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Ausgabe:

1982

Spalte:

269-271

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Szyszman, Simon

Titel/Untertitel:

Le Karaïsme 1982

Rezensent:

Stemberger, Günter

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Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 4

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Die Exegese repräsentativer Textabschnitte und Textsorten behandelt
: Danklieder des Einzelnen, Heilsbekenntnisse, Niedrigkeitsdoxo-
logien und Elendsbetrachtungen, Sündenbekenntnisse, Segen und
Fluch, Reinigung und Sühne, sodann 1QS 3,13-4,26, Horoskope,
Mahnreden, die Pescharim, die Ansprachen vor der Schlacht aus
1QM und endlich Schöpfungshymnen. Dabei führt das vorsichtig abwägende
Urteil immer zu begründeten, zumindest sehr beachtenswerten
Ergebnissen, wobei der Vf. geschickt die nicht geringe Zahl
der Spezialuntersuchungen seiner Argumentation dienstbar macht.
Als Hauptproblem sachlicher Art ergeben sich: (a) Die verschiedene
Auffassung vom Menschen: Einmal ist er als unterstes Glied im Herrschaftsbereich
dualistischer Mächte vorgestellt, wobei die jeweilige
Zuordnung prädestinatianisch geregelt wird, das andere Mal kann er
aufgrund der Wahlfreiheit dem Gesetz folgen oder sich ihm versagen,
(b) Die verschiedene Bestimmung der Sünde: Sei es, daß sie auf die
niedrige Kreatürlichkeit zurückgeführt wird, sei es, daß sie durch
Verführung der Geistermächte zustande kommt.

Die grundsätzlichen und kleineren Divergenzen im Menschenbild
werden dann (Kap. V) - unter besonderer Berücksichtigung der
Bestimmtheit durch den alttestamentlichen Glauben - auf die strukturelle
Grundausrichtung hin aufgrund des Schöpfungsgedankens
einerseits und der Orientierung des Menschen am Gesetz andererseits
besprochen, so daß sich so etwas wie eine Einheit in der Vielfalt
ergibt.

Wer die Arbeit über die gelungene Gesamtkonzeption hinaus würdigt
, wird zuerst auf die vielen Kleinodien zerstreuter Erörterungen
zur Textbasis und Exegese hinweisen, sodann auf größere Auslührungen
wie die zu den Nichtigkcitsaussagen in 1QH 1,21-23 (S. 77ff).
zum Thema Schöpfung (S. 178ff) und zur Auferstehungsvorstellung
(S. 219IT). Umgekehrt findet sich bei der Diskussion zur Herkunft des
Dualismus (S. 19611) sowie zur Gesetzesproblematik (S. 200ft) m.E.
wenig Neues. Im ganzen werden die alttestamentlichen Bezüge sorgsam
und durchgängig beachtet. Dabei kommt jedoch zu kurz, daß die
rund 200jährige Geschichte der Qumrangemeinde nicht einfach isoliert
von der Entwicklung frühjüdischer Theologie erfolgte, sondern
eben auch integraler Bestandteil dieser Geschichte ist. Dieser Aspekt
des Problems wird fast ganz ausgeklammert, darum erfährt der Leser
auch nicht wenigstens überblicksweise oder paradigmatisch, wie z. B.
das frühjüdische Bindungsgefleeht der Qumrangemeinde die Grundthemen
des qumranischen Menschenbildes erörterte. Asketisch verfährt
die Arbeit auch bei der Entfaltung einer Geschichte der Qumrangemeinde
. Diese Zurückhaltung mag das Urteil weiser Beschränkung
für sich verbuchen, so sicher nur das Wagnis von Hypothesen,
die sich dann bewähren müssen, hier zu besseren historischen Urteilen
führen kann. Endlich fällt die Zurückhaltung auf, mit der das
Neue Testament aus der Erörterung ausgespart wird. Wiederum gilt:
•n weiser Beschränkung zeigt sich der Meister, aber sollte man bei
emer monographischen Behandlung eines solchen Themas nicht
wenigstens ausgewählte perspektivische Hinführungen zu einem solchen
Vergleich versuchen?

Kid Jürgen Becker

^zyszman, Simon: Le Karai'sme. Ses doctrines et son histoire. Lausanne
: L'Age d' homme 1980. 247 S., 24 Taf. 8* = Bibliotheca Ka-
raitica. Series A,l.

S., der seit 1952 eine Vielzahl von Aufsätzen zu karäischen Themen
Veröffentlicht hat, legt mit diesem 1. Band der von ihm geleiteten
Hibliotheca Karaitica «une introduetion aecompagnee d'une biblio-
graphie de base» vor. Der 1. Teil über die „karäische Lehre" skizziert
sehr knapp den allgemeinen monotheistischen Hintergrund und die
Wesentlichen Lehren, um dann ausführlichst N. Wieder's "The Ju-
dean Scrolls and Karaism" zusammenzufassen. Das Kapitel „Entwicklung
der Lehre" behandelt nicht diese, sondern die frühe Ausbreitung
der Karäer. Der 2. Teil schildert die Ausbreitung der Karäer

