Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1981

Spalte:

676-677

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Norris, Thomas J.

Titel/Untertitel:

Newman and his theological method 1981

Rezensent:

Bertinetti, Ilse

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

675

Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 9

676

Großmann, Sigrid: Friedrich Christoph Oetingers Gottesvorstellung.

Versuch einer Analyse seiner Theologie. Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht 1979. 321 S. gr. 8' = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus
, 18. LW. DM 70,-.

Die Saarbrücker phil. Diss. verzichtet, gewarnt durch die vorangehende
Oetingerforschung, bewußt darauf, Oetinger in ein vorgeformtes
System einzuordnen, und begnügt sich damit, ein wichtiges
Kapitel seiner Theologie unter Berücksichtigung der verschieden
nuancierten Aussagen Oetingers dazu vorzuführen. Manches wäre
hierbei sicher noch differenzierter und bunter ausgefallen, hätte die
Vfn. die inzwischen in den Quellen zur Geschichte des Pietismus erschienenen
neuen Editionen der „Lehrtafel" und der „Theologia ex
Idea Vitae" benützen können. Das Hauptkapitel über Oetingers Gottesvorstellung
weist dennoch eine klare systematische Gliederung auf,
ein deutliches Indiz dafür, daß Oetinger selbst ein „Systematiker"
war. Die bestimmenden Elemente in Oetingers Denken stammen von
Leibniz samt seinen Schülern Canz und Bilfinger, Malebranche,
Böhme und Bengel. Man hätte ferner noch Newton, Swedenborg,
Zinzendorf, die Kabbala und anderes nennen können. Diese Elemente
sind höchst disparat und nicht alle konventionell. Oetinger
suchte seinen Weg als Theologe teils in kritischer Auseinandersetzung
, teils in der Rezeption von geistigen Strömungen, die ihm bedeutsam
schienen und ständig als Gegenüber präsent waren. Das
macht ihn mindestens zu einem der interessanten Systematiker des
18. Jh., der sich nicht mehr einfach mit der Reproduktion der kirchlichen
Orthodoxie zufrieden geben, sondern die Wirklichkeitserfassung
der damaligen Philosophie und Naturforschung mit einbeziehen
und berücksichtigen wollte. Die Grundlage von Oetingers philosophisch
-theologischem Denken war vorrangig die Bibel, die er mit
Bengel als Einheit und Ganzheit, als heilsgeschichtliche Weltdeutung
auffaßte. Sie hat eine spezifische auf Leiblichkeit und Realität ausgerichtete
Denkweise. Die zweite Erkenntnisquelle ist die Natur, die,
antiidealistisch und antimaterialistisch zugleich, als Schöpfung verstanden
wird. Wichtig ist, daß biblischer Realismus und Naturerkenntnis
nicht auseinanderfallen. In der Erkenntnistheorie unterscheidet
Oetinger zwischen natürlicher und göttlicher Erkenntnis.
Wenn die erste auf die zweite hin offenbleibt, sind ihre Schlüsse legitim
. Beiden übergeordnet ist die ganzheitliche Zentralerkenntnis, die
nicht mehr auf Vorstellung angewiesen ist. Oetinger selbst hat sie
nicht erfahren. Erkenntnis kommt aus Erfahrung oder Empfindung.
Oetinger hat dem sensus communis, der unmittelbar mit den Dingen
selbst umgeht, einen hohen Rang beigemessen als dem Aufnahmeorgan
für die ganzheitliche Weisheit, das ursprünglicher als die Vernunft
ist. Beachtlicherweise behandelt Oetinger die Loci der Theologie
vor der biblischen und thetischen Explikation immer zuerst nach
dem sensus communis. Oetinger begreift Gott als das Leben und beruft
sich dafür sowohl auf die Bibel als auch auf die Erfahrung. Gegen
die Philosophen ist nicht das Sein das erste, sondern Leben und Be-
wegt-sein. Leben aber ist eine Vielfalt von Kräften. Hier schien
Oetinger die Monadologie von Leibniz nicht zu genügen, er zog ihr
Newtons Kräftelehre vor, die er freilich nicht mechanisch verstanden
wissen wollte. Gott in seinem Wesen ist spannungsvoll zugleich actus
purissimus und unbewegliche "Ruhe. Gott eignet Leiblichkeit und
entsprechend macht er sich manifest. Gott ist lauter Sensorium, sieht
alles und ist überall. Durch die Vorstellung von der Verleiblichung
Gottes werden die Dunkelheiten in Böhmes Gottesbild aufgehoben.
Die Herrlichkeit ist die Wohnung Gottes und die Weisheit sein
Raum. Diese ist somit Gott deutlicher untergeordnet und nicht so
sehr sein Gegenüber als bei Böhme. Gottes Freiheit wird als Beweglichkeit
und Entfaltbarkeit verstanden, die auf Kommunikation mit
der seiner Kreaturen angelegt ist. Die Bewegung und Entfaltung Gottes
auf die Schöpfung hin vollzieht sich durch die von Böhme übernommenen
sieben Qualitäten Gottes oder die kabbalistischen Sephi-
rot. Da sie von Gott ausgehen, bleibt dieser anders als in Malebran-
ches Occasionalismus und Leibniz' Panlogismus frei von der Kausalität
. Er handelt nach seinem Wohlgefallen. Gott schafft aus dem

