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Ausgabe:

1982

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

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Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 107. Jahrgang 1982 Nr. 3

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Kirche und ihrer Einheit sei. Auf dieser grundsätzlichen Basis ist die
ganze mächtige Entfaltung der Funktionen und Aufgaben des Lutherischen
Weltkonventes und später des Lutherischen Weltbundes errichtet
. Und diese Basis ist, biblisch und reformatorisch gesehen,
theologisch-ekklesiologisch unhaltbar." (241) Der LWB müsse so-
denn klarstellen, daß die Einheit der Kirche Jesu Christi Priorität
gegenüber lutherischer Einheit habe und der LWB sich selbst als vorläufig
verstehe (242).

Damit stellt sich aber die Frage, welche ekklesiale Gestalt denn die
ökumenische Bewegung gegenwärtig anbiete (Kap. 5). Der ORK
blieb bis heute in der Alternative Superkirche oder reines Instrument
autonomer Kirchen gefangen und auf letzteres festgelegt. Zwar gab es
Impulse und Entwicklungen, die darüber hinaus drängten (so der Impuls
der Bekennenden Kirche, vor allem D. Bonhoeffers nach der ek-
klesialen Qualität aktuellen Bekennens zu fragen, und der „ekklesio-
logische Überschuß" in der Basisformel des ORK), aber ein Neueinsatz
erfolgte doch erst von Neu Delhi 61 aus mit der Frage nach der
Konziliarität.

Im Anschluß an eine Skizze der Diskussion entfaltet D. sein Verständnis
von Konziliarität: Die Basis ist die eucharistische Gemeinschaft
am Ort, welche die Spaltungen von Kirche und Welt überwindet
(284). Die überörtlichen, regionalen Strukturen haben keine eigene
ekklesiale Qualität. Sie sind nicht Superstrukturen sondern Netzwerke
, die der Kommunikation der Gemeinden am Ort und der universalen
Gemeinschaft dieser geeinten Gemeinden auf verschiedenen
Ebenen dienen (297). Zeugnis und Bekenntnis müssen aus der Gefangenschaft
eines objektivierenden Denkens und imperialer Einheitsvorstellungen
zu neuer dialogischer Verbindlichkeit finden. Das hervorgehobene
Instrument universaler Gemeinschaft zwischen den Kirchen
ist der ökumenische Rat der Kirchen. Er ist weder (Super)kir-
che noch reines Instrument der existierenden Kirchen, sondern Vorwegnahme
des Ortes universaler konziliarer Gemeinschaft und des
Handelns auf diese universale konziliare Gemeinschaft hin (302).

Die Herbeiführung solcher verbindlicher Gemeinschaft aber ist unaufschiebbar
dringlich, weil die Welt in ihren selbstzerstörerischen
Spaltungen ein verbindliches Christusbekenntnis der Christenheit
harausfordert. Die sozialethischen und die ekklesiologischen Fragen
sind nicht voneinander abtrennbar, denn „der Christus der Eucharistie
ist derselbe wie der Christus der Armen" (E. Lange). Die Kirche
müßte die Nord-Süd-Situation zum Bekenntnisfall erklären. Daß sie
hierfür noch nicht das Instrument wahrer universaler Konziliarität
zur Verfügung hat, ist die lebensgefährlichste Konsequenz der „Unschlüssigkeit
der ökumenischen Bewegung" (289).

In dem abschließenden Kapitel macht D. Vorschläge für „mögliche
Schritte zu einer ökumenischen Befreiung des Lutherischen
Weltbundes", deren wichtigste im Vorangehenden schon genannt
sind.

Das Buch stellt und weckt viele Fragen. Sie sind von ökumenischer
Hoffnung bewegt, darum kritisch, ungeduldig, bisweilen überscharf.
Sie erinnern die ökumenischen Aufbruchsjahre um Uppsala, Evian
und (in der Apartheidsfrage) auch noch Darressalam 77, in denen
der LWB „über sich selbst hinauswuchs" (162). D. kann sich mit den
ökumenischen Stagnations- und Reaktionserscheinungen danach
nicht abfinden und mutet dem LWB einen neuen Aufbruch, ja eine
„Pionierrolle" (308) zu. Wird das Buch in diesem Sinne als Zumutung
produktiv, oder wird es als „Abrechnung mit dem LWB"
verstanden und nur defensiv aufgenommen werden?

