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Ausgabe:

1981

Spalte:

174-175

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Ein Lebensbild in Dokumenten 1981

Rezensent:

Moritz, Hans

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 3

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Der erste und bleibende Gesamteindruck der Lektüre vermittelt auch an seiner gesellschaftspolitischen und ideologischen Umwelt lie-
cine innige Verschränkung von Theologie, und zwar wissenschaftlich gen, daß Schönherr gerade in der Nachfolge des Theologen und Blutbegründeter
und durchgehaltener, mit dem Leben in der Kirche und zeugen der Bekennenden Kirche gelernt hat, diese seine Umwelt
um der Kirche willen. Weil dies heute-leider-so gar nicht selbstver- ernstzunehmen, ja, bewußt aus Glauben und im Glauben anzu-
ständlich ist, verdient es hervorgehoben und unterstrichen zu werden, nehmen und auch aus diesem Grunde den Bonhoefferschen Grundge-
Trotz der im Vorwort geäußerten bescheidenen Selbsteinschätzung danken von der religionslosen Interpretation des Evangeliums zum
des Autors muß geurteilt werden, daß ohne seine selbständig verar- Ausgang vertiefter und veränderter ekklesiologischer Vorstellung,
beitete und artikulierte Theologie dieser Verfasser auch nicht der aber auch ekklesialer Praxis zu machen. Während sehr viele Theo-
Pfarrer. Predigerseminarleiter und Bischof geworden wäre, als der er logen und noch mehr Kirchenmänner im Westen heute meinen, sie
seinen kirchlichen und unkirchlichen Zeitgenossen erscheint und uns könnten über die theologische Religionskritik von Barth oder gar
eben auch in diesen Schriften entgegentritt. Es gilt ja auch umgekehrt: BonhoefTer als einer Modeerscheinung wieder hinweggehen, finden
der Theologe Schönherr tritt als solcher, d. h. isoliert, gar nicht in Er- wir hier für alle Welt und insbesondere für die Ökumene wegwei-
scheinung, er ist immerauch in unverkennbarer Personalunion Pfar- sende Gedanken über die Kirche und ihren Weg in der Welt von
rer, Kirchenmann und kirchenleitender Amtsträger. Letzteres heute. So zeichnet sich gerade in den Abhandlungen „Versuche über
kommt besonders in dem Vortrag „Von der Existenz des Pfarrers und mit Bonhoeffer" (104ff) der charakteristische Denk- und Handheute
" (91 ff) und in den „Wort(en) des Bischofs an die Synode" lungsstil ab, der ja nicht nur für Schönherr selbst, sondern für den
(202ff; 230ff) sowie in der „Ansprache an den Staatssekretär für Kir- Weg der Evangelischen Kirche in der DDR wesentlich erscheint. Es
chenfragen" (250IT) zum Ausdruck. Jedoch sind gerade auch hier die geht um keine billige Adaption oder gar um eine ideelle Konzession,
Grundzüge seiner Theologie unübersehbar zu erkennen. Man spürt wohl aber um die glaubende Annahme einer neuartigen Situation, die
hier keinen Bruch zwischen theologischer Theorie und kirchlicher auch zu neuartiger Verantwortung im Denken und Tun führt. Indem
Praxis, keinen erzwungenen abrupten Übergang, keine wie immer der Theologe und Kirchenmann Albrecht Schönherr Geschichte und
geartete schizophrene Sprunghaftigkeit. Dies will heute sehr viel Staat, in denen er zu wirken hat, als Herausforderung zu gehorsamer
besagen! christlicher Existenz versteht, wird er selbst zum Mahner und Her-

lm Zusammenhang damit steht ein heute ebenfalls keineswegs ausforderer der übrigen Christenheit. .Horizont und Mitte'vermögen

selbstverständlicher Eindruck: die bruchlose Geschlossenheit eines hier nicht nur die Glieder seiner Kirche, sondern auch viele andere

■evangelischen' Selbstverständnisses! Dies meint keineswegs einen Christen für theologisches Denken und für ein Leben aus Glauben

konlessionalistisch in sich abgekapselten oder gar antiökumenischen finden.

Protestantismus, denn dem würde schon der Vortrag „Evangelisch Wien Wilhelm Dantine
beichten" am Deutschen Evangelischen Kirchentag 1957 in Frankfurt
/M. (59ff) widersprechen, aus dem eine ökumenische Offenheit

a"ch dem Katholizismus gegenüber hervorgeht; es wäre übrigens [Tilllch, Paul:] Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe, Tagebuch-

a"ch an den Einsatz Schönherrs Tür das Zustandekommen der Auszüge, Berichte, hrsg. von R. Albrecht und M. Hahl. Stuttgart:

•Uuenberger Konkordie' zu erinnern. Auch hier spürt man keinen ÜSSÜSl Jl^2tLZ' "JÄ^

Bnir-i, Ar- u i ■ ,,, '. . , , Nachlaßbände zu den gesammelten Werken von Paul Tillich, 5.

