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Ausgabe:

1981

Spalte:

911-913

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Deuser, Hermann

Titel/Untertitel:

Dialektische Theologie 1981

Rezensent:

Beintker, Michael

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 12

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zu ergänzen; die Glaubenserklärung der Waldenser des Chisone-Tals
von 1488 (S. 81) ist ohne den späten Widerhall der Taboritenmani-
feste schwer zu würdigen; in der „Lawine von Reportagen", welche
die Verfolgungen des Jahres 1655 in ganz Europa hervorgerufen
haben, sollte neben Miltons Gedicht das Manifest des J. A. Comenius
nicht unerwähnt bleiben, um so weniger, als es die späte Fortwirkung
der „Waldensisch-hussitischen Internationale" (S. 70ff und 143)
noch inmitten des 17. Jh. dokumentiert (vgl. meinen Aufsatz «J. A.
Comenius et lesVaudois», in: BSHPF 116,1970,41-56).

Prag Amedeo Molnär

Systematische Theologie: Allgemeines

Deuser, Hermann: Dialektische Theologie. Studien zu Adornos
Metaphysik und zum Spätwerk Kierkegaards. München: Kaiser;
Mainz: Grünewald 1980. 333 S. 8' = Gesellschaft und Theologie:
Fundamentaltheologische Studien; 1. Kart. DM 39,-.

Mit dieser Monographie - einer 1978 in Tübingen vorgelegten Habilitationsschrift
- führt Hermann Deuser die in seiner Dissertation
(Sören Kierkegaard. Die paradoxe Dialektik des politischen Christen.
München, Mainz 1974) angestellten Untersuchungen weiter. Dem
Leser der Dissertation war bereits aufgefallen, daß Deuser bemerkenswerte
Berührungen zwischen Kierkegaard und Adorno andeutete
. Nunmehr wird der detaillierte Nachweis für diese Berührungen
erbracht und ein expliziter Vergleich zwischen der Existenzdialektik
des späten Kierkegaard und der „negativen Dialektik" Adornos vorgenommen
. Damit hat sich Deuser einem Thema gestellt, dessen
Ausarbeitung bislang als echtes Desiderat gelten mußte. Die Aufgabe
eines konstruktiven Vergleichs zwischen Kierkegaard und Adorno
war wohl infolge der ontologiekritisch motivierten Zurückweisung
der Existenzphilosophie durch Adorno verstellt gewesen, aber sie
wird bereits durch Adornos frühe Arbeit über „Kierkegaard. Konstruktion
des Ästhetischen" herausgefordert. Zudem läßt sich beim
genaueren Studium Adornos sehr gut nachweisen, daß Adornos
Urteil über Kierkegaard ambivalent gehalten ist. Deuser zeigt, daß
Kierkegaard einerseits für Adorno als Gegner gegolten habe, indem er
jenen auf eine Stufe mit der modernen Existenz-Ontologie rückte;
andererseits aber sei Kierkegaard für Adorno „Zeuge des nicht voll zu
integrierenden Subjektmoments" im Angriff gegen Verdinglichung
und Objektivation durch philosophische wie gesellschaftliche
Systembildung (134).

Für den Vergleich konzentriert sich Deuser auf Kierkegaards Tagebücher
in der Zeit von 1848-1855, wobei er sich auch auf die in diesen
Zeitraum fallenden Veröffentlichungen stützt. Dieser das Spätwerk
bildende Ausschnitt aus dem Werk Kierkegaards ist für den
Vergleich mit Adorno wichtig, weil er - abgesehen von der Deuser
ohnehin fraglichen Einreihung Kierkegaards unter die Existenz-Ontologie
- einen wesentlichen Teil der Einwände Adornos gegen Kierkegaard
aus dem Wege räumen hilft und bei aller Verschiedenheit gewichtige
Analogien zwischen beiden Denkentwürfen gewinnen läßt.
So hat Kierkegaard im Spätwerk die Wendung zum „politisch bewußten
Zeitgenossen" vollzogen (34), dessen kirchen- und gesellschaftskritische
Existenzdialektik die Praxisrelation mit Adornos
Kulturkritik gemeinsam habe (vgl. bes. 194 ff). Und der für die Kierkegaard
-Kritik Adornos maßgebliche Einwand „objektloser Innerlichkeit
" lasse sich für Kierkegaards Spätwerk so nicht mehr aufrechterhalten
(136ff).

