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1981

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 10

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rible lazaret romantique» (126) eröffnet, um jeder Mystifizierung der
Epilepsie Dostoevskij's eine überzeugende und geistreiche Absage zu
erteilen. Dasselbe gilt für das Thema „Geld", dessen Relevanz auf der
poetischen und philosophischen Ebene des Gesamtwerkes (Geld als
«ordalie moderne») nachgegangen wird. Nachdem so die «formes
embryonnaires de la creativite» zur Darstellung gekommen sind,
wendet sich C. im II. Teil dem «Processus de la creation» (225-421)
zu. Die vollauf gelungene Absicht ist, Dostoevskij als «le formidable
pouvoir assimilateur, syncretique et - qu'on nous passe le terme -
phagocytaire» (123), als die «puissance metamorphosante» (117), als
nicht nur den «lecteur», sondern vor allem als «liseur» einer ebenso
abundanten wie sehr unterschiedlichen Lektüre glaubhaft zu machen.
Sie reicht von den «faits divers» („Vermischtes") in den Tageszeitungen
bis zu den «images migrantes» der hohen Literatur (mit dem
deutschen Begriff „Dichtung" wird man C.s Absichten nur annäherungsweise
gerecht), den «heros litteraires» und den «heros
historiques», zu denen nach C. die Heiligen ebenso gehören wie die
Sozialutopisten. Das Strukturgefüge, in dem sich die «transmigra-
tion» der «images migrantes» zu «images-symboles» vollzieht, ist der
Dialog, die «interrogation creatrice», nicht zuletzt auch deshalb, weil
Dostoevskij «le plus desireux d'etablir le contact avec l'Autre, et, par
lä-meme, Tun des plus sürs de son empire sur le lecteur» (273). Nachdem
C. an der „Vita eines großen Sünders" das Dilemma zwischen
der monologistisch orientierten Hagiographie und der Simultaneität
der in der «interrogation creatrice» begründeten Freiheit des Helden
aufgezeigt hat (ein überaus interessantes Kap.!). formuliert er die Aufgabe
, vor die sich Dostoevskij gestellt sah: «. . . inventer un espace,
structure naturelle de la liberte, qui ne soit pas concret et un temps
qui ne mutile pas cette liberte» (331), womit die Auseinandersetzung
mit Bachtin präludiert wird. Der Aufbau einer «structure spatio-
temporelle», in der sich ein Dialog vollziehen kann, exemplifiziert
Vf. an einer Reihe exzellenter Analysen des „Jünglings", dessen
«image-symbol» ihm zugleich als Chiffre für die Schlüsselgestalten
der großen Romane dient. Ist dem Dichter als «liseur» ein freies Spiel
der (oben erwähnten) «images migrantes» gelungen, das zu seiner
eigentlichen Leistung, der «surcomposition de la realite», führte,
dann muß dem in der Dialogstruktur die Integrität sowohl der
«liberte du heros» wie der «Ii berte du romancier» entsprechen.
Damit beginnt die vom Leser bereits erwartete Diskussion mit Bachtin
, die Teil 111 «Le temps et l'espace dans l'auvre romanesque»
(425-561) bestimmt. Zwar befindet sich Vf. in einer Reihe von Problemlösungen
d'accord mit dem sowjetischen Forscher. Der Hauptstoß
seiner Kritik richtet sich (wie vor kurzem, wenn auch von anderen
Voraussetzungen ausgehend, die D. S. Lichacevs) aber dagegen,
daß «Le temps, dans la logique rigoreuse de Bachtin, serait donc
deprecie au profit de l'espace» (433)2. C. widerlegt B. mit einer minutiösen
Durch- und Aufrechnung der Zeit im „Idioten", um
Dostoevskij als «maitre des heures» zu erweisen. Aber er setzt ihm
auch eine eigene Konzeption entgegen. Ist für Bachtin das Bezugsmodell
der Logos, so für C, wenn ich richtig sehe, das Melos. Er geht
über V. Ivanov, Grossman, Komarovic, Bachtin u. a. weit hinaus,
wenn er die «creation litteraire» Dostoevskij's mit den Symphonien
Mahlers vergleicht, nicht mit dem Polyphonismus, sondern mit dem
«multivocalisme comme dans la cantate ou l'oratorio, la richesse de
l'instrumentation,... le jeu des dissonances et des oppositions ...»
Und: «Toute l'äme humaine y est orchestree avec la partition de
l'univers» (564). Und schließlich: «Les romans de l'ecrivain russe
sont d'authentiques oeuvres orchestrales qui remodelent le temps en
privilegiant sa puissance» (ebendort). In dieses stets variabel bleibende
System der «structure spatio-temporelle» kann die «Orche-
stration expressionniste du decor et de l'eclairage» (495-507), ebenso
eingebaut werden, wie «La semantique des couleurs» (509-523), oder
das Problem der Ewigkeit in «Les hävres d'eternite» (477-488), um
nur diese Komplexe anzudeuten. Es entspricht aber ebenso auch der
offenbaren Dramaturgie der Werke Dostoevskij's, wenn C. an einer
Stelle von der «representation dramaturgique» schreibt, «oü les heros

