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Ausgabe:

1981

Spalte:

610-611

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Stubbe, Ellen

Titel/Untertitel:

Seelsorge im Strafvollzug 1981

Rezensent:

Neidhart, Walter

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 8

610

bleibt" (95). Die praktischen und systematischen Konsequenzen dieses
programmatischen Satzes konnten in der interessanten Studie
nicht entfaltet werden.

E. W.

Praktische Theologie: Seelsorge

Stollberg, Dietrich: Wahrnehmen und Annehmen. Seelsorge in Theorie
und Praxis. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn
1978. 160 S. 8- = GTB Siebenstern 293. Kart. DM 12,80.

Nicht jedes Buch spiegelt den ureigensten Ansatz seines Autors. So
manches hinterläßt eher den Eindruck: Hier schreibt sich einer frei,
tastet sich voran, spürt auf. Es bleibt nicht selten der Phantasie des
Lesers überlassen herauszufiltern, welche Position eigentlich ein
Autor-sei er Philosoph oder Schriftsteller, Politiker oder Theologe-
für sich selbst bezogen hat. Das hier zu besprechende Buch stellt in
dieser Hinsicht eine wohltuende Ausnahme dar. Augenscheinlich
schon deshalb, weil es dem Autor um klare, eindeutig verstehbare
Kommunikation zu tun ist: Das Buch ist förmlich von dem Bemühen
eingerahmt, mit dem Leser ins Gespräch zu kommen. So gibt der
Autor dem Leser Anteil an den Motiven seines Schreibens und Anstöße
zur Verarbeitung der Lektüre. Ein Buch also, das spürbar dem
Gespräch entstammt - der seelsorgerlichen Praxis wie der Auseinandersetzung
mit den Humanwissenschaften, dem Disput um die Seelsorge
heute und der Diskussion mit Studenten der Basler Theologischen
Fakultät, denen diese konzentrierte Seelsorgevorlesung im
Sommersemester 1977 erstmals vorgetragen wurde. Es sind - inhaltlich
gesehen - gerade die klassischen Grundfragen der .Seelsorge, um
die das Gespräch hier geht: das Problem des generellen und spezifischen
Propriums der Seelsorge beispielsweise und ihre Beziehung, das
Verhältnis von Psychotherapie und Seelsorge, exemplarische Praxis-
modelle und ausgewählte Arbeitsfelder der neueren Seelsorge. Es ist
"idessen nicht allein die praxisorientierte Information, die dieses kleine
Kompendium der Seelsorge auszeichnet. Es bringt auch in kon-
*eptioneller Hinsicht wichtige Klärungen, die jedem unvoreingenommenen
Leser Stollbergs theologischen Ansatz unmißverständlich
deutlich machen können: seine theologische Reflexion humanwissenschaftlicher
Positionen und ihren kritischen Rückbezug auf eine
•etztlich reformatorisch ausgerichtete Theologie. Dies zeigt sich nicht
Zu'etzt an dem hohen Stellenwert, den Stollberg den Grundbegriffen
der Reformatoren beimißt: Rechtfertigung und Menschwerdung,
Kealpräsenz und Kreuzestheologie, Gesetz und Evangelium, Gottes-
Klaube (deus absconditus - deus revelatus) und Menschenbild (simul
lustus simul peccator) und anderes mehr. Wer den Pastoraltheologen
und Psychologen Dietrich Stollberg von seinem zentralen theologi-
Sehen Ansatz her verstehen (und annehmen) möchte, wird insofern
8ut tun, ihn vor diesem Hintergrund zu sehen (und wahrzunehmen):
e'nen Seelsorger mit seiner Einstellung und seinem Engagement, den
nienschgewordenen und menschenfreundlichen Gott gegen alle Modalitäten
von Gesetzesreligion, Moralismus und Selbstrechtfertigung
*u Predigen. Es ist tröstlich wie ermutigend zugleich, unverblümt und
lri aller Kürze die Perspektiven eines Pastoraltheologen kennenzuler-
nen, für den die Konzeption der trinitarischen Theologie, das Kir-
chenverständnis und die Konkretion der Seelsorgepraxis einen orga-
n'schen Zusammenhang bilden. Was mich an diesem Buch freilich
ani meisten berührt, ist schließlich seine Spiritualität, der Atem von
Barmherzigkeit, Güte und Mut, der in dem Verständnis von Theologe
. Kirche und Seelsorgepraxis lebt. „Kirche" - so lautet beispielsweise
einer der vielen elementaren Sätze, die für das Buch bezeich-
nend sind - „ist also aus poimenischer Perspektive die Gemeinschaft
derer, die einander trösten, ermahnen, ermutigen und Zuwendung
Sehen, weil sie davon ausgehen und darauf zugehen, daß eine alles
Versteigende, alles umgreifende und alles tragende Liebe Gottes die
^elt erhält. Einfacher: Weil sie an einen seelsorgerlichen

Gott glauben, treiben Christen untereinander Seelsorge
. Sie realisieren eine menschliche Dimension des Zusammenlebens
, die sie auch in der Beschreibung ihres Verhältnisses zu Gott
verwenden. Sie sagen damit in ihrem gemeinsamen, das heißt die Kirche
begründenden, vielfältig formulierten und gelebten Credo aus,
daß sie Seelsorge für eine Fundamentalkategorie des Lebens halten"
(30).

