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Ausgabe:

1981

Spalte:

524-526

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Besier, Gerhard

Titel/Untertitel:

Seelsorge und klinische Psychologie 1981

Rezensent:

Thilo, Hans-Joachim

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 7

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Klarheit über die Sache zu bringen und ihn selber zur Entscheidung
zu führen" (11). Bereits die ,Echtheit' des Seelsorgers kommt zur
Sprache: „Es muß einer die größte Empfänglichkeit haben und Milde
im Urteil über die Handlungsweisen, aber zugleich feststehen in
seinem eigenen. Wenn einer in die Ansichten so eingeht,daß er sich
selber dadurch bestimmen läßt und jedem andern anders erscheint, so
geht ein anderer Grund des Vertrauens verloren" (9). Echtheit, Einfühlen
und Zuhören sollen den Seelsorger auszeichnen. Die Auszüge
aus den Arbeiten von Schweizer und Nitzsch lassen bei allem
Schleiermacherschen Einfluß eine Weiterentwicklung erkennen. So
ist Schweizer die Interdependenz von Seelsorge und Homiletik wichtig
; Seelsorge ist nicht nur Krisenberatung, sondern alle Gemeindeglieder
haben Seelsorge nötig, wie auch alle Seelsorge üben sollen.
Um den Begriff Seelsorge sowie um diagnostische Fähigkeiten des
Seelsorgers geht es in den von Nitzsch abgedruckten Arbeiten. Mit
Köstlins Konzeption der „Zudienung des Heilswortes an den einzel-
nen"(XXII) wird die Verbindung zu Asmussen und Thumeysen aufgezeigt
. Köstlin stellt die Bedeutung einer Seelsorgegemeinde und die
damit verbundenen pastoralsoziologischen Implikationen heraus,
hierin angeregt von Sülze, der unter Seelsorge „Erziehung zu christlichem
Charakter" (37) versteht.

Im Abschnitt III (39-70) bringt W. solche Seelsorgekonzeptionen,
die seit 1890 zunehmend empirische Gesichtspunkte berücksichtigen
. So ist O. Baumgarten „um eine weiterführende und empirisch
kontrollierbare Seelsorge" (XXV) bemüht. Auch bei ihm zeigt sich
die seit Schleiermacher unaufgebbare Erkenntnis, „daß Seelsorge
nicht mit dirigistischer Seelenleitung und autoritärer Beratung zu verwechseln
ist" (XXV). Unveraltet ist auch Baumgartens Auffassung,
„daß die leiblichen und seelischen Bedürfnisse nicht zu trennen sind"
(XXV). Mit der Seelsorgetheorie von F. Niebergall stellt W. eine
Konzeption vor, die neben den politischen auch die lebenszyklischen
Grundprobleme berücksichtigt. Mit der Forderung nach einer „mehr
deskriptiv-induktiv als systematisch-deduktiv" (54) arbeitenden
Praktischen Theologie, die sich neben der ,religiösen Volkskunde'
einer .religiösen Psychologie' bedient, macht uns W. durch einen
Aufsatz von P. Drews bekannt. Ein Auszug aus O. Pfisters „Analytische
Seelsorge" macht auf einen leider zu schnell in Vergessenheit
geratenen Versuch aufmerksam, der der „deutschsprachigen evangelischen
Seelsorge manche Umwege" (XXVIII) hätte ersparen können.

Die Reflexion empirischer Gesichtspunkte in der Seelsorge war
noch nicht abgeschlossen, als im „Gefolge der Wort-Gottes-Theo-
logie die Frage nach der Theologiekompetenz der Seelsorge neu
gestellt und die Konzeption der Seelsorge als Verkündigung des Wortes
Gottes mit der Kraft der Einseitigkeit für die kirchliche Seelsorgepraxis
als normativ herausgestellt wurde" (XXVIII). Dieser von der
Verkündigung her bestimmten Seelsorge ist der Abschnitt IV
(71-115) gewidmet. Kenntnis voraussetzend bringt W. aus „Die Lehre
von der Seelsorge" (1948) von E. Thurneysen nur die einleitenden
Thesen zu den 16 Paragraphen. Der Aufsatz „Rechtfertigung und
Seelsorge" aus ZZ wird dankenswerterweise ganz abgedruckt. Einen
Einblick in H. Asmussens „Die Seelsorge" bieten das Inhaltsverzeichnis
sowie der Abschnitt „Beichte und Absolution". Mit einem
Auszug aus der Schrift „Über die Beziehung der Psychotherapie zur
Seelsorge" von C. G. Jung wird u. a. auf die „Diskrepanz zwischen
den Leitlinien der Seelsorgetheorie einerseits und der Wirklichkeit
der Seelsorgepraxis in der damaligen Zeit" (XXXV) hingewiesen.

Der Abschnitt V (117-230) beschäftigt sich mit der „Neuorientierung
von Praxis und Theorie der Seelsorge im Zusammenhang mit
der Aufnahme erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden
" (XXXVII). A. D. Müller ist mit den Beiträgen „Seminaristische
Ausbildung für Seelsorge" und „Ist Seelsorge lehrbar?" vertreten
. Der Bedeutung P. Tillichs für das Gespräch zwischen Theologie
und Psychologie wird mit dem Aufsatz „Der Einfluß der Pastoralpsychologie
auf die Theologie" gedacht; hier findet sich die bedeutsame
These, daß es des Anstoßes durch die Psychoanalyse bedurfte, „damit
die kirchliche Seelsorge sich wieder ihres evangelischen Charakters,

nämlich des Prinzips der Zuwendung und der Annahme besser bewußt
wurde" (XL). Ebenfalls Einblick in die Bemühung um Vermittlung
von Tiefenpsychologie und Theologie bei Berücksichtigung der
Entwicklungsphasen der Tiefenpsychologie gibt D. Rösslers Aufsatz
„Die Tiefenpsychologie als theologisches Problem". Aus der Sicht
des Psychotherapeuten wird die Problematik von J. Herzog-Dürck
dargestellt, wobei gleichzeitig ein Einblick in die tiefenpsychologischen
Grundtypen gegeben wird. Beiträge von J. Scharfenberg und
K. Winkler heben die Bedeutung der Pastoralpsychologie als Verste-
hens- und Wahrnehmungshilfe hervor. Das Problem der Rezeption
einer „therapeutischen Seelsorge" wird durch Arbeiten von
E. Hertzsch und D. Stollberg angesprochen. Mit H.-Chr. Pipers
„Theologische Perspektiven und Erfahrungen im CPT" und
E.-R. Kiesows „Selbsterfahrung im Theologiestudium" wird dem
Zusammenhang von Glaube und Erfahrung Beachtung geschenkt.

Dank der abgewogenen Auswahl von W. werden nicht nur Klischeevorstellungen
über frühere Seelsorgekonzeptionen abgebaut,
sondern es ergeben sich auch weiterführende und kritische Aspekte
für die Seelsorge der Gegenwart. Die Erinnerung, daß etliche Fragen
heutiger Seelsorge auch schon früher thematisiert wurden, wird der
Seelsorgediskussion dienlich sein. Dennoch versucht Vf. nicht den
Eindruck