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Ausgabe:

1981

Spalte:

117-121

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Beintker, Michael

Titel/Untertitel:

Die Gottesfrage in der Theologie Wilhelm Herrmanns 1981

Rezensent:

Greive, Wolfgang

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117

Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 2

I I s

Wenn etwa der Mensch empirisch analysiert wird, so mag
sich das Urteil nahelegen, er sei „ambivalent", hin- und hergerissen
/.wischen Gut und Böse. Ist von da aus wirklich zu erfassen
, was „Sünde" oder „Sünder" heifjt? Dasselbe gilt von
der Geschichte bzw. von Augustins Urteil über die civitas
terrena. H. plädiert für eine evolutive Betrachtung der Geschichte
, die anscheinend in die Hoffnung einer universalen
Erlösung ausmünden soll. Jedes Bewußtsein für den im Neuen
Testament fundamentalen eschatologischen Gegensatz zwischen
Altem und Neuem Aon ist hier verloren. Gott, der nun nicht
mehr direkt der Bezugspunkt der Sünde ist, droht zum bloßen
Mittel herabzusinken, zum Garanten der Hoffnung für unser
Ringen mit dem Bösen. Auch der Begriff des Bösen wird unscharf
. Sünde und Leiden verschwimmen in einem. Wie aber
soll Theologie sachgemäß davon reden?

Mainz Friedrich Beißer

1 Der Vf. tritt damit in die Nachfolge von G. Greshake (Gnade als konkrete
Freiheit), er setzt sich ein für H. Haag und andre Kritiker der Erbsündenlehre.
Er zerpflückt die Verteidigung dieser Lehre durch L. Scheffczyk und K.-H.
Weger.

2 Hier vermißt man den Versuch, Augustins Denken als Ganzes zu behandeln.
MNl die -ethische" Betrachtungsweise denn das „Ordnungs'-Denken ab? Übrigens
sind solche - kantianischc - Gegenüberstellungen ihrerseits fragwürdig.

3 H. behalt den Begriff der »Erbsünde" bei, obwohl er feststellt, daß A.
selbst ihn nie gebraucht (210). Er spricht vielmehr von „Ursünde" (peccatum
originale) bzw. von .Erbübel" (malum hereditarium) (219).

4 H. stützt sich hier fast ausschließlich auf katholische Exegcten. Leider wird
die Exegese nur hier, zu Teil 4, mit berücksichtigt.

5 H. wiederholt den bekannten Sachverhalt, daß A. an der Stelle Röm 5,12
oie (falsche) Übersetzung .in quo" voraussetzt. M. E. ist es freilich nicht ganz
so sicher, ob das griechische „^-^ u)" tatsächlich „weil" bedeutet und nicht etwa
-Woraufhin". Vor allem ist darauf zu verweisen, daß Paulus hier auf das universale
Todesverhängnis hinweist. So wenig wir aber die Wahl haben, ob wir
durch unsre Tat uns den Tod aufladen oder nicht, so wenig ziehen wir uns die
Herrschaft der Sünde erst durch unsere Entscheidung zu.

6 Trotz aller Nachweise von H. wird mir nicht deutlich, wie denn die
zweifache Prädestination gerade zur einfachen Erbsünde drängen mufj.

2 Während man es sonst kirchlichen Entscheidungen gern nachrühmt, wenn
*lc sich mit einem bloßen Daß begnügen, wendet H. hier hauptsächlich ein, dafj
der Inhalt der Erbsündcnlchrc zu wenig entfaltet sei.

Beintker, Michael: Die Gottesfrage in der Theologie Wilhelm
Herrmanns. Berlin: Evang. Verlagsanstalt 1976. 213 S. gr. 8°
= Theologische Arbeiten, 34. Kart. DM 13,80.

