Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1981

Spalte:

95-98

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stoldt, Hans-Herbert

Titel/Untertitel:

Geschichte und Kritik der Markushypothese 1981

Rezensent:

Linton, Olof

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 2

96

bereits befindet. Der normale Benutzer greift indessen zu einer
Einleitung, um zu erfahren, ,was ist'. Er wird von Kümmel vor
allem über die jeweils begründet .richtige' Lösung einer Frage
informiert bzw. darüber, dafj der gegenwärtige Erkenntnisstand
vereinzelt dazu zwingt, eine Frage oder den Aspekt einer
Frage ohne Antwort zu lassen.

Dabei ist der Erfolg der Kümmeischen Einleitung vermutlich
wesentlich mit darin begründet, dafj sich in ihr der wissenschaftliche
, kritische Charakter der Methode stets mit Lösungen
verbindet, die konsensusfähig sind. Nie begegnen eigensinnige,
eigenbrötlerische Urteile, und die fortwährende Beschäftigung
mit der umfangreichen Literatur zu den Einleitungsfragcn hat
Kümmel nicht von ungefähr nicht bestimmt, ein wesentliches
seiner Urteile bemerkenswert zu alterieren. Diese Standard-
cinlcitung repräsentiert darum, die Fülle des Erreichten respektierend
, den .mittleren' Stand der Forschung. Wo dieser
gespalten ist, liebt Kümmel die .traditionelle' Lösung: Integrität
aller Paulusbriefe, Echtheit von 2Thess und Kol usw., u. zw.
erfährt der Leser auch in diesen Fällen, dafj nach Abwägung
der Argumente „alles" für Kümmels Lösung spricht. Dem aufmerksamen
Leser dieser Einleitung können Zweifel an der
Richtigkeit der Zwei-Quellen-Hypothese ebensowenig kommen
wie an den formgeschichtlichen Aufstellungen zur mündlichen
Traditionsstufe vor Markus und Q - solche Zweifel wurden
von Feine-Behm noch mit ausführlicher Begründung vorgetragen
; die redaktionsgeschichtlichen Probleme erscheinen im
wesentlichen als gelöst; die Möglichkeit einer traditionsgeschichtlichen
Schichtung innerhalb der Spruchquelle wird in
einer Anmerkung mit einem Satz abgetan; unterschiedliche
Gemeinden als Traditionsträger früher synoptischer Überlieferungen
treten gar nicht erst in den Blick usw.

Vermutlich können vergleichbare Einleitungen heute nicht
anders als so geschrieben werden. Je weniger bestimmt und
konsensusfähig in ihren Urteilen und vereinfachend in ihren
Problemstellungen sie sind, um so weniger lesbar und informativ
werden sie auch. Dafj sie den Konsensus dabei nicht nur
reflektieren, sondern auch stabilisieren und immer neu produzieren
, ist unvermeidlich. Aber ist es gut?

Schleiermacher hat bekanntlich gemeint, nicht das Verstehen
verstehe sich von selbst, sondern das Nicht-Verstchen. Soweit
dieses Urteil richtig und dem Verstehen dienlich ist, ist auch
richtig und der Erkenntnis dienlich, eine solche Fülle ,klarer
Entscheidungen' in der Einleitungswissenschaft nicht einverständlich
, sondern mißtrauisch zur Kenntnis zu nehmen.

Berlin (West) Walter Schmithals

Stoldt, Hans-Herbert: Geschichte und Kritik der Markushypothese
. Göttingen: Vandcnhoeck & Ruprecht (1977). 241 S.
gr. 8°. Kart. DM 42,-.

Die Abhandlung besteht, nach einer Einleitung („Die Problemlage
", 7-27), aus zwei großen und drei kleineren Abschnitten
: A. „Kritische Analyse der Entstehung der Markushypo
these" (28-124), B. „Kritische Analyse der Beweise für die
Richtigkeit der Markushypothese" (125-205), C. „Die ideologischen
Hintergründe der Markushypothese" (206-214), D.
„Die Weiterwirkung der Markushypothese" (215-231) und E.
„Das Fazit"; es folgen Literaturverzeichnis und Autorenregister
(237-241).

