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Ausgabe:

1981

Spalte:

901-905

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Moretto, Giovanni

Titel/Untertitel:

Etica e storia in Schleiermacher 1981

Rezensent:

Bianco, Bruno

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Seite 1, Seite 2, Seite 3

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 12

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neue Verehelichung denkt, spielt das Tagebuch eine wichtige Rolle:
er gibt es Helena Flattich, der zunächst erwählten Kandidatin, zu
lesen, verlangt aber von dieser Einsicht in deren Tagebuch. Diese verweigert
es, gesteht aber dabei, daß sie den Vikar mehr liebe als ihn
(382). Die rückhaltlose Offenheit, mit der Hahn das Tagebuch führt,
obwohl er es eben nicht nur als Selbstbespiegelung oder Selbstkontrolle
anzusehen scheint, ist beeindruckend.

Die Eintragungen in den ersten Jahren sind intensiver und länger -
hier werden öfters die Hauptgedanken von Predigten und Schriften
dargestellt. Der Wert des Tagebuches liegt aber auch darin, daß die
vielen Tage notiert werden, an denen nichts oder nicht viel geschieht:
23. November 1773: „Gerechnet". Charakteristisch: S.Oktober
1775: „Sonnenuhren, Kranckenbesuch. Nachts Stund, Weiber."
Nur an etwa einer Handvoll Tagen umfassen die Eintragungen 2-3
Druckseiten. Die rückhaltlose und teilweise auch selbstgerechte Art,
in der er über seine Ehe urteilt, hat dazu geführt, daß einzelne Seiten
wohl schon bald nach seinem Tod entfernt worden sind (38; hier steht
in Z.15 v.o. eine falsche Jahreszahl: 1775 muß in 1776 korrigiert
werden). Schwer wiegt der Verlust einiger Tagebücher als Ganzes:
vor 1772 ein Band, 1778-83, 1785-87 und 1789/90 (36). Die Herausgabe
der Echterdinger Tagebücher 1783-89 ist geplant. Da es bisher
wegen der schlechten Handschrift nur auszugsweise Wiedergaben
gegeben hat, ist die vollständige textkritische Ausgabe eine wichtige
und sehr zu begrüßende Tat.

Die Herausgabe ist aber auch darin zu loben, daß hier ein vorbildliches
Maß an Kommentierung und Erschließung gefunden worden
ist. Die über 1000 Anmerkungen beziehen sich auf schwäbische Dialekterklärungen
, Literatur- und Zitatverifizierung, Verweise innerhalb
des Tagebuches, kurze sachliche Erklärungen theologischer,
naturwissenschaftlicher und ähnlicher Sachverhalte sowie syntaktische
Unklarheiten. Die Angaben zu Personen und Orten sind in das
Register verwiesen. Die Trennung von Orts- und Personenregister
hätte angesichts des Umfanges (26 Seiten) vielleicht die Benutzung erleichtert
. Im Bibelstellenverzeichnis hätte man unschwer zwischen
mitunter längeren Auslegungsabschnitten und bloßen Erwähnungen
unterscheiden können. Verdienstvoll ist auch ein Sachregister. Die
Herausgeber wollten hier nur „exemplarisch" vorgehen (40). Das ist
schade, denn es stecken sehr viel mehr theologische Erkenntnisse in
den Tagebüchern, als durch das Register erschließbar sind. So fehlen
Stichworte wie Gewissen, Gemeinschaft, Gemeinde, Kirche, Hölle,
Gericht Gottes, Vergebung, Weisheit, Wort Gottes, zu denen es
durchaus Lesenswertes gibt. Bei Gebet und Sünde gibt es wesentlich
mehr Stellen als angegeben. So wird die in der Einleitung (14) erwähnte
Tatsache, Hahn habe zeitweise nicht gebetet, über das Register
nicht entdeckt. Gemeint ist wohl 393: „Seit etlichen Tagen fieng
ich an wieder zu betten. Ich finde, das Jesus nur alsdann gebettet hat,
wann ihm die Gegenwart Gottes und der Eindruck von Gott schwach
werden wolle." Eine für die Theologie Hahns sehr charakteristische
Bemerkung!

Potsdam Peter Schicketanz

Moretto, Giovanni: Etica e storia in Schleiermacher. Napoli: Biblio-
polis 1979. 562 S. 8' = Istituto Italiäna per gli Studi Filosofici. Serie
Studi: II. L. 25 000.

