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Ausgabe:

1981

Spalte:

850-851

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ludwig, Heinrich

Titel/Untertitel:

Die Kirche im Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung 1981

Rezensent:

Hinz, Erwin

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 11

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tischer Auseinandersetzungen in der Bibel nicht verdrängt, sondern
bewußt wahrnimmt. Sein „Versuch einer materialistischen Lektüre
von Genesis 1 und 2" (97-110) zeigt, daß er mit dem historisch-kritischen
Methodenkomplex bestens vertraut ist und ihn durch Anwendung
sozialgeschichtlicher Kenntnisse grundlegend erweitert. Über
letztere verfügen auch sonst mitteleuropäische Theologen durchaus,
aber in der Auslegung vergessen sie diese doch gern zugunsten von
„Idee" und „Wesen", wenn sie den historisch-kritischen Methoden
durch exegetischen Narzißmus nicht gar die Spitze abbrechen1. Wir
haben es also mit einer im hervorragenden Sinne sozialgeschichtlichen
Auslegung zu tun, wie H. Gollwitzer diesen auch als „konkret
" oder „nichtidealistisch" bezeichneten Ansatz in seinen (vervielfältigten
) „Bemerkungen zur materialistischen Bibellektüre" vom
Herbst 1979 vor der Evangelischen Akademie Berlin (West) am liebsten
benannt haben möchte.2 Keine Spur also von „wilder" Exegese3,
sondern bewußte Aufnahme der Ergebnisse der historisch-kritischen
Forschung zum Zwecke ihrer schöpferischen Weiter-Führung (vgl.
insbesondere 106!). C. macht Ernst damit, das idealistische Erbe in
der Theologie zu sondieren, wie es auch andernorts geschieht4, und er
geht entscheidende Schritte in der Zukunft über die Bestandsaufnahme
hinaus. Das macht ihn so angreifbar.

Als Schlüssel des gesamten Buches hat C. das Kapitel „Familiengeschichten
" deklariert. Hier (132-155) wird als der Ursprung vieler
Einsichten der Mai 1968 mit Händen greifbar, als junge und junggebliebene
Franzosen die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft
in einem - gesellschaftswissenschaftlich als unzureichend gekennzeichneten
- spontanen Aufbruch zu überwinden hofften. Eine evangelische
Kritik an allen „Sackgassen-Familien" (152) und zugleich
schmerzhaft-tröstliche Hilfe für die Öffnung derselben zur Zukunft
im Namen Jesu Christi.

C. steht mitten in der Gemeinde. So wird seine Loyalität gegenüber
der Kirche - mit ihr, möchte man sagen - jederzeit deutlich, und zwar
ohne jede taktische Ranküne. Dadurch wird sein Plädoyer für eine
konflikluelle Praxis verständlich: „Dies ist die einzige Möglichkeit,
eine Gemeinschaft zu erhalten, ohne sie zu sterilisieren oder wirklichkeitsfremd
zu machen. (...) Nur wer die manchmal tragischen Gegensätze
anerkennt und bekennt, kann sich zum Herrn Jesus bekennen
." (1590- Das Aushalten solcher Spannungen könnte der
Kircha nach C. durch volle Bejahung ihrer Geschichtlichkeit in einmaliger
Besonderheit eine neue Glaubwürdigkeit verschaffen. „Damit
würde sie zum Zeichen dafür, daß die Klassenkämpfe, die kurzfristig
nicht relativiert werden können, langfristig keinen Selbstzweck
darstellen, sondern zur Befreiung und zur universellen Versöhnung
führen." (165). In einem Anhang (190-211) deutet C. für sich selbst
mit Texten aus der eigenen ökumenischen Praxis (u. a. im WSCF) an,
wo er Konflikte in der Kirche für notwendig hält.

Dieses Buch lehrt eine Theorie vom Handeln der Kirche und verdiente
einen ersten Platz in den Bibliotheken der Praktischen Theologie
. Es enthält zugleich als Voraussetzung für dieses Handeln einen
gewichtigen Ansatz, die Ur-kunde der Christenheit auszulegen, und
ist damit für den Exegeten interessant, der in seiner Disziplin mehr
als Wissenschaftsgeschichte sieht. Weil C. in sehr gegenwärtiger
Weise Herkunft und Zukunft der Kirche beschreibt, handelt es sich
um ein auch für die Systematische Theologie belangvolles Werk. Wie
nützlich oder nicht nützlich eine solche Einordnung auch immer sein
mag, haben wir es auf jeden Fall mit einem Grundkurs in zeitgenössischer
Theologie zu tun, der uns alle angeht. Eine Tabelle der konstitutiven
Elemente der kirchlichen Institutionen (182) mag einen jeden
Leser sich fragen lassen, wo er selber im Augenblick steht und wohin
ihn sein Weg nach Meinung von C. führen wird. Nicht weniger hilfreich
wären Sachregister, die für eine zweite Auflage empfohlen
werden.