In der Einleitung werden einige Pioniere erwähnt: vor
allem Griesbach und Henry Owen, ein Engländer, der schon
1764 das Mk-Ev als eine kompilatorische Verkürzung von Mt
und Lk charakterisiert hatte (11), weiter J. G. Eichhorn, C. L.
Gieseler, H. E. G. Paulus, de Wette u. a. Zu ihnen hatte Eichhorn
die Alternative aufgestellt: „Entweder haben sich die drei
Evangelisten untereinander gebraucht, oder sie hängen von
einer gemeinsamen Quelle ab" (9). Für die Folgezeit wurden
nur zwei Hypothesen belangvoll, die Griesbachsche und die
Markushypothese (10). Die erste hatte den Vorzug, dafj man
ohne Hilfshypothesen auskommen konnte, während die Markushypothese
ohne Hilfskonstruktionen nicht durchzuführen war.
Man mufjte nämlich immer wieder neue Fragen beantworten
, warum Mt und Lk manches ausgelassen, zugesetzt oder
verändert haben, oft überdies in derselben Weise. Es folgen
dann Listen, die alle diese Unstimmigkeiten illustrieren sollten.
Auf diese Listen komme ich später zurück.

Griesbachs Hypothese (Mt-Lk-Mk) hatte bald große Zustimmung gefunden.
Wie ist es dann überhaupt zu einer Markushypothese gekommen? Diese Frage
wird im ersten Hauptabschnitt behandelt, zunächst „Die Begründung" durch
Wilke und Weisse (28-67). Es ist dabei ein Hauptanliegen des Vf. darzulegen,
dafj diese Forscher, die in der späteren Sicht oft als Kombattanten erscheinen,
zwei ganz verschiedene Hypothesen aufgestellt haben und heftig gegeneinander
polemisiert haben. Wilke vertritt nämlich eine „innersynoptische Lösung":
„Markus ist der Urevangelist. Sein Werk ist's, das den beiden anderen des
Matthäus und Lukas zu Grunde liegt", (zitiert S. 30). Wie kommt es dann, daß
Mt und Lk so viel Material über Mk hinaus zusammen haben? Wilkcs Antwort
ist: Mt hat dies Material aus Lk übernommen (40). Weisse dagegen vertritt
eine „außersynoptische Lösung", indem er den Stoff, den Mt und Lk über Mk
hinaus haben, einer besonderen Logicnsammlung zuschreibt. 1832 hatte nämlich
Schlciermacher die Vermutung aufgestellt, daf} das Mt-Ev die von Papias
erwähnten Jesuslogien in sich schlicht, der Lachmann im Jahre 1835 zustimmte.
Weisse hat diese Idee aufgegriffen, geändert und für seine These ausgenützt i
diese Logicnsammlung sei eine selbständige Quelle, die sowohl Mt wie Lk benutzt
haben. In seiner Kritik erwähnt St. viele Einwände, u.a., daf) das
Papiasfragment Logicn erwähnt, weshalb kein Erzählungsstoff einbezogen werden
kann. Einwände haben Weisse zu verschiedenen Hilfshypothesen veranlaßt,
darunter die verhängnisvolle Annahme, dafj die Logienquclle auch von Mk
benutzt wurde, womit Weisse de facto seine eigene Logientheorie preisgegeben
hat (55). Das hat schon Ewald gesehen, und Weisse wurde dabei zu einer „Selbstkorrektur
" veranlaßt (58-64), aber beide Versuche (der zweite kam 1856) „sind
als gescheitert anzusehen" (64).

Aus der reichen folgenden Literatur greift S. besonders drei Namen heraus:
Holtzmann, Wernlc und B. Weiss. H. J. Holtzmann (Die synoptischen Evangelien
, 1863, viele Ausgaben) wird unter der Rubrik „Die Neubegründung'
referiert und kritisiert. In Wahrheit hat Holtzmann die Hypothese Weisses
ziemlich radikal umgeformt. Denn seine Quelle „A" ist eine Art Urmarkus - der
auch Sprüche enthalten hat, sogar einige Worte der Bergpredigt -, und die
Quelle „L" spielt bei ihm eine weit bescheidenere Rolle als die Logienquelle bei
Weisse.