Dem den Kern des Buches bildenden Teil über die dialektischen
Verhältnisse bei Kierkegaard und Adorno (129-244) schickt Deuser
eine umfangreiche Analyse der biographischen, gesellschaftlichen,
philosophischen und theologischen Determinanten von Kierkegaards
Spätwerk (33ff) und eine ähnlich gehaltene Skizze der Bedingungen

der Metaphysik Adornos voraus (90ff). Es dürfte gelungen sein, auch
solche Leser an die Problemstellung heranzuführen, die nicht so intensiv
mit Kierkegaards und Adornos Denken vertraut sind. Besonders
für Adorno muß ja leider festgestellt werden, daß die gebotene
theologische Erschließung dieses unbequemen Deuters neuzeitlicher
Situation immer noch in den Kinderschuhen steckt. Deusers Untersuchung
leistet für eine solche Erschließung echte Pionierarbeit. Wie
auch immer man sich zu Deusers Adorno-Interpretation stellen
mag, dieses Urteil gilt uneingeschränkt auch für den Hauptteil der
Arbeit, in welchem Gegenüberstellung, Vergleich, Parallelisierung
und Verschränkung Kierkegaardschen und Adornoschen Denkens
erfolgt.

Anhand von fünf für Kierkegaard und Adorno gleichermaßen
wichtigen Themenkreisen arbeitet Deuser das Verhältnis beider heraus
. Es sind dies: (1) die Subjekt-Objekt-Relation, (2) die Problematik
von falscher Vermittlung und gesuchter Unmittelbarkeit, (3) die
Zuordnung von Paradoxdialektik und Nichtidentität, (4) die Theorie-
Praxis-Beziehung und (5) das Ideologieproblem. Einerseits ergibt sich
eine überraschende Nähe, ja Strukturverwandtschaft Kierkegaardscher
und Adornoscher Dialektik: „Die dialektischen Verhältnisse
konstatieren die nicht gelungene Vermittlung von Wahrheit und
Wirklichkeit" (232). Die Strukturverwandtschaft gilt unbeschadet der
Tatsache, daß Kierkegaard diese nicht gelungene Vermittlung
am Nichtvorhandensein des Christentums aufweist, während für
Adorno „Versöhnung und Wahrheit... nur noch an ihren negativen
Kennzeichen überhaupt erkennbar" sind (ebd.). Andererseits aber
gibt es auch völlige Strukturkongruenz zwischen Kierkegaard und
Adorno. Ihr grundsätzlicher Dissens läßt sich - theologisch interpretiert
- an der Frage der Versöhnung orten. Während Kierkegaards
Existenzdialektik auf eine negative Theologie des Opfers hinausläuft
und als „objektive Verzweiflung" (vgl. 233) festgeschrieben scheint,
möchte Adornos Metaphysik wenigstens per negationem die Hoffnung
auf Glück denken, wodurch sie sich als „verkappte Versöhnungslehre
" (235) erweist (vgl. 233.234-244). Aus diesem Dissens erwächst
die von Deuser intendierte „dialektische Theologie", eine
Theologie in der Konstellation gegenseitiger Kritik und Korrektur
Kierkegaardscher und Adornoscher Intentionen bei vorausgesetzter
Strukturverwandtschaft: „Dialektische Theologie muß beides kritisieren
und zusammendenken: den Verfallszirkel der negativen Dialektik
, deren notwendiges Transzendenzmoment der sich verbergenden
Versöhnungslehre in den Immanenzbestimmungen unsagbar
wird; wie die existenzopfernde Christologie Kierkegaards, der oftmals
nur das Zerbrechen der menschlichen Existenz im Mißlingen der
Versöhnung der Beweis für ihre festgehaltene Transzendenz zu sein
scheint" (236).

Über den sehr instruktiven Vergleich von Kierkegaard und Adorno
hinaus tritt Deusers Buch mit einem weitreichenden theologischen
Anspruch auf. Wie der Titel schon erkennen läßt, möchte er in einem
weiteren Denkschritt das Programm einer „dialektischen Theologie"
im Kontext Kierkegaardschen und Adornoschen Denkens entwerfen.
Denn deren Ausgangserfahrungen haben als „die maßgebenden Fragestellungen
der Gegenwart" zu gelten (252) und scheinen für Deuser
die einzige Möglichkeit einer Christologie des Gekreuzigten zu bieten
, in der das Leid nicht voreilig und gegen die Erfahrung in Versöhnung
hinein aufgelöst wird (vgl. 282 ff). So gewinnen die korrelativ
aufeinander bezogenen Dialektiken Kierkegaards und Adornos normative
Geltung für die Art theologischer Theoriebildung, werden
gleichsam zum Artikulationsraster, nach dem der Duktus theologischen
Denkens verlaufen soll. Die abschließende knappe Skizze zu
den Themen „Servum arbitrium", „Simul iustus et peccator", zum
christologischen „Finitum non capax infiniti" und zur „Selbstkonstitution
Gottes" (252-295) spannt diese sehr beziehungsreichen Fragestellungen
in den Rahmen Kierkegaard-Adornoscher Dialektik. Die
notwendige theologische Überprüfung dieser Dialektik fällt dabei
ebenso aus wie eine hinreichende Klärung der diesen Themen bereits
von der Tradition her innewohnenden Dialektik. Vielmehr wird zu-