Daß es sich auch um ein Buch handelt, daß von westeuropäischen
Erfahrungen her geschrieben worden ist, mindert seine Herausforderung
für den Leser unserer Bereiche nicht; denn die ökumenischen
Anfragen gelten auch uns in ihrer Totalität. Das Buch wäre mißverstanden
und entschärft, suchte der Leser nur die ihm genehmen Urteile
heraus.

Güstrow Jens Langer

' Vgl. die instruktive Beschreibung der aktuellen Situation der vorherrschenden
Exegese bei F.Hahn, Probleme historischer Kritik, in: ZdZ 31, 1977,
36l-370vund P. Stuhlmacher. Thesen zur Methodologie gegenwärtiger Exegese
, ebd. 371-376.

2 Weitere Literatur hat Rez. zusammengestellt in: Ansätze gegenwärtiger
Theologie. Versuch einer Typologie (III), in Standpunkt 6, 1978, 305
Anm. 57.

5 Vgl. W. Wiefel in: ThLZ 103, 1978 Sp. 581 und 105. 1980 Sp. 43.
4 Z. B. H.-G. Fritzsche, Idealistisches Erbe in der Theologie?, in: ThV X,
1980, 169-183.

Systematische Theologie: Ethik

Ludwig, Heinrich: Die Kirche im Prozeß der gesellschaftlichen Differenzierung
. Perspektiven für eine neue sozialethische Diskussion.
München: Kaiser; Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1976.
205 S. 8' = Gesellschaft und Theologie. Systematische Beiträge, 20.
DM 24,-.

Der Autor, z. Zt. Dozent für Christliche Soziallehre und Religionssoziologie
an der Universität Gießen, promovierte 1976 mit vorliegender
Arbeit zum Dr. theol. Sein Hauptanliegen besteht in dem Versuch
, Probleme des Verhältnisses von Kirche und Gesellschaft auf
der Grundlage der katholischen Naturrechtslehre in Geschichte und
Gegenwart herauszuarbeiten, um sachgemäße und tragfähige Ausgangspositionen
für „ein neues Verständnis von Dogmatik und Ethik
auf dem Hintergrund zeitgenössischer Diskussion über ein neues Verhältnis
von Theorie und Praxis zu gewinnen" (192). Nach Ansicht
des Vf. bildet die Tradition der kirchlichen Naturrechtslehren in der
Kontinuität der Kirchengeschichte den jeweils legitimen Ort einer
theologischen Verhältnisbestimmung von Kirche und Welt. Das göttliche
Recht (ius divinum), wie es in der Heiligen Schrift bezeugt wird,
bleibt die gemeinsame Grundlage aller kirchlichen Naturrechtslehren
, die sich in vielfältiger Weise im Laufe der Geschichte entwickelt
haben. In einem ausführlichen Exkurs geht der Vf. verschiedenen bedeutsamen
Naturrechtslehren nach, untersucht den Einfluß platonischen
und aristotelischen Denkens sowie der Stoa und erklärt unterschiedliche
Interpretationen vom frühen Mittelalter bis zur Neuzeit
im Kontext geschichtlicher Ereignisse. Die Breite unterschiedlicher
Interpretationen ist wesentlich von zwei Voraussetzungen her geprägt
: erstens von dem Beziehungsgefüge lex aeterna, lex naturalis,
lex humana und zweitens zwischen Ordo- und Voluntarismus-Verständnis
in der mittelalterlichen Scholastik. Die von Augustinus
stammende Dreiteilung lex aeterna, lex naturalis, lex humana wird
von Thomas von Aquino systematisch entfaltet und bildet ein wichtiges
Element seiner Ordo-Konzeption. Nach Thomas ist lex aeterna
(ewiges Recht) die in Gott gegründete und von Gott ausgehende Ordnung
des ganzen Kosmos. Lex naturalis (Nalurrecht) hat Anteil an
dieser Ordnung und wird vom Menschen als rationalem Wesen erkannt
, weil die Vernunft des Menschen in aller Gebrochenheit ein
Abbild der göttlichen höchsten Vernunft (summa ratio) ist. Lex humana
(menschliches Recht) bedeutet die vor Gott verantwortliche
Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen zum Wohle des
Menschen, denn Gott ist das höchste Gut (summum bonum), und die
Menschen haben für das Gute in dieser Welt zu wirken. Die jeweilige
Akzentsetzung innerhalb des Beziehungsgefüges von lex aeterna, lex
naturalis und lex humana eröffnet einen Spielraum von Interpretationsmöglichkeiten
. - In dem oben genannten Spannungsmoment
zwischen Ordo- und Voluntarismus-Verständnis geht es um zwei
grundlegend verschiedene Sichtweisen: ob Naturrecht letztlich im