Das Buch weckt die Frage: Wie eigentlich vollzieht sich heute Kirchenkritik
im ökumenischen Raum? Welche operationale Gestalt
kann das semper reformanda heute gewinnen? Für zwischenkirchliche
Kritik in einem verbindlichen konziliaren Prozeß ist die Zeit
Wohl noch nicht gekommen. Welche Chance aber hat die Kritik von
innen, wie D. sie versucht (210)? Nur einzelne hätten die Freiheit, die
wirklich kritischen Fragen aufzuwerfen (14), nur Kirchen aber hätten
die Chance gehört zu werden (210), nur in Basisgemeinschaften werde
die ökumenische Hoffnung gelebt, die D.s provokative Kritik bewegt

(2900- Wie wirken sie zusammen, welche Mechanismen sind dabei
wirksam, welche Ermöglichungsstrukturen konstruktiver Kritik
wären zu schaffen? Studienabteilungen, die Einbezogensein und
reflektierende Distanz zugleich ermöglichen, sind offenbar ein gutes
kritisches Instrument, zu dem man dem LWB gratulieren kann.

Man wünscht dem Buch, daß seine kritischen Analysen durch die
Praxis widerlegt, die Kriterien aber offen diskutiert werden.

Bei den Kriterien wird es vor allem um folgende gehen: Die Ekkle-
siologie der ecclesia militans, welche Rechtfertigung und Heiligung
im Kampfgeschehen so verbindet, daß jedem legitimationsideologischen
Mißbrauch des simul justus et peccator gewehrt ist, die aber
wohl lutherisch mit der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium
rückgekoppelt werden müßte; die enge Verkoppelung von Ekklesio-
logie und Sozialethik, von Bekenntnis und politischer Entscheidung,
vor allem im Begriff des Status confessionis, der für lutherische Theologie
eine noch nicht aufgearbeitete Provokation darstellen dürfte; die
(sehr hilfreiche) Differenzierung von Heiligungskampf, Kampf mit
der irrenden und der falschen Kirche, und nicht zuletzt des Verständnis
von Bekenntnis und Bekennen im Zusammenhang der Konziliarität
.

Vor allem in letzterem liegen m. E. auch weiterführende Fragestellungen
und Impulse für das ökumenische Gespräch. Wie ist die
Wahrheit zu verstehen, die eint, und wie die Einheit in dieser Wahrheit
? Zweierlei sei hier noch hervorgehoben:

- D. fragt, wie die Universalität der theologischen Wahrheit in den
Konflikten und Spaltungen der heutigen Welt gefaßt werden kann.
Doch weder zeit- und ortlos noch von einem naiven Universalitätsanspruch
europäischen Denkens aus. In dem neuen „Universalienstreit
" müsse ehrlich der Konflikt angenommen werden, daß
die universelle theologische Wahrheit anders zu Unterdrückern
und anders zu Unterdrückten spricht. „Nur wenn dieser Konflikt
ausgehalten wird, wird die Wahrheit universal in einer von der
Macht der Sünde zerrissenen Welt, sonst wird Universalität imperialistisch
." (107).

- D. geht den Folgen nach, die das (von Weizsäcker, Picht u. a. beschriebene
) objektivierende Denken neuzeitlicher Wissenschaft für
die ökumenische Bewegung hat. Der Konfessionalismus ist in
diesem Denken befangen, das begriffliches Denken, „Lehre" allen
anderen Erfahrungsweisen lebendiger Gemeinschaft überordnet,
von der Wirklichkeit nur erfaßt, was sich in Gesetze fassen läßt und
im linearen Zeitbegriff klassischer Physik befangen, Gegenwart und
Zukunft nur als Extrapolation der Vergangenheit sehen kann (260).
In den Rastern dieses Denkens sind die neuen geistlichen Erfahrungen
der ökumenischen Bewegung in ihrer strukturverwandelnden
Tragweite nicht zu erfassen. Sie werden vielmehr ..in die
rein existentielle Ebene des ,Ereignisses' abgedrängt, die nichts mit
der rechtlich-institutionellen Ebene zu tun bekommen darf. Auf
diesen Reflexionsniveau sehr abstrakt aber auch sehr scharf formuliert
ist das Problem der Ökumene daher, ob „die offene, Verantwortung
fordernde und neue Möglichkeiten offenbarende Zukunft
in der Gegenwart die gewordenen Bedingungen der Vergangenheit
zu integrieren vermag" (269). Anders gesagt - und das
ist die Frage des ganzen Buches - : Ob Kirchen bereit sind, ihre
Identität ins Sterben zu geben, um sie im offenen Prozeß konziliarer
Gemeinschaft von dem Christus der Auferweckung neu zu
empfangen.

Erfurt Heino Falcke

' Der leitende Bischof der VELKD Dr. E. Heintze äußerte im Juli 80, daß
der Begriff der „versöhnten Verschiedenheit" auch für Lutheraner nur „vorläufige
Bedeutung" habe. „Von daher dürfe sich keine Konfessionskirche als
Selbstzweck betrachten. Jede kirchliche Institution sei immer nur Institution
im Übergang" (LWI 26/80 S. 5). Sind diese Äußerungen als Reaktion auf
D.s Fragen zu werten?

Beinert. Wolfgang: Auf 2030 hoffen? Literarische Nachlese zum Augustana-
Jubiläum (ThGl 71, 1981 S. 1-16).