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Ausgabe:

1981

Spalte:

878-881

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gunneweg, Antonius H. J.

Titel/Untertitel:

Vom Verstehen des Alten Testaments 1981

Rezensent:

Wagner, Siegfried

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 12

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(55-84) und ,die Sühne' (85-106). Gewiß, all die genannten Aufsätze
umgreifen über das Alte Testament hinaus auch die neutestament-
lichen Sachverhalte, in denen das verhandelte alttestamentliche Phänomen
fast immer als die notwendige und folgerichtige Vertiefung,
Eigentlichkeit und Zielankunft dargestellt wird. Um solchen Deduktionen
zustimmen zu können, wird man sich auf die H. Gese eigene
bemerkenswerte Logik einlassen müssen, wozu man nicht immer und
auch nicht sogleich bereit ist. Andere Themen nehmen dann den Einsatzpunkt
im Neuen Testament, um die Linie bis in das Alte Testament
zurückverfolgen zu können. Aber auch diese Verfahrensweise
dient letztlich dem Aufweis von Einheit und Ganzheit biblischer
Grundwahrheiten durch die beiden Testamente hindurch. Hier sind
folgende Aufsätze zu nennen: ,Die Herkunft des Herrenmahls'
(107-127), ,Der Messias' (128-151), ,Der Johannesprolog' (152-201).
Den Sammelband schließt die Abhandlung zur .Frage des Weltbildes'
(202-222) ab. Der Vf. versteht sie als einen Beitrag zur biblischen
Hermeneutik. H. Gese weiß darum, daß er seinen Weg zwischen den
Fundamentalisten und den Allzukritischen hindurch zu gehen hat. In
dem Beitrag über das biblische Schriftverständnis meint er: „Die besonders
kritisch zu sein vorgeben, sehen unkritisch nicht die tausendfältigen
Verflechtungen von allem mit allem in dem Organon des biblischen
Zeugnisses. Und die besonders .gläubig' vorzugehen meinen,
stehen in Gefahr, nicht mehr die Tiefe des biblischen Glaubens und
Erkennens zu sehen, die die Welt der ,Fakten' transzendiert. Wir
müssen uns hüten, auf die eine oder die andere Weise das biblische
Zeugnis verkümmern zu lassen. Wir wollen die Fülle und Tiefe der
Bibel bewahren, wir wollen offen sein für die Ganzheit und das Geheimnis
der Schrift" (29f). In diesen Sätzen sind schon zentrale Begriffe
des Autors zu entdecken, die immer wieder begegnen und die zu
dem Instrumentarium heuristischer Leitbegriffe zu gehören scheinen,
mit welchem der Autor die Schrift betrachtet. Traditionsgeschichte
deckt solche wundersamen Zusammenhänge auf, aber man fragt sich,
ob dieser Begriff noch in seinem herkömmlichen Verständnis gebraucht
ist. Brüche, Risse, Widersprüche haben offensichtlich keine
irritierende Bedeutung. Wenn sie erkannt sind, werden sie in eine höhere
Einheit eingeordnet, denn die .Schrift' stellt letztlich eine .strenge
Auswahl' dar, „die nur das bestehen läßt, was das Leben unter der
Offenbarung getragen hat". Diese Auswahl „ermöglicht allein ein
Ganzes; erst hierdurch kann die Ganzheit eine Gestalt gewinnen"
(19). In dieser Traditionsgeschichte erblickt der Vf. einen beständigen
Prozeß der Vertiefung, der Entfaltung, Erweiterung und Erhöhung,
aber auch der Transformation, wie er es anhand der biblischen Mes-
sianologie aufzuzeigen versucht, bis in Jesus die Summe der Heilsoffenbarung
Gottes (d. h. alles, davidisch-messianische Tradition,
mosaisch-prophetische, priesterliche und königliche Überlieferungsstränge
, die Menschensohntradition) zusammengefaßt und abgeschlossen
vorhanden ist. Alles, „was im JHWH-Namen Israel sich eröffnete
, erschien im Kvpio<; Jesus" (151). Immer wieder begegnen
apodiktische Schlußfolgerungen, über die man nachdenken muß,
ohne daß sie sich sofort erschließen. Als Beispiel mag folgender Passus
stehen: „Die Menschensohnüberlieferung ist eine Transformation
des davidischen Messianismus. Sie steht nicht neben der herkömmlichen
davidischen Messiasauffassung, sondern umgreift sie, indem
sie den königlichen und priesterlichen davidischen Messias mit der
mosaisch-prophetischen Offenbarergestalt verbindet und den allgemein
menschlichen Mittler der Offenbarung Gottes als Offenbarung
an den Menschen erkennt. Das messianische Reich wird aus jeder
vordergründigen, historischen Identität gelöst und ist das apokalyptische
Gottesreich, das unvergänglich ist und das Sein aller Menschen
zum Ziele führt. So ist auch der Messias dieses transzendent verstandenen
Gottesreiches nicht eine bloß historische Erscheinung, sondern
der in die Transzendenz aufgenommene, erhöhte Mensch. Die Men-
schensohnlehre ist damit der notwendige Abschluß der Messianolo-
gie. Sie verdrängt nicht die ältere davidische Auffassung, sondern
erweitert und erhöht sie, daß sie die gesamte Mittlerschaft der göttlichen
Offenbarung an den Menschen umfassen kann; denn das messianische
Gottesreich ist in der Apokalyptik die aus dem eschatolo-
gischen Weltgericht hervorgegangene Summe der Offenbarung des
Gottesheils geworden" (145). Daß mit der Menschensohnlehre notwendigerweise
der Abschluß der Messianologie erreicht wird, ist
wohl doch nur für denjenigen schlüssig, der schon vor der Untersuchung
von Texten ein Gesamtkonzept von Messianologie hat. Oder
welche Überzeugungen von einem festgefügten traditionsgeschichtlichen
Ablauf funktionieren hinter einem solchen Gesamtentwurf?

