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Ausgabe:

1981

Spalte:

72-74

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Harbsmeier, Götz

Titel/Untertitel:

Anstoesse 1981

Rezensent:

Theurich, Henning

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 2

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5. Was die deutcropaulinischen Pastoralbriefe angeht so ist
sicher nicht zu bestreiten, daß sie eine futurische Eschatologie
repräsentieren. Die vom Vf. nicht genannten Stellen Tit 2,13 und
3,7 können dies zusätzlich belegen. Freilich ist die Aussage, daß
„in den letzten Tagen" schwere Zeiten anbrechen werden (2Tim
3,1), selbst wenn man sie mit dem Vf. auf die Gegenwartssituation
bezieht (139f), nicht einfach ein Beweis für eine „Naherwartung
" - wie übrigens auch die „Plötzlichkeits "-Aussagen
der synoptischen Überlieferung nicht nur der Nah-, sondern
auch der Fernerwartung Raum lassen -, sondern Ausdruck
eines eschatologischen Selbstbewußtseins, das die Enttäuschung
einer ursprünglichen und unmittelbaren Parusiehoffnung schon
hinter sich hat und dennoch an der dialektischen Spannung
von futurischer und präsentischer Eschatologie festhält. - In
diesem Zusammenhang ist auch das Problem der Pseudepigra-
phie nicht zu bagatellisieren. Wenn ein pseudonymer Autor
auch nicht beabsichtigt, „einem Apostel nachträglich zu einem
literarischen Oeuvre zu verhelfen" (145), so sollte doch schon
die Tatsache der Pseudonymität eines Schriftstückes veranlassen
, nach der Grenze zwischen vergangenheits- und gegenwartsbezogenen
Aussagen zu fragen. Es ist für die hier eingenommene
Position kennzeichnend, daß die These: „Was die
Pseudonymen Briefe des Neuen Testaments zur Enderwartung
(und zu anderen Themen) sagen, will als Aussage des wirklichen
Verfassers und als Forderung an die Gemeinden jener
Zeit angesehen werden" (146) mit einer spannungsvollen Verwendung
von traditionellem Formelgut in Pseudonymen Schriften
nicht rechnet.

6. Wenn der Vf. mit seiner Feststellung, daß „die Entwicklung
zum Frühkatholizismus .. . das Aufhören der Naherwartung zur
Voraussetzung" hat (181), Zustimmung verdient, dann sind für
sämtliche Schriften des Neuen Testaments frühkatholische Elemente
zu konstatieren, da die ursprüngliche Naherwartung
schon im paulinischen Briefkorpus zu bestehen aufgehört hat.
In der Tat sollte nicht bestritten werden, daß das Sich-Ein-
richten der Kirche in der Welt, wie es ein Charakteristikum
des Frühkatholizismus ist, mit dem Nachlassen der Intensität
der futurischen Eschatologie einhergeht und sich hierfür schon
im Neuen Testament zahlreiche Belege anbieten. Andererseits
ist Montanus nicht der einzige, der ein prophetisches Wiederaufflammen
ursprünglicher Parusiehoffnung repräsentiert.
Schon zu Beginn des 2. Jh. prophezeite und datierte der judenchristliche
Sektenstifter Elkesai die Endkatastrophe im Blick
auf eine nahe Zukunft - ein Zeichen, daß die urchristliche
eschatologische Erwartung doch komplexer ist, als der Vf. in
diesem Aufsatz zu erkennen gibt.

Zeigt sich mit dem Gesagten, daß die Lektüre dieses Buches
zu kritischer Besinnung anregt, so soll dieser Bericht mit zwei
grundsätzlichen Bemerkungen abgeschlossen werden:

1. Von Interesse ist, wie der Vf. das Verhältnis zwischen kirchengeschichtlicher
und neutestamentlicher Arbeit definiert:
Der Neutestamentier fragt nach dem historischen Befund, etwa
nach dem tatsächlichen Geschehen beim Prozeß Jesu, wie denn
auch seine Arbeit mit dem historischen Jesus einsetzt. Anders
der Kirchengeschichtler; er begnügt sich mit der Beobachtung,
„daß in den Evangelien eine gradlinige apologetische Entwicklung
festzustellen ist"; „er muß, wie die frühe Christenheit, vom
Text der Evangelien ausgehen, so wie er vorliegt"; „denn die
modernen traditions- und formgeschichtlichen Untersuchungen
der Neuzeit waren den frühen Christen genau so fremd wie
deren historische Überlegungen". Seine Betrachtungsweise
„wird von der Chronologie der neutestamentlichen Schriften
selbst wie von der Kanonsgeschichte bestimmt" (27f.l29) - eine
Verhältnisbestimmung, die das bisher übliche Bemühen des
Kirchenhistorikers um historische Erkenntnis auch auf neute-
stamentlichem Gebiet schlicht negiert. Es mag den Kirchenge-
schichtlern überlassen bleiben, ob bzw. inwiefern sie sich mit
dieser Neufassung ihrer Aufgabe identifizieren. Für den Neu-
testamentler gilt: Gegenstand seiner Arbeit ist das Neue Testament
insgesamt, also gerade das neutestamentliche Schrifttum
als literarischer Text, der nicht nur und nicht einmal primär in
historischer Perspektive ausgelegt werden will. Daß solche Untersuchung
sich sämtlicher zur Verfügung stehender literar-

kritischcr Methoden im weitesten Sinn des Wortes bedienen
muß, ist eine wohl selbstverständliche Prämisse. Auch wenn
ein Wissenschaftler sich auf eine bestimmte, an den Text
herangetragene Fragestellung mit gutem Recht beschränkt,
wird er sich von solcher Voraussetzung und Forderung nicht
dispensieren können.