Erlangen Richard Riess

Stubbe, Ellen: Seelsorge im Strafvollzug. Historisch-psycho-
analytische und theologische Ansätze zu einer Theoriebildung.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1978. 275 S. gr. 8°. Kart.
DM 58,-.

In ihrer Kieler Dissertation, die sich auf den Strafvollzug in der
BRD bezieht, gibt die Vfn. zunächst Einblick in das psychoanalytische
Denken über die Kriminalität, über den Straffälligen und über
die Maßnahmen, mit denen die Gesellschaft die Vergehen zu strafen
und zu sühnen meint, in Wirklichkeit aber durch den Sündenbock-
Mechanismus die Kriminellen auf ihre Rolle festlegt. Nach ihren Erkenntnissen
begeht „nie nur das einzelne Individuum ein Delikt", es
haben „immer auch andere dazu beigetragen. Hier läßt sich entweder
gar nicht mehr sinnvoll von .Schuld' reden oder aber nur noch im
Sinne einer Mitschuld oder auch Kollektivschuld, in jedem Falle
unter Einbeziehung des überindividuellen Aspekts" (69). Die heutige
Seelsorge an Strafgefangenen steht darum vor der Frage, ob sie am
praeanalytischen Verständnis von Verbrechen und Schuld festhalten
oder ob sie anhand der „Neuen Ethik" von E. Neumann oder der
Hermeneutik von P. Ricoeur umlernen will. Die Vfn. hat die Frage
entschieden.

In einem kirchengeschichtlichen Längsschnitt durch die ersten
Jahrhunderte zeigt sie dann, wie sich in der Alten Kirche aus neu-
testamentlichen Ansätzen und aus der Verbundenheit mit den Märtyrern
und ihrem Leiden in den Gefängnissen eine Gefangenenfürsorge
und -seelsorge entwickelte, die einige Aspekte des heutigen humanwissenschaftlichen
Verständnisses der Kriminalität vorwegnahm. Besonders
aus Augustins Sündenlehre ergibt sich die Einsicht in die uns
allen gemeinsam „latente Kriminalität" und dadurch eine Gegenkraft
gegen Projektionstendenzen. In derselben Richtung wirkten in
der ersten Zeit nach Konstantin das Asylprivileg der Kirche, das
bischöfliche Interzessionsrecht und die von der kirchlichen Diakonie
betriebene Fürsorge für die Gefangenen. Die Bedingungen, welche
diese Fürsorge regelten, wurden freilich für die verschiedenen Gruppen
von Gefangenen immer mehr eingeschränkt, so daß sich vom 6.
Jh. an die projektiven Umgan^formen mit den Straftätern, die auch
dem antiken Recht zugrunde lagen, wieder voll durchsetzten.

Von den theologischen Autoren der Gegenwart läßt die Vfn. zwei
zu Wort kommen: H. Fichtner („Grundprobleme der Gefangenen-
diakonie", Berlin 1950), dereinen Tiefpunkt der theologisch drapierten
moralischen Beurteilung des Strafgefangenen bildet, und M. Sam-
braks, mit dessen Seelsorgeverständnis die Vfn. voll übereinstimmt.
In einigen Schlußkapiteln äußert sie sich zu Problemen der Praxis des
Seelsorgers im heutigen nicht-reformierten Strafvollzug und zu den
möglichen Rollenkonflikten, die sich aus seiner Position zwischen
Gefangenen, Aufsichtspersonal, Sozialarbeitern und Anstaltsleitung
ergeben.

Das Buch sollte nicht nur Pflichtlektüre aller im Strafvollzug tätigen
kirchlichen Mitarbeiter sein. Es ist nicht nur interessant, weil es
die Grenzen der theologischen Fächer durchbricht und über eine in
der Praktischen Theologie wohl wenig beachtete Seite der altkirchlichen
Praxis berichtet. Es ist auch bedeutsam im Blick auf den gegenwärtigen
Grundsatzstreit über das Verständnis der Seelsorge und
über die Bedeutung psychologischer Erkenntnisse für sie. Die gegensätzlichen
Auffassungen, die u. a. durch Namen wie D. Stollberg, H.
Tacke. J. E. Adams, W. Margies zu umschreiben wären, werden vielfach
bloß in allgemeinen Aussagen umschrieben oder an Fallberich-