Beintkcr interessiert die Beantwortung der Gottesfrage durch
einen der „einflußreichsten und maßgeblichsten systematischen
Theologen" (9) am Ende des 19. Jh.: W. Herrmann. Dieses
Interesse spricht sich in einer bestimmten Leitfragc aus, denn
die Hcrrmannsche Theologie wird auf ihr sachgemäßes, legitimes
Reden von Gott untersucht, ob also „wirklich von Gott
selbst" die Rede ist (10). Damit erreicht das Buch zweierlei:
Es lenkt einmal den Blick auf zentrale Fragen der Gottcslehrc,
w'e sie sich aus einer profilierten Theologie des 19. Jh. ergeben
, und es stellt zum anderen die Frage nach dem Zusammenhang
: Herrmann - Barth, weil das Drängen auf die Rede von
G°tt selbst Barths Theologie charakterisiert. Indem B. mit den
Ansätzen der dialektischen Theologie nach dem Denken Herrmanns
fragt, wird eine mögliche Kontinuität zwischen Herrmann
und Barth an theologisch entscheidender Stelle angenommen
. Die These ist: „das Ringen Herrmanns um ein angemes-
Senes Reden von Gott berührt sich mit dem Anliegen der
einstigen dialektischen Theologie" (121).

Das Buch muß den Beweis antreten, daß die Frage nach Gott
selbst nicht nachträglich an Herrmann herangetragen ist. Daß
dieser Beweis im wesentlichen gelingt, zeichnet die Bemühungen
von B. aus. Mit Verständnis und Gründlichkeit wird die
^rundintention des Herrmannschen Denkens aufgezeigt, die
Eigenständigkeit des christlichen Glaubens aufgrund der Offenbarung
Gottes in Jesus Christus herauszustellen. Der Glaube
K'inn nur durch die ihm selbst innewohnenden Momente verstanden
werden. Das heißt, daß Hcrrinanns Theologie von Gott
selbst redet, weil sie vom christologischen Ansatz bestimmt
)st- Diese Hauptthese des Buches bedeutet einen wichtigen
neologischen Beitrag angesichts der ..fundamentale(n) Un-
c,nigkeit über die Beurteilung von Herrmanns Theologie und
"ber die Kritik des Neuprotestantismus" (O. Jensen). Das Rin-
^Cn um das rechte Hcrrmannvtiständnis ist bedeutungsvoll

für die Barthinterpretation, durch die sich die gegenwärtige
Theologie häufig vergewissert.

B. weiß, daß das Hauptergebnis seiner Untersuchung eine
kritische Funktion für das Sclbstverständnis der dialektischen
Theologie hat, sofern sie sich als radikal neuen Anfang begriff
und das theologische Denken des 19. Jh. diskreditierte. Die
verdrängten „Fragestellungen und Lösungsversuche", aus denen
die dialektische Theologie erwuchs, werden wieder bewußt
gemacht (9). B. zeigt, wie bestimmend für Hcrrmann die Geschichtlichkeit
und Erfahrbarkeit des Glaubens (Religion als
Geschichte und als Erlebnis) angesichts seiner metaphysischen
Verfremdung sind und wie sicher sich daher der Satz von der
christologischen Begründung des Glaubens ergibt, doch gelingt
es ihm nicht, diesen kritischen christologischen Ansatz in seiner
ganzen Problematik und Spannung zu erfassen. Das gründet
darin, daß mit der Abhängigkeit „von den Denkansätzen der
dialektischen Theologie" (128) bestimmte Problemstellungen
Herrmanns nicht oder nur ungenügend erkannt werden. Für
das Problcmbewußtsein der Arbeit spricht, in welch hohem
Maß die Differenz „zwischen Intention und Ausführung dieser
Intention" (116) bei Hcrrmann aufgezeigt werden kann, aber
die Gründe für diese Differenz werden von Herrmanns eigenen
Prämissen her nicht ausreichend durchsichtig gemacht. Bevor
diese Defizite zur Sprache kommen, soll der Gang der Untersuchung
dargestellt und die einzelnen Ergebnisse gewürdigt
werden.

In der Einleitung wird über Aufgabe, Interpretationsweise
und Aufbau der Arbeit Rechenschaft abgelegt. Wichtig ist hier
die Entscheidung, einerseits den konstanten Grundgedanken
der Herrmannschen Theologie zu bestimmen, andererseits aber
sehr deutlich ihre gewichtigen Veränderungen herauszuarbeiten
. Die Unterscheidung in Früh-, Haupt- und Spätwerk ist
ein Problem jeder Herrmann-Untersuchung. Ihre Notwendigkeit
zeigt diese Arbeit sehr schön durch den Vergleich der verschiedenen
Auflagen der Hauptschriften.