2. Der besondere Reiz der neutestamentlichen Arbeit des Vf.
liegt in dem entschlossenen Einsatz der Ergebnisse der Textkritik
für die Exegese. Schon im Blick auf die altkirchliche
Exegese ist die Textgeschichte von Gewicht. So exemplifizieren
es die Interpretation von IPetr 5,13 in der Min. 2138 (Babylon
= Rom) oder die Heranziehung der umfangreichen papyrolo-
gischen Bezeugung des „Hirt des Hermas", welche die weitreichende
Bedeutung dieser altkirchlichcn Apokalypse darlegt
(vgl. 69.127). Darüber hinaus fundiert die Textkritik das exegetische
Urteil. Wie sich oben zeigt, wird aus der Sekundarität
der handschriftlichen Zeugen, die eine Fortsetzung zu Mk 16,8
enthalten, die ursprüngliche Integrität des Markusevangeliums
gefolgert. Ähnlich werden die Interpolationshypothese eines
E. Barnikol zu Rom 13,1-7 oder die Vermutung von Fr. Pfister.
die Apostelgeschichte habe ursprünglich mit einem Bericht vom
Martyrium des Paulus geendet, mit dem Hinweis auf das Fehlen
einer handschriftlichen Basis widerlegt (41 A.; 77).
Gleiches gilt für die Integrität des Johannesevangeliums einschließlich
der Partien, die man einem kirchlichen Redaktor
zuzuweisen pflegt (128) - Beobachtungen, die - wie sich zeigte
- im Einzelfall der Gefahr unterliegen, die negative textge-
schichtliche Bezeugung exegetisch zu strapazieren. Dennoch ist
es in jedem Fall lehrreich, das textkritische Urteil des Vf. und
die daraus gezogenen Folgerungen zur Kenntnis zu nehmen.
Daher auch der Dank das letzte Wort haben soll: Die „Neutestamentlichen
Entwürfe" enthalten eine überwältigende Fülle
von Aufgabenstellungen und Interpretationsvorschlägen. Die
Lektüre nicht nur der textkritischen Aufsätze wird für einen
jeden, der sich mit dem Neuen Testament auseinandersetzt,
ein Gewinn sein.

Allgemeines

Harbsmeier, Götz: Anstöße. Theologische Aufsätze aus drei
Jahrzehnten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977. 371 S.
gr. 8° = Göttinger theologische Arbeiten, 7. DM 50,-.

Bei den 19 hier vorgelegten Arbeiten des Göttinger Praktischen
Theologen Götz Harbsmeier (13. 8.1910 - 28. 6.1979) -
gewidmet „Dem Gedenken an Ernst Wolf. Ecclcsia Semper re-
formanda" - handelt es sich um erneut abgedruckte Vorträge
und Aufsätze aus der Zeit nach 1945, die er selbst als „Gelegen-
heitsschriften" bezeichnet. Das ist nicht im beiläufigen, sondern
in einem 'occasionellen' Sinne zu verstehen, wie H. sich in seiner
theologischen Arbeit durch einmalige und so nicht wiederkehrende
Gelegenheiten zum Wort herausfordern ließ (vgl. von
ihm die kleine Studie „Casus und Occasio", in: mobile. Versuch
im Gespräch, H. 2/3, 1965, 38ff). Entsprechend nennt er seine
Arbeiten „theologie-bezogene Praxis", die aus „jeweils gegebener
Veranlassung" Anstöße zur Überprüfung und gegebenenfalls
auch zur Veränderung kirchlicher Praxis geben möchte.

Die behandelten Themen betreffen Kirchenpolitik und politische
Ethik (a), praktisch-theologische Fragen im Umkreis der
Predigt (b), sowie systematische Aspekte einer zwischen Barth
und Bultmann vermittelnden theologischen Position (c). In verantwortlicher
theologischer Zeitgenossenschaft spiegelt sich
hier ein Stück jüngster deutscher Theologie- und Kirchcnge-
schichte.

a) In „Die Verantwortlichkeit der Kirche in der Gegenwart"
(1946) warnt der junge H. mit expressiver Sprache davor, die
Not der Zeit mit der nur scheinbar frommen Parole „Christus
oder Untergang" zu einem blinden kirchlichen Aktivismus zu
nutzen: „Wider die Konjunkturkirche!"(16). Noch 1974 wiederholt
er im Blick auf das Ergebnis der kirchlichen Mcinungs-