Ein Zeugnis für die Lebhaftigkeit der jüngsten italienischen
Schleiermacher-Forschung ist dieser bedeutende Beitrag, der würdevoll
an die Seite der hermeneutischen Studien von G. Vattimo, von F.
Bianco und anderer Forscher tritt, denen es um die Unterstreichung
der engen Verbindung zwischen der S.schen Philosophie und geschichtlichem
Denken geht. Moretto, der der Aktualität S.s bereits
einen tiefschürfenden Aufsatz gewidmet hatte (L'attualitä di Schleiermacher
. »Cultura e scuola«, Nr. 59, 1976, S. 103-132), geht in dieser
umfassenden Schrift der Beziehung zwischen Ethik und Geschichte
im Denkweg Schleiermachers nach, wobei er in dieser Verflechtung
die echte Substanz der S.schen Betrachtung gewahrt. Als
Meister und Bahnbrecher des ethischen Historismus in der großen
Linie der deutschen Tradition von Ranke bis Dilthey, von Troeltsch
bis Meinecke, ist S. gleichzeitig - eben kraft seines Individualitätsprinzips
- ein überzeugender Verfechter der transzendent-religiösen
Dimension der Geschichte: in der Konkretheit der Person verkörpert
sich die Beziehung zum Absoluten in der verantwortlichen, ge-
schichtserzeugenden Entscheidung. Diese Perspektive, die sich gegen
das Vorurteil der Romantik und des-19. Jahrhunderts, nach dem S.
„ein unhistorischer Kopf war, aber auch gegen die kritische Position
der dialektischen Theologie wendet (vgl. die Einleitung, S. 11-48), ist
in der Forschung Morettos allerdings nicht zu einem vorgefaßten
Schema erstarrt: getragen von einer imposanten historiographischen
Dokumentation und von einer an den letzten S.-Forschungsbeiträgen
ausgerichteten Diskussion entsteht sie sozusagen aus einem Abhören
der Texte: somit zeigt sie eine hermeneutische Fertigkeit, die
zweifelsohne aus einer gründlichen Kenntnis und einer sympathetischen
Haltung gegenüber dem großen Denker erwachsen ist.

Diese Vorzüge, die Morettos Deutung Überzeugungskraft verleihen
und ihr in jedem Falle eine hohe Stellung in der gegenwärtigen
S.-Forschung sichern, können freilich nur durch eine analytische
Lektüre des Werks erkannt werden. Hier müssen wir uns darauf beschränken
, einen kurzen Überblick über seine wesentlichen Punkte
zu geben.

Der erste Abschnitt («L'impronta della mia storia», S. 49-156)
folgt der Entwicklung des jungen S. bis hin zu seinem Eintritt in den
Berliner Kreis der Frühromantik. Aus der Gesamtheit der ersten Dokumente
(S. 51-63) erwächst das Bild eines jungen Mannes, der in
der Auseinandersetzung mit dem Plexus Tod-Religion-Jugend die
Unruhen seiner Zweifel überwindet und sich der Jugend nicht als
einem „Geschenk der Natur" anvertraut, „sondern als einer Eroberung
der Freiheit", für die „der Geschichtssinn außerordentlich notwendig
ist". Aber wenn aus der Autobiographie und aus den Briefen
deutlich S.s frühes Interesse für die Geschichte hervorgeht, so erscheint
der Beitrag der verschiedenen von ihm durchlaufenen Phasen
zu seiner historischen Bildung weniger klar. Zu Recht befaßt sich der
Autor daher (S. 63-111) eingehend mit der Bedeutung der pietistischen
Erziehung in der Herrnhuter Brüdergemeine für die S.sche Geschichtsauffassung
, womit er zugleich die „außerordentlich komplexe
" Beziehung des Pietismus im allgemeinen zur Geschichte
untersucht.

Pietist ische Elemente von nachhaltigem Einfluß auf die S.sche Geschichtsauffassung
sieht Moretto: (1) in der Idee der geistigen Individualität
; (2) in der Idee von der Entfaltung der Geschichte durch das
dialektische Verhalten der ecclesiolae gegenüber den amtlichen Kirchen
und gegenüber der Weltlichkeit; (3) im johanneischen Urbild
des Christus-Jünger-Verhältnisses, das im Kontext der als Schema
eines hermeneutisch-mystischen Verständnisses des anderen und der
Vergangenheit gedeuteten Freundschaft pietistisch neuformuliert
wird. Dieses pietistische Erbe wird - in den Krisenjahren nach dem
Austritt aus der Herrnhuter Gemeinde - nicht unterbrochen, sondern
lediglich ergänzt durch Erfahrungen, welche die Vertiefung der histo-
ristischen Berufung S.s auf dem Boden eines Ethos markieren, das in
der Situation des konkreten Individuums, in der Synthese von Körperlichkeit
und Geistigkeit, wurzelt (S. 111-156). In diesem Sinne
deutet Moretto den Einfluß der aufklärerischen Kritik, das Studium
von Kant, Jacobi, Spinoza, sowie die untergründige Beziehung zu
Herder und das Interesse für die Entwicklung der Französischen
Revolution. Ebenso über Spinoza, Jacobi, Herder - unterstreicht der
Autor scharfsinnig (S. 121)- mußte die johanneische Christologie S.s
nach der Ablehnung der paulinisch-lutherischen Satisfaktionslehre
hinführen zu Zinzendorf in der reiferen Anschauung des Christentums
der Reden und der Glaubenslehre.

Den Reden ist so der zweite Abschnitt gewidmet («Religione e storia
», S. 157-243), der bezeichnenderweise bereits im Titel das Verhältnis
zwischen Religion und Geschichte in einem Werk zum