: Die Frage nach einer fundamentalen
Bedeutung der matthäischen universalistischen Unterströme stellt
sich dann, wenn man mit dem Grundsatz der Whiteheadschen Prozeßhermeneutik
ernst macht, daß die Texte immer wieder zu neuer
Begegnung mit ihnen und zu neuen Versuchen, ihre Bilder in die
Gegenwart eindringen zu lassen, rufen (166), auf einer systematischen
Ebene nochmals: Eine solche neue, meinetwegen „postchristolo-
gische" Begegnung mit den biblischen Texten könnte und müßte
dann aber auf eine direkte exegetische Legitimation aus der Bibel verzichten
, weil sie - auch im Sinne des Whiteheadschen Idealismus -
m. E. einer solchen gar nicht bedarf.

Laupen Ulrich Luz

1 A. N. Whitehead. Process and Reality. An Essay in Cosmology. New York
1929.281.
J Ebd. 396.