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Ausgabe:

1981

Spalte:

817-819

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lindemann, Andreas

Titel/Untertitel:

Paulus im aeltesten Christentum 1981

Rezensent:

Wanke, Joachim

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 11

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(S. 143fT.149fT), in 1,19-34 (S. 288015fT), in 3,1-10 (S. 327fl) sowie
überhaupt in der johanneischen Christologie (S. 266 ff) und Eschato-
logie(S. 346 ff).

So faszinierend dieses Gesamtbild ist und wie beachtenswert es
auch ist, daß in ähnlicher Richtung gegenwärtig ein wachsender Konsens
in verschiedenen Ländern im Entstehen begriffen ist und zu ähnlichen
Ergebnissen und Rekonstruktionen führt, - so muß der Rez.
doch gestehen, daß er darin nichts anderes als einen horrenden Irrweg
der Johannes-Forschung zu erkennen vermag, in dem sehr viel überscharfsichtige
Willkür im Spiel ist. Die Rekonstruktion einer Geschichte
des johanneischen Christentums, in der eine Gruppe die andere
befehdet und die nächste wiederum jene, ersetzt die Aufgabe der
Exegese: dem vorgegebenen Text zu folgen, der sehr wohl eine einheitliche
Konzeption enthält. Diese ist aber nur zu begreifen, wenn
man ihre Spannungsmomente nicht auf verschiedene „Theologien"
verteilt und durch solche Dissoziierung auflöst, sondern wenn man
sich als Exeget dieses großartigen „geistlichen Evangeliums" der Anstrengung
unterzieht, einem theologischen Denken zu folgen, das
seine ,Sache' nicht anders denn in ständigem Aufeinanderbeziehen
von gegensätzlichen Aspekten zu begreifen vermag. Nicht der, der in
diesem Sinne für die Einheitlichkeit des Johannesevangeliums votiert
, macht es sich zu einfach, sondern viel eher der, in dessen komplizierter
historischer Rekonstruktion sich eine interpretatorische
Resignation gegenüber dem ungeheuren Anspruch des Textes selbst
verbirgt. Freilich, in der überall spürbaren Leidenschaft Richters,
dem 4. Evangelium in seiner Rätselhaftigkeit auf die Spur zu kommen
, und in dem freien Mut, mit dem er immer wieder die spannungsvollen
Ergebnisse seiner historischen Rekonstruktion in unsere
kirchliche Gegenwart hinein verlängert und entsprechende Spannungen
heute auszuhalten aufruft, wirkt auf gleichsam unterirdische
Weise sehr wohl echter johanneischer Geist.

Lübeck Ulrich Wilckens

Lindemann, Andreas: Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des
Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der
frühchristlichen Literatur bis Marcion. Tübingen: Mohr 1979. X,
449 S. gr. 8' = Beiträge zur historischen Theologie 58. Lw. DM
148,-.

Die Arbeit, eine aus der Schule Hans Conzelmanns erwachsene
Göttinger Habilitationsschrift, sucht das seit Walter Bauer' häufig
wiederholte Urteil zu widerlegen, Paulus sei im 2. Jh. von den Gno-
stikern als Kronzeuge ihrer Theologie okkupiert worden und daher
für die „orthodoxe" Kirche verdächtig geworden. Dem stellt der Vf.
seine eigene Sicht entgegen: Von einer durch die gnostische Paulus-
Rezeption verursachten „Paulusvergessenheit" der Großkirche kann
nicht die Rede sein. Es gibt eine bis Marcion zu verfolgende kontinuierliche
Paulus-Rezeption, die weder durch die gnostische Inanspruchnahme
des Apostels noch durch Marcions „Mono-Paulinis-
mus" im wesentlichen irritiert wurde. Paulus-Rezeption ist hier freilich
in einem weiten Sinn verstanden. Die frühchristliche Kirche lebt
nicht von Paulus allein und schon lange nicht von einem reformatorisch
verstandenen Paulus, doch gelten die pl Briefe als fester Bestandteil
der Tradition und die pl Autorität ist nirgends (ausgenommen
den Jakobusbrief und das Judenchristentum) grundsätzlich angefochten
.

Mit der Hauptthese sind zwei weitere Urteile eng verbunden. Zum
einen gilt es nach L„ mit der wissenschaftlichen Legende Schluß zu
machen, Paulus sei der „Apostel der Häretiker" gewesen. Dieses
Wort Tertullians sei aus seinem Kontext heraus „ironisch und polemisch
gemeint und stellt alles andere als ein theologisches oder kirchengeschichtliches
Urteil über Paulus dar" (394). Zum anderen sei
es verfehlt zu meinen, die antimarcionitische Kirche sei durch die
„Engführung" des marcionitischen Kanons auf (Lukas und) Paulus in
eine Verlegenheit gegenüber Paulus als „ihrem" Apostel gekommen.

Weder sei Paulus durch Marcion neu entdeckt worden, noch hätte die
„Orthodoxie" nach Marcion eine Ehrenrettung des Apostels versuchen
müssen. (Der Vf. ordnet die Pastoralbriefe der vormarcioniti-
schen Zeit zu „als Zeugnis römischer Paulusrezeption neben dem
vielleicht etwas früher entstandenen 1 Clem", 149).

