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Ausgabe:

1981

Spalte:

647-649

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ha??k-Vantoura, Suzanne

Titel/Untertitel:

La musique de la Bible révélée 1981

Rezensent:

Seidel, Hans

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 9

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deutung differenzierter zu erkennen. Die Vfn. hat mit Verständnis
und gutem kritischen Urteil alle implizierten Fragen besprochen, so
daß man ihre Ausführungen künftig mit Gewinn wird heranziehen
können.

Corrigenda (eins schon im Inhaltsverzeichnis) sind nur wenige aufgefallen.
Leider entdeckt man einzelne Fehler im Literaturverzeichnis und zwei Setzfehler
im Register der hebräischen Wörter (linke Kolumne Z. 15 [1. miqnat]
und Z. 24). In Lage 16 ist die Folge der - richtig numerierten - Seiten 250 und
251 vertauscht. Man beachte die jetzt am Innenrand stehenden Seitenzahlen.
Leipzig Wolfram Herrmann

Hai'k-Vantoura, Suzanne: La musique de la bible revelee sa notation
millennaire aujord'hui decryptee. Paris: Ed. Dumas 1977. II,
511 S., 23 Taf.gr. 8".

Die Vfn. unternimmt den Versuch, aus den Akzenten der tiberiani-
schen Punktatoren die Musik Altisraels zu rekonstruieren. Dazu
wird eine Schallplatte (harmonia mundi 989) angeboten, die überwiegend
Psalmenmusik enthält. Madame Hai'k-Vantoura ist nicht die
erste, die einen solchen Versuch unternimmt. Bereits 1740 wies Joh.
Christ. Speidel in seinem Buch „Unverwerffliche Spuren Von der
Alten Davidischen Sing-Kunst..." auf die Deutung der Vokale und
Akzente als Notenzeichen hin. Er setzte die Vokale a-e-i-o-u der
Tonfolge c d e f g bzw. a h c d e gleich und ließ die Akzente je nach
ihrer Stellung oberhalb und unterhalb der Zeile entscheiden, welche
Tonfolge in Frage kommt. 1752 bezeichnet Georg Vensky im 3. Band
der „Musikalischen Bibliothek" von Mizler (Leipzig 1752) die
Akzente direkt als Notenzeichen der hebräischen Musik und datiert
ihre Entstehung in die Zeit Davids. J. G. Eichhorn erweitert diese
These in seiner „Einleitung in das Alte Testament" (Leipzig
1780-1783) dahingehend, daß die Akzente nicht nur die Melodie angeben
, sondern auch die Begleitung.

Ein vollständiges System der hebräischen Musik liefert aber erst
Conrad Gottlieb Anton in seinem „Versuch, die Melodie und Harmonie
der alten hebräischen Gesänge und Tonstücke zu entziffern
..." (Jena 1790). Ihm folgt Leop. Alex. F. Arends mit der Veröffentlichung
„Über den Sprechgesang der Vorzeit und die Herstellbarkeit
der althebräischen Vokalmusik" (Berlin 1867).

Durch diese Vorgeschichte, die von unserem Forschungsstand aus
gesehen mehr das Scheitern dieser Versuche als den Erfolg dokumentiert
, hätte die Vfn. gewarnt sein müssen, aber sie scheint sie leider
nicht gekannt zu haben. Sie macht sich in einem 503 Seiten umfassenden
Werk erneut an die Arbeit und bietet dem von solchem
Detailwissen beeindruckten Leser - und Hörer - die Rekonstruktion
der Musik der Davidzeit und des zweiten Tempels. Erstaunlich an
diesem Buch sind nicht nur der Umfang und die Fülle der Notenbeispiele
, sondern ebenso die sechs Seiten Lobesäußerungen von Komponisten
und Musikologen, die offensichtlich keine Zugabe des Verlages
darstellen.

Wie schon Anton 1790, legt die Vfn. ihrem System die bei uns gebräuchliche
siebentonige Tonleiter zugrunde. Die unterzeiligen
Akzente gelten ihr als Notenzeichen, so daß die Akzente Darga,
1*bir, Sillüq, Merka, Tipha, 'Atnah, Munäh und Mahpak die Töne
c-c (do-do) darstellen. Die überzeiligen Akzente kennzeichnen die
verschiedenen Phrasierungen und Melismen, z. B. Zaqep qatön die
Fortführung mit dem niedrigeren Ton (a-g), Segölta = c-d-c usw.

Wie im „System prosodique" werden im „System psalmodique" die
Accentus poetici verteilt: Galgal, Sillüq, Merka, Tipha, 'Atnah,
Münähund Mahpak bezeichnen die Töne d-c (re-do). Die Einzelheiten
beider Systeme werden ausführlich im 2. Teil des Buches (207ff)
behandelt. Besondere Aufmerksamkeit gilt S. 233ff den Tonarten.
Die Vfn. hebt die Tonart „Dorisch-chromatisch" hervor (Tonika e
und Erhöhung des 3. Tones). Sie meint: «C'est la mode typique par
excellence de la tradition judaique» (233). Dieser Tonart werden z. B.
Gen 1,17; Ex 20,7; Dt 6,4 u. a. Texte zugeordnet. Daneben steht das
Hypodorische (Ganztonschritt e-fis), dem die Vfn. z. B. Thren 1,2;
Est 5,2 u. a. zuteilt. Zur Stützung dieses Gesamtgebäudes rekonstruierter
altisraelitischer Musik werden Verbindungslinien zu anderen
Musiksyslemen und Notierungen ausgezogen. Sie reichen von der
altägyptischen Cheironomie bis zur Gregorianik, von den angeblichen
Notenzeichen in den Handschriften von Qumran bis zu den
byzantinischen Neunten.