Eigentlich müßte man darüber froh sein, daß über aller notwendigen
analytischen Arbeit an den Texten, in welcher sich alttestamentliche
Forschung heute weitgehend darstellt, ein Zusammendenken
versucht wird, das die Synthese wieder sichtbar werden läßt. Und
doch wird man dieser Gesamtschau nicht recht froh - woran mag dies
liegen!? H. Gese ist ein hervorragender Alttestamentler. Immer wird
man bei ihm viel lernen können, und seine Aufsätze sind interessant
und unbedingt anregend. Es werden überraschende neue Einsichten
vermittelt. Trotzdem bleibt die Sorge, die Texte dürften letztlich
doch nicht ihre Sache sagen, sondern müßten sich einem zuletzt erschauten
System einfügen, auf das hin sie ausgerichtet sind. Das Unbehagen
hält die Fragestellungen wach, man wird sich weiterhin mit
der Gese'schen Sicht befassen müssen. Und das ist bestimmt nicht der
schlechteste Ausweis für eine Publikation.

Leipzig Siegfried Wagner

Gunneweg, A. H. J.: Vom Verstehen des Alten Testaments. Eine Hermeneutik
. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977. 220 S. gr. 8°
= Grundrisse zum Alten Testament. Das Alte Testament Deutsch.
Ergänzungsreihe, 5. Kart. DM 22,-.

Man wird bei diesem Buch genau auf die in den Vorbemerkungen
erklärte Absicht des Autors achten müssen, um vom Titel her nicht
falschen Erwartungen zu erliegen. Und man wird sich auf die geäußerte
Absicht auch voll einlassen müssen, um die Gedankengänge des
Vf. verstehen und nachvollziehen zu können. Er möchte nicht eine
Hermeneutik im klassischen Sinne bieten, sondern vielmehr ,die verschiedenen
, auch widersprüchlichen Möglichkeiten, das AT als Teil
des christlichen Kanons zu verstehen - oder auch es zu verwerfen -,
darstellen und kritisch würdigen' (7). So sind seine Ausführungen ein
Stück weit eine Geschichte der Hermeneutik des AT. Wer freilich
nun wiederum darin sein historisches Interesse befriedigen möchte,
wird erneut enttäuscht sein, da die Geschichte der Hermeneutik in
Auswahl vorgeführt ist, für die thematische Gesichtspunkte leitend
sind. Verwiesen wird auf die umfassenderen Darlegungen von Ludwig
Diestel (1869), Hans-Joachim Kraus (21969) und Emil G. Kraeling
(1955), denen Gunneweg selber in seinem hier zu besprechenden
Buch (vielleicht manchmal etwas unbesehen) verschiedene Einsichten
verdankt. Die sieben Hauptkapitel geben in ihren Überschriften
die genannte thematische Raffung der historischen und aktuellen her-
meneutischen Sachverhalte wieder. Das [. Kapitel ist das kürzeste
(7-12) und stellt die erwähnten Vorbemerkungen dar, in welchen ,das
Alte Testament als hermeneutisches Problem' und dieses ,als das
Problem christlicher Theologie überhaupt' bewußt gemacht werden
soll, „von dessen Lösung so oder so alle anderen theologischen Fragen
berührt werden" (7). Im IL Kap. ist G. darum bemüht, „das Alte
Testament als Erbe" vorzustellen (13-41), was für ihn präziser und
sachgemäßer bezeichnet ist als durch die übliche Rede von einer
christlichen Rezeption oder Übernahme des Alten Testaments (130-
Dieses Kapitel ist wie alle nachfolgenden stärker untergliedert, wobei
kurz die ungelöste Kanonsfrage, die Haltung Jesu (Geist und Buchstabe
), und der nachösterlichen Gemeinde zum AT (Auseinandersetzung
um das Gesetz) skizziert werden. Die sich ausbreitende heidenchristliche
Kirche mit ihrem Gebrauch des AT wird unter dem Motto
.Bruch mit der jüdischen Vergangenheit' geschildert, während die
Stichwörter .Verheißung, Weissagung, Typos' bzw. ,AUegorese' Me-