Dem Nachweis dieser Sicht dient eine sorgfältige Durchmusterung
aller Berührungen der frühchristlichen Literatur bis Marcion mit pl
Gedankengut. Die Untersuchung erhält so den Charakter eines Kompendiums
in Sachen „Paulus-Anspielungen" in der frühen Kirche
(durch ein Begriffs- und Stellenregister zusätzlich erschlossen). Angesichts
des häufigen negativen Befundes hinsichtlich der Aufnahme pl
Theologie ist die fortlaufende Lektüre freilich ein wenig mühsam.
Der Vf. fragt zunächst (36-113) nach dem Paulusbild dieser Epoche.
Er analysiert jene Schriften, in denen ein solches mehr oder weniger
erkennbar ist: Kol, Eph, 2Thess, Past, Apg, Acta Pauli, lClem, Ign,
Polyk, 2Petr, Epist. Apost, ferner gnostische Schriften und Quellen
des antipl Judenchristentums. Ergebnis: Paulus wird zwar nicht primär
als Theologe gesehen, doch gilt er weithin als „der unermüdliche
Verkünder des Evangeliums und Organisator der Kirche, der eigentliche
Motor der Heidenmission und Gegner aller Häresie" (112).
Dann mustert L. die gleichen Schriften (vermehrt um die Evangelien,
Did, Hebr, Jak, 1 Petr, 2Clem, Barn, Herrn, Papias, Hegesipp, Dio-
gnetbrief, Aristides, Justin, Marcion) auf ihren Gehalt an pl Theologie
durch. Dieser Arbeitsgang umfaßt den Großteil der Untersuchung
(114-395).

Das Verdienst der Aufbereitung dieser immensen Materialfülle, die
durchweg den neuesten einleitungswissenschaftlichen Fragestand der
jeweiligen Schriften berücksichtigt, steht außer Frage. L. sucht seine
Einzelurteile sorgfältig vom Kontext der untersuchten Schriften her
zu gewinnen, in intensivem Gespräch mit der bisherigen Diskussion,
wobei hinsichtlich der Frage, was als Zitat bzw. als Anspielung zu gelten
hat, ein strenger Maßstab angelegt wird (vgl. 170- Manches, was
vorschnell in der Literatur als Übernahme pl Theologie deklariert
wird, erweist sich ja bei näherem Hinsehen als Abhängigkeit vom
theologischen „common sense" der frühen Christenheit. So gelingt es
L., seinen Hauptthesen ein überzeugendes Fundament zu geben.

Besondere Bedeutung kommt der Analyse der gnostischen Paulusrezeption
zu, in die der Vf. auch die bis jetzt edierten Texte aus Nag Hamadi einbezieht
(313-343). Hatte E. H. Pageis, The Gnostic Paul, 1975, noch von einem tiefgreifenden
Einfluß des Paulus auf die Entwicklung der gnostischen Theologie
gesprochen, kann L. feststellen: „Eine explizite Auseinandersetzung mit pauli-
nischer Theologie und Tradition ist bei den Gnostikern äußerst selten zu erkennen
" (311). Und: „Für ein Interesse der Gnostiker speziell an paulinischen
Texten gibt es im Grunde kein Indiz" (ebd.). Das bestätigt sich im Blick auf die
Texte aus Nag Hamadi, bei denen nur der Brief an Rheginus wohl aufgrund seiner
Auferstehungsthematik stärkere Anlehnung an pl Denken (näherhin 1 Kor
15) erkennen läßt. Doch im übrigen gilt: „Die Gnostiker sahen offenbar überhaupt
keine spezifische Affinität zwischen ihrem eigenen Denken und der
Theologie des Paulus" (342). In der Tat dürfte es wahrscheinlicher sein, daß die
Gnostiker eher in Paulus ihr eigenes Denken eintrugen, als daß dieses - zumal
vorchristliche Wurzeln der Gnosis wahrscheinlich sind - sich an Paulus erst
entzündete. Einleuchtend ist vor allem der Hinweis, daß es bei den Gnostikern
zu keinem (etwa den Past vergleichbaren) exklusiven Paulinismus kommt. Hier
werden ohne Zweifel noch die Gnosisfachleute ihr Urteil abgeben müssen,
doch ist abzusehen, daß die von L. vorgenommene Korrektur des gnostischen
Paulusbildes nicht ohne Rückwirkung auf die Paulusexegese bleiben wird.

Auf eine grundlegende Schwierigkeit der Untersuchung macht der
Vf. selbst mehrfach aufmerksam: Die Bestimmung des pl Einflusses
auf die nachpl Theologie ist weithin vom Paulusverständnis der modernen
Forscher abhängig, vgl. nur die kontroversen Urteile in dieser
Frage über Ignatius, Polykarp oder Justin. Hier etwa mit der Elle reformatorischer
Paulusexegese Benotungen vornehmen zu wollen,
weist L. mit Recht als unangemessen zurück. Sicherlich ist für die
Autoren der betreffenden Zeit der Apostel die Rechtfertigungsbotschaft
nicht das Zentrum ihres Denkens, doch sollte die Tatsache der
Bewahrung der pl Briefe (und doch wohl auch ihrer fortdauernden
Auslegung?) stärker berücksichtigt werden,2 auch wenn die Radikalität
und Tiefe der pl Theologie nicht immer ganz erfaßt wurde. Auch