Nichts. Anders als der unauflösliche Schöpfer ist die Schöpfung endlich
. Sie ist weder gottfern noch selbst Gott (gegen Leibniz). Gott ist
nahe zur Welt aber ihr überlegen und frei in seiner Wirksamkeit ihr
gegenüber. Anders als bei den Philosophen wird die Erhaltung der
Welt unter dem Aspekt der Eschatologie gesehen. Auch für Oetinger
ist Gott der Liebende und Zürnende. Aber die Liebe steht voraus, der
Zorn ist begrenzt, Mittel zum Zweck im Zusammenhang mit dem
luziferischen Abfall. Hier unterscheidet sich Oetinger deutlich von
Böhme. Entsprechend richtet sich Gottes Erwählung letztlich auf das
Heil und die Apokatastasis. Die Trinitätslehre formuliert Oetinger
teils konventionell, teils mit den Mitteln der Kabbala. Das Gottesbild
enthält bei der Beschreibung von Gottes Entfaltung auch weibliche
Züge (Geburt).

Auf eine theologische Einordnung und Qualifikation verzichtet
diese Darstellung von Oetingers Gotteslehre fast ganz und begnügt
sich damit, die Materialien dafür bereit zu stellen. Die geistesgeschichtliche
Verortung Oetingers ist nach rückwärts vollzogen, nicht
jedoch hinsichtlich seiner Wirkungen und möglichen Offerten. Gerade
an diesem Punkt steht ein gesichertes Urteil-immer noch aus.
Aufgrund dieser Arbeit und dazu der kritischen Neuausgaben von
Oetingers Theologie wäre in Zukunft eine Verständigung von Dogmatikern
, Theologiehistorikern und Philosophen über die Bedeutung
und das Gewicht von Oetingers Werk höchst wünschenswert.

Münster (Westf.) Martin Brecht

Norris, Thomas J.: Newman and his Theological Method. A Guide
for the Theologian Today. Leiden: Brill 1977. XXII, 212 S. gr. 8'.
Lw. hfl 48.-.

Die katholische Arbeit stellt eine Untersuchung über Weg und
Methode des 1845 zum Katholizismus konvertierten und 1879 in den
Kardinalsstand erhobenen Anglikaners John Henry Newman
(1801 -1890) dar. Vf. geht von der wachsenden Bedeutung aus, die die
katholische Theologie heute dem Werk Newmans beimißt. Newman
schlug eine neue Richtung theologischen Denkens ein, indem er den
eigenen Erkenntnisgang, der ihn von der Feindschaft gegen Rom über
eine via media zur Konversion führte, philosophisch verallgemeinerte
.

Im Bemühen um eine theologische Methodologie, die wissenschaftlichen
Kriterien standhält, verwarf Newman die scholastische Eng-
führung logischer Beweise und entwickelte eine Lehre von den konvergierenden
Wahrscheinlichkeiten, die nach dem Willen Gottes zur
völligen Gewißheit in Glaubensfragen führen können. Anhand des
von Norris in einer Einführung und acht Kapiteln sorgfältig aufbereiteten
Schrifttums Newmans verfestigt sich im Leser der Eindruck,
daß Newman trotz der ihm ausdrücklich bestätigten Gleichgestaltig-
keit (isomorphism, 81) seines Vorgehens mit wissenschaftlichen Methoden
doch immer wieder auf das Proprium der Theologie zurückgekommen
ist.

Wenn er gegenüber den Naturwissenschaften betont: „,Theology
retains the severe character of a science, advancing syllogistically
from premisses to conclusion'" (82), bleibt er sich dessen bewußt, daß
sich der Glaubensvorgang den Möglichkeiten einer reinen Abstraktion
entzieht. So kann die Glaubensentscheidung und der mit ihr verbundene
Denkvollzug niemals von der Persönlichkeit des zum Glauben
Kommenden getrennt betrachtet werden. Norris: „Indeed, the
whole of Neman's own life bore witness to the fact that thinking is an
activity of the living person" (14). Intensives Studium der Kirchenväter
und die Beschäftigung mit dem Phänomen des Entstehens neuer
Dogmen lassen in Newman die Überzeugung reifen, daß die Lehre
der Kirche einer - um ihrer selbst willen notwendigen und gottgewollten
- Entwicklung unterworfen ist.

Dogmen sind in ihrem historischen Kontext zu begreifen, wenngleich
die Kirche ihre Dogmen niemals historisierend rechtfertigen
dürfe, denn: ,.....she uses other informants also, Scripture, Tradition
, the ecclesiastical sense ... and a subtile ratiocinative power.