n'exercent plus leur vision ni leur visee mais oü ils sont vus, montres,
exposes au regrad universel» (559). Als Summe der anregenden,
manchmal aufregenden Lektüre dieses Buches kann vielleicht folgender
Satz festgehalten werden: «L'univers romanesque de Dostoevskij
est ivre d'homme et de vie. Son materiau est l'homme developpe.
decompose et recompose, multiplie, gemine. sonde d'ceuvre en
ceuvre, l'homme en croix, ecartelc selon les lois cruelles des ordalies
modernes. Et surtout. les elements de construction ou de composition
ne jamais empruntes ä l'estethique ornementale mais ä la realite la
plus vivante, la plus concrete. la plus quotidiennement fantastique:
maladie, argent, faits divers, debats de l'heure, vecu de l'ecrivain»
(566).

C. hat Bachtin mit Recht wegen seiner abstrakten «logique rigoreuse
» kritisiert. Aber auch sein eigenes Buch besitzt eine entscheidende
Schwäche. Die grenzenlose, indeterminable «liberte», die er
Dostoevskij glaubt zuschreiben zu können (vgl. 563f u. ö.), entspricht
in keiner Weise den Intentionen des Dichters selbst, wie er sie in den
verschiedenen Aufzeichnungen des Jahres 1864 und in seinem Gesamtwerk
zum Ausdruck gebracht hat.' Dieser sittliche Ko-Aspekt.
wie er auch von Jackson in seiner Ästhetik Dostoevskij's herausgearbeitet
wurde,4 kommt bei C. entschieden zu kurz weg. Was C.
Bachtin vorwirft, trifft auf seine eigene Theorie zu: sie «a ses limiles
et ne constitue pas une theorie totalement explicative» (432), - falls
C. auf eine solche Theorie überhaupt Wert legt.

Halle (Saale) Konrad Onasch

1 Das Werk erreichte uns erst nach Abschluß meines Manuskriptes zum
Aufsatz inderThLZ 105, 1980 Sp. 801-816). Es entspricht aber auf der anderen
Seite der Bedeutung dieses Buches, wenn es eine eigene Rezension erhält.

2 «Encore une fois. nous partageons nombre des conclusions. . . Mais les
premisses sont trop absolues et sa theorie n'est vraie quo comme instrument.
Bahtin est arrive dans le roman comme le spectaleur au theätre, et plus grave,
au moment oü les acteurs improvisent ä la Pirandcllo. II a cru ä l'illusion
romanesque et l'a theorisce. Mais il n'a pas assiste aux repetilions, il n'a pas lu
le journal technique de l'auteur - une bonnc partie de ses carnets - s'intcrro-
gcant sur la composition, l'architccturc humaine. doutanl, hesitant. il n'a pas
partieipe aux experiences brutales des gestes ultimes, il n'a pas voulu voir le
dramaturge ecrivant sa piece avec ses personnages ou se glissant parfois dans
l'ombre du chroniqueur pour sc faire hagiographe. Bahtin a choisi le roman
adultc, il a dedaigne sa naissance ...»(427). Gewiß, Bachtin «se retüse ä Camper
sur les hauteurs metaphysiques. II ramene l'intuition sur le plan formel et
decouvre non plus un principe moral et religieux» (431). Das zweite mag
bedauert werden, das erste hat B. aul jeden Fall davor bewahrt, in Dostoevskij
einen despotischen «maitre des vies» zu sehen, der mit entsetzlicher Grausamkeit
(cruaute) mit den Figuren seiner Dichtung umgeht (vgl. 428).

1 Vgl. Onasch. Der verschwiegene Christus____S. 97 (78-99)

' R. L. Jackson. Dostoevsky's Quest föf Form A study of his philosophy of
art. New Häven and London 1966 (2. Aufl. Pitlsburgh. Pennsylvania 1978).

Blankenburg. Walter: 50 Jahre „Musik und Kirche" - Rückschau

und Ausblick (MuK 50, 1980 S. 285-295).
Debuyst, Frederic: Einige Bemerkungen zum Kirchenbau in Belgien

(MuKi 1980 S. 208-210).
Glaser, Gerhard: „Liebe - und man wäre erlöst". Hinführung zu

einem Gedicht von Georg Trakl(GuL 53, 1980 S. 164-171).
Köpcke-Duttler, Arnold: Leo Tolstoi (FS 62, 1980 S. 272-295).
Lüning, Hildegard: Der Prophet, der Politiker wurde. Wirkungen

der Symbolfigur Ernesto Cardenal (LM 19, 1980S. 591-593).
Mertens, Phil: Die Problematik der belgischen Kunst in den sechziger

und siebziger Jahren (MuKi 1980 S. 192-196).
Meuer, Gerd: Verlernen, was uns stumm macht. Afrikas Dichter

sagen, was andere nur flüstern (LM 19, 1980 S. 581-584).
Meyer, Ulrich: Zahlenalphabet bei J. S. Bach? - Zur antikabbalistischen
Tradition im Luthertum (MuK 51, 1981 S. 15-19).
Patterson, David: The Movement of Faith as Revealcd in Tolstoi's

Confession (HThR 71, 1978 S. 227-243).