"rucn oder Gewaltsamkeit: der Vf. scheint sich auf evangelischem Lw DM 4J _

Boden wie selbstverständlich zu Hause zu fühlen; er hat es offenbar

n'cht nötig, hier auszubrechen, weil ihm genügend Freiheit zuge- Nachdem die gesammelten Werke Paul Tillichs und bereits vier
sProchen ist, um sich ungeniert auch sonstwo umzusehen, zu lernen Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den gesammelten Werken vorlie-
Ur>d anderes auch anzunehmen. Diese unmittelbare und zugleich gen, ist es sehr zu begrüßen, daß nun auch ein Lebensbild in Doku-
°ejahte Beheimatung im Protestantismus kommt besonders dadurch menten durch die verdienstvolle Herausgeberin der Werke Paul Til-
klar zum Ausdruck, mit welcher fraglosen Eindeutigkeit die biblische lichs und Frau Margot Hahl vorgelegt wird. Das Verfahren, nicht nur
Exegese am Anfang und in der Mitte jeder kirchlichen und theolo- eine Briefausgabe zu veröffentlichen, sondern darüber hinaus auch
Bischen Überlegung steht. Dies findet nicht nur in den Predigtmedita- auf zeitgenössische Berichte und Tagebuchaufzeichnungen zurückzu-
'lonen (296-333), mit denen bezeichnenderweise der Band greifen, wird man uneingeschränkt als gelungen bezeichnen müssen,
abschließt, seine Bestätigung, sondern dies zeigt sich deutlich in fast Vor allem aber hat das Lebensbild durch eine den jeweiligen Kapiteln
allen Aufsätzen, wie etwa beispielhaft in: „Die Botschaft vom Reich vorangestellte Zeittafel und eine die einzelnen Dokumente erläu-
Ur|d der Dienst in der Kirche" (12ff) oder in : „Unser Reden in der ternde kurze und prägnante Einführung eine erfreulich nuancierte
Kirche des Wortes" (27ff), besonders aber in dem Vortrag: „Soll die und plastische Dichte gewonnen. Diese Art biographischer Funda-
Kirehe mehr Autorität haben?" (33ff). Es ist wohl nicht übertrieben, mentalarbeit überzeugt voll, und für die vielen Anhänger von Tillichs
wenn man urteilt, daß Luthers berühmte Definition der Kirche als theologischer und kulturphilosophischer Arbeit bedeutet sie eine un-
einer .creatura verbi' in der existentiell gelebten, gedanklich reflek- geahnte Bereicherung, weil sie ein Feld sozusagen persönlicher Bewerten
und amtlich repräsentierten Kirchlichkeit des Bischofs von gegnung ermöglicht, die ohne eine solche Grundlage kaum zu errei-
erlin-Brandenburg deutlich und überzeugend Gestalt angenommen chen wäre. Hatte schon die Biographie aus der Feder der Tillich-
e- freunde Wilhelm und Marion Pauck einen wichtigen Schritt in der
In enger Verbindung damit steht auch die wichtigste theologische biographischen Würdigung des bedeutenden Theologen und Kultur-
r,entierung des Autors, nämlich seine grundsätzlich-bewußte und Philosophen angezeigt, so ist durch Renate Albrecht diese Würdigen
, lolgcnreiche Gefolgschaft gegenüber der Theologie Dietrich gung in wichtigen Punkten ergänzt und erweitert worden. Auch die
nhoeffers. Gefolgschaft darf hier freilich nicht mit Nachahmung vorgebrachten Korrekturen an der Pauckschen Biographie werden
°der scholastischer Haltung verwechselt werden; es handelt sich viel- die Anhänger und Freunde des Tillichschen Werkes dankbar begrü-
°ielir um ein freies und selbständiges Fingehen auf die Provokation, Ben, zeugen sie doch von der überaus exakten und an manchen Stel-
von diesem großen Theologen ausgegangen ist. Wenn ich recht len sogar Tillichs eigene selbstbiographische Angaben berichtigenden
e, befindet sich Schönherr nicht nur als kirchenleitende Person- Gründlichkeit der Herausgeberin Renate Albrecht,
jehkeit, sondern auch als Theologe in relativ einsamer und beson- Wenn auch der wissenschaftliche Briefwechsel Paul Tillichs noch
™ er Stellung, seine intensive Beschäftigung mit dem neuen theolo- der Herausgabe harrt, so erschließt sich dem Leser des Lebensbildes

in

BlSchen Horizont, den Bonhoeffer uns erschlossen hat, hat ja auch nicht nur viel Persönliches und vieles von den Stürmen der Zeit
SC'ncn Niederschlag gefunden, tritt aber auch in diesem Band denen Tillich stand, sondern auch durchaus Substantielles aus dem
errschend entgegen, wie schon vermerkt wurde (I03IT). Es mag wissenschaftlichen Werk Tillichs. Das mag bei jedem Leser etwas