in der Welt, wobei der Hauptakzent auf dem versuchten Nachweis,
daß die Khazaren Karäer waren, sowie auf der Entwicklung in Polen
und Litauen liegt. Der 3. Teil geht dem Niedergang der karäischen
Bewegung im 19. Jh. in Osteuropa, in der Mitte dieses Jahrhunderts
in Kairo sowie im irakischen Hitt nach. Ein 4. Teil nennt die wichtigsten
Etappen der Karäerforschung und stellt die wichtigsten Sammlungen
von Handschriften usw. zum Thema vor. Vor allem geht es
hier S. um eine Reinwaschung Firkowicz's vom Vorwurf, ein Fälschergewesen
zu sein. Eine relativ umfangreiche Bibliographie sowie
ein Index documentaire, der zugleich eine Art Glossar sein soll und
längere Artikel zu Themen wie der Profanierung des karäischen
Friedhofs in Jerusalem, den Falaschas, Zadok usw. enthält, schließen
das Buch ab. Besonders hervorgehoben sei die wertvolle Bilddokumentation
. .

Leider ist es mir nicht möglich, in diesem Buch das erwartete
Standardwerk über die Karäer zu sehen, als das es schon bejubelt
wurde. Denn wertvolle Detailinformationen werden zu sehr überdeckt
durch Oberflächlichkeit v. a. in der Darstellung der Lehre und
Literatur der Karäer, die viel zu kurz kommt, viele nur sehr schwach
abgesicherte Hypothesen und v. a. hemmungslose Polemik. Ziel der
Polemik sind (gewöhnlich ungenannt bleibende) karäische Führer der
jüngsten Vergangenheit ebenso wie das Judentum i. a. und besonders
jüdische Forscher, wie z. B. A. Dotan, dessen heftig abgelehnte Arbeit
in der Bibliographie gar nicht genannt wird (Ha-omnam haja Ben-
Ascher Qarai?, Sinai 1957, 281 ff, Nachdruck in: S. Z. Leiman
[Hrsg.], The Canon and Masorah of the Hebrew Bible, New York
1974, 71 Oft); v. a. aber trifft sie den Staat Israel, der die Karäer von
Kairo und Hitt angelockt habe und nun mehr noch als die Araber rassistisch
diskriminiere und nur aus taktischen Gründen vorläufig die
anderen monotheistischen Religionen noch ihren Kult ausüben lasse.
Nur unwillig muß S. anerkennen, daß die Zahl der Karäer in Israel
ständig im Steigen ist (schon über 10 000).

Das eigentliche Thema kommt gegenüber solchen Auslassungen
viel zu kurz. So verweist S. richtig für die karäischen Anlange auf das
Erbe „sadokidischer" Strömungen neben dem rabbinischen Judentum
; daß dieses in Palästina seit dem 5. Jh. in eine „tiefe spirituelle
Stagnation versunken war" (S. 49), verzeichnet jedoch die Lage.
Auch stört die Unschärfe in der Ableitung von essenischen wie sad-
du/.äischen Wurzeln, auch wenn dies zum Teil forschungsgeschichtlich
bedingt ist und eine präzise Ableitung der karäischen Bewegung
kaum noch möglich sein dürfte. Die Belege aus Qumran sollten übrigens
durch Stellenangaben gekennzeichnet sein - nur ein einziges Mal
wird eine solche Angabe gemacht, bei rabbinischen Texten nie, aber
auch bei karäischen Texten fast nie! Die karäische Vorliebe für den
philonischen Typ der Bibelauslegung in der gemeinsamen essenischen
Wurzel zu sehen (S. 67), ist ebenso fragwürdig wie die Argumentation
, ein hellenistisches Judentum im Schwarzmeergebiet habe
dort den Karäern den Boden bereitet, weshalb auch die Khazaren zu
ihrer Richtung bekehrt wurden, wie schon die Herkunft des Missionärs
Isaak Sangari vom Marmara-Meer beweise. Daß Firkowicz San-
garis Grabstein im karäischen Friedhof von Kaie fand (nach anderen
tälschte), soll diesen Beweis nur noch erhärten. Ebenso hypothesen-
haft vorgetragen werden die karäischen Verbindungen der Falaschas
oder der Berber. Mehr Argumente, wenn auch keine schlüssigen
Beweise weiß S. für die Ableitung der polnischen und litauischen
Karäer von den Khazaren vorzubringen. Was die karäische Zugehörigkeit
der Ben-Ascher-Familie wie auch jener der Ben-Naftali
betrifft, also der bekanntesten Masoreten, hätte S. auch unvoreingenommene
Zeugen auf seiner Seite (z. B. P. Kahle, The Cairo Geni-
za, Oxford 1959, 80ff), müßte jedoch in so umstrittenen Fragen auch
die andere Seite ernst nehmen, anstatt den Andersmeinenden prinzipiell
als böswilligen Feind der Karäer abzulehnen. Dasselbe gilt von
der heute wieder umstrittenen Frage des Aleppo-Codex' der hebräischen
Bibel und so manchen anderen Punkten. Da die Darbietung
von Fakten, Qucllcnbelegen und Argumenten in sachlicher Diskussion
mit anderen Meinungen hier weitestgehend durch Polemik er-