Aufgrund der programmatischen und gründlichen theologischen
und erkenntnistheoretischen Absicherung der eigenen
Position in der frühen Religionsschrift („Die Religion im Verhältnis
zum Wcltcrkennen und zur Sittlichkeit") wird „dem
Frühwerk eine unentbehrliche hermeneutische Schlüsselfunktion
für das Verständnis der gesamten Arbeit Herrmanns" eingeräumt
(13). So wird im ersten Teil der Untersuchung (A) die
in der Religionsschrift begründete Ablehnung der an eine
metaphysische Welterklärung gebundenen Theologie gezeigt.

Diese Theologie erfaßt nicht Gott selbst, entfaltet den Glauben nicht von seinen
eigenen Gründen. Für ihre Ablehnung nennt B. zwei Motive bei Herrmann:
das theologische und personalistische. Das erste ist das entscheidende, weil es
Gottes Wirklichkeit in ihrer Unverfügbarkeit zur Geltung bringt. Gottes Gottheit
kann nicht von der Welt her verstanden werden, vielmehr .ist die Welt
ausschließlich im Licht der Offenbarung Gottes im geschichtlichen Jesus Christus
als Hinweis auf Gottes Wirklichkeit zu werten" (27). Das personalistische
Motiv hebt hervor, daß sich die Wahrheit des Glaubens nicht in Objektivierung
und Abstraktion erschließt, denn die Religion oder der Glaube ist eine Funktion
individuellen Lebens. Der persönlich Glaubende ist kein empirisches Datum,
das hinterfragbar und verrechenbar ist. Daß Herrmann mit der Ausarbeitung
dieser Motive jedes Bündnis mit den empirischen Wissenschaften und jeden
metaphysischen Gottesbegriff ablehnt, wird als Konstanz seines Denkens bestimmt
und als „bahnbrechend" bezeichnet. Herrmann hat die Theologie .auf
ihr eigenes Gegcnstandsfeld verpflichtet" (15).

B. entwickelt dann die für die ganze Herrmannsche Theologie konstitutive
These vom Dualismus der Wirklichkeit: es gibt eine erklärbare und eine erlebbare
Welt. Der Mensch als .Selbst" aber ist nur erlebbar und wird aufgrund
des eigenen Gefühls gegenüber der erklärbaren Wirklichkeit behauptet. B. sieht
diese These .als das erkenntnistheoretische Rückgrat für die Abgrenzung von
jeder wissenschaftlichen Bearbeitung des Gottesgedankens" an (34). Kritisch vermerkt
er, daß Herrmann „den Erweis; für die sachliche Stringenz seines Dualismus
oft schuldig bleiben muß", daß hier nur der Theologe argumentiert, .dem
es darauf ankommt, die Andersartigkeit Gottes und das In-sich-selbst-Gegrün-
detsein des Glaubens gegenüber theclogi' Ji illegitimen metaphysischen Setzungen
zu garantieren* (36). Unkritisch aber erscheint dann die Forderung von
B. selbst, angesichts der heimlichen Anwest nheit metaphysischer Fragestellungen
bei Herrmann (platonischer Dualismus, Vorstellung von einem Weltganzen
allein für den Glauben) habe dieser „sich sofort und unbefangen dem aus der
Schrift an uns ergehenden Wort Gottes zu stellen* (40).

Der zweite Teil (B) stellt dar, wie Hcrrmann die Rede von
Gott selbst als Rede für den säkularen Menschen expliziert.
Entscheidend ist das korrelative Vorgehen. Gott wird in der
Korrelation von Religion und Sittlichkeit (Früh- und Hauptwerk
), von Religion und wahrhaftigem Leben (Haupt- und
Spätwerk) zur Sprache gebracht. Die Frage des Menschen nach
wahrer Sittlichkeit und wahrem Leben hat hermeneutische
Funktion. Die Problematik dieses Vorgehens besteht darin.