Es folgt „Die Vollendung" durch P. Wcrnle (Die synoptische Frage. 1899)
und B. Weiss (Leben Jesu, 1882, viele Auflagen, Kommentare u.a.m.). Nach
Wernle hat sowohl Mt wie Lk das Mk-Ev als Grundlage benutzt (105), aber
mit ziemlich großer Freiheit. Was die andere Quelle betrifft, so hat sie auch
erzählenden Stoff enthalten, wodurch das Papiasfragment als Stütze für die
Zweiquellentheorie eigentlich wegfällt. Dafür hat Wernle die Benennung „Q"
aufgegriffen. Denn wenn man nicht mehr von einer Logienquelle sprach, konnte
man leichter Erzählungsstoff einbeziehen und außerdem die Idee von einer
„Quelle" begünstigen. B. Weiss ist hier noch weiter gegangen, indem er es als
ein „Vorurteil" bezeichnet, wenn man „Q" als eine reine Spruchquelle betrachtet
. Aber wenn man allzuviel Erzählungsstoff einbezieht, steht man vor einem
neuen peinlichen Rätsel : Wie kann man erklären, warum diese Quelle keine
Passionsgeschichte enthalten hat, denn ein „Evangelium ohne Passion" konnte
man sich ja kaum vorstellen. Dazu gibt B. Weiss zu, daß Mk zuweilen im
Vergleich mit Mt sekundär ist - und keineswegs nur in Redestücken (119).
Damit ist er mit seinem Sohn Joh. Weiss - und Weizsäcker - einig. Aber Joh.
Weiss sieht die Schwierigkeiten weit klarer. Er gibt (Das Älteste Evangelium,
1903) unbedingt zu, daß die „Siegesfreudc", mit der man „das synoptische Problem
als gelöst betrachtet", unberechtigt sei: -Es gibt leider nur allzuviele
dunkle Punkte" (zitiert S. 120). Am Ende („Das Ergebnis", 122-124) befinden
wir uns in derselben Lage wie am Anfang: Immer wieder sind Ergänzungshypothesen
nötig.

Nach dieser geschichtlich orientierten Darstellung folgt ein
zweiter Hauptabschnitt, wo die „Beweise für die Richtigkeit der
Markushypothese" systematisch analysiert werden. Da diese
Beweise ebenso wie die Gegenargumente nunmehr weithin
bekannt sind, kann ich mich hier kürzer fassen. S. zahlt die
folgenden auf:

1) Der Beweis der gemeinsamen Erzählungsfolge: Es gibt hier, wie allgemein
anerkannt wird, viele Ausnahmen. St. geht aber' weiter als die meisten, wenn
er deklariert: „Es gibt nur wechselnde Parallelitäten" (131). 2) Der Beweis der
Einheitlichkeit. Eine solche wird anerkannt, aber sie kann nicht als Beweis für
Priorität benutzt werden und außerdem: Warum sollten spätere Bearbeiter eine
gute Darstellung durch Umstellungen und Änderungen etc. zerstört haben? 3) Der
Ursprünglichkeitsbeweis. Es ist richtig, daß Mk anschaulich und lebhaft erzählt,
aber das zeugt nicht von Ursprünglichkeit, sondern nur von seinem schriftstellerischen
Können. 4) Der Sprachbeweis. Hier ist ein Beweis unmöglich, weil
der Umfang der „Quellen" unbestimmt ist und also ein Zirkelbeweis unumgänglich
ist (der Abschnitt beschäftigt sich wesentlich mit Holtzmann). 5) Der Du-
blettcnbcweis. Antwort u. a. i Auch im Mk-Ev kommen Dubletten vor. 6) Der
Beweis des petrinischen Ursprungs taugt nicht, da alle Synoptiker dem Petrus
eine besondere Stellung zuerkennen. 7) Der psychologische Rcflexionsbewcis.
Man führt oft Gründe an, warum Mt und Lk - mitunter zusammen - Zusätze,
Änderungen und besonders Auslassungen vorgenommen haben. Schon die Menge
der Fälle macht eine solche Aufgabe hoffnungslos.

Es folgt „Das Ergebnis" (202-205): „Die Marktishypothesc
ist falsch - falsch nach Anlage, Durchführung und Ergebnis".
Das kann man die erste Hauptthesc St.s nennen.

Dabei ensteht aber eine neue Frage: „Wie konnte es zur
Entstehung der Markushypothese und zu ihrem Siegeszug im
vorigen Jahrhundert kommen?" (205).

Dies Problem wird unter der Rubrik „Die ideologischen
Hintergründe der Markushypothesc" (206-214) behandelt.

Programmatisch heißt es i „die Lösung des Rätsels heißt David Friedrich Strauss'
(206). Strauss hatte die Griesbachsche Hypothese zu Grunde gelegt Um Strauss
zu bekämpfen, mußte man Griesbach angreifen. Der erste Angriff kam zwar
von einem Philologen, Carl Lachmann (1835), aber Wilke und Weisse haben
sofort zugestimmt und die Kritik gegen Griesbach ausgenutzt in ihrem Kampf
gegen Strauss. Gegen seine Mythenthcoric galt es, die geschichtliche Zuverläs-