So erschließt sich für die Vfn. ein geschlossenes System der altisraelitischen
liturgischen Musik, die mit David ihren Höhepunkt erreichte
. Er richtet «une veritable academie de musique sacerdotale»
ein, und diese Einrichtung wird weiter von den Leviten betrieben.
Dem Leser bietet sich ein anscheinend überzeugendes Bild altisraelitischer
Musik dar, das dadurch besonders eindringlich wirkt, daß es
auf der Schallplatte für jedermann hörbar wird und mit großer Gelehrsamkeit
und wissenschaftlicher Akribie erarbeitet zu sein scheint.
Bei näherem Hinsehen wird jedoch schnell deutlich, daß die Voraussetzungen
unsicher sind und ungenügend abgesicherte Hypothesen
das Gebäude zu tragen versuchen. Zuerst fällt auf, daß die Kenntnisse
der Forschung über die Funktion der im Mittelalter entstandenen
Akzentsysteme und Lösungen einzelner Probleme (z. B. Cohen/
Freedman, The dual accentuation of the Ten Cömmandments, 1974)
nicht verarbeitet werden. Das gilt auch für die Ergebnisse der Untersuchungen
zur Text- und Redaktionsgeschichte alttestamentlicher
Texte, die offensichtlich unbekannt sind. Man kann nicht so tun, als
gäbe es eine kontinuierliche Tradition der Akzente von David bis zu
den tiberianischen Punktatoren. Es bleibt für den Sachkundigen auch
unverständlich, warum eine so wichtige Erfindung der Davidzeit bis
in das Mittelalter hinein nicht angewendet wurde und die ältesten
hebräischen Handschriften unvokalisiert und ohne Akzente überliefert
sind. Untersuchungen der historisch-kritischen Forschung am
Alten Testament werden kaum zur Kenntnis genommen. Z. B. wird
David die Organisation der Tempelmusik zugeschrieben, als ob es
keinerlei Zweifel an der historischen Glaubwürdigkeit der Angaben
in den Chronikbüchern gäbe (das gilt auch für den Umschlagtext der
Schallplatte). Welche Funktion die Psalmenüberschriften haben und
daß sie trotz ihrer Akzente kaum für den Gesang geeignet sind, wird
nicht diskutiert. Die Reihe der Anstöße ließe sich fortsetzen.

Die Auswahl der Literatur und ihre Nutzung im einzelnen scheint
sich danach zu richten, wieweit sie zur Stützung der Thesen der Vfn.
von Nutzen ist. Z. B. wird für die Forschung im Bereich altorientalischer
Musik nur der Aufsatz von M. Duchesne-Guillemin (Revue de
Musicologie 1969) genannt, während Arbeiten von Draffkorn-
Kilmer, Güterbock, Gurney, Wulstan u. a. keine Beachtung finden.

Ähnlich verfährt die Vfn. im Gebiet der byzantinischen Musik. Die
Neumenstudien von O. Fleischer (1895) finden Beachtung, aber daß
in der Reihe ,Monumenta Musicae Byzantinae' (z. B. von Tillyard
und Wellesz) und darüber hinaus inzwischen wichtige Veröffentlichungen
erschienen sind, bleibt unbemerkt.

Geradezu wie ein Scherz mutet es an, daß für den Bereich der
Handschriften von Qumran nur ein voreilig kombinierender und
heute veralteter Artikel von E. Werner (Music. Quarterly 1957)
zitiert wird. «Quelques-une de cet manuscrits comportent de curieux
signes, qui ne seraient que des inscritions chironomiques. En effet,
certains d'entre eux ressemblent d'assez pres ä des signes Byzantins
reconnus de cette nature.» (109) Literatur von Fachleuten existiert
anscheinend für die Vfn. nicht. Bei dieser Art der Darstellung und der
wissenschaftlich ungenügenden Nutzung der vorhandenen Erkenntnisse
wundert es nicht, daß manches zurechtgebogen erscheint, um
sich in das schöne Gebäude der Hypothesen einzufügen. Z. B. sollen
die unterlinigen Akzente die Noten bezeichnen. Da aber die Anzahl
der Akzente größer ist als die Zahl der Töne in einem siebentonigen
System, müssen einige Akzente eine andere Funktion erhalten:
Merka k'püla wird zu den ,signes superieurs' (290) geschoben, I' hir
gilt als Erhöhungszeichen usw. Die Beispiele für solche Manipulationen
ließen sich fortsetzen. Selbst die Umschrifttabelle für die hebräischen
Konsonanten und Vokale (219) ist ungenügend. Ein Blick auf
den Rückdeckel der ZAW oder in eine Grammatik hätte zur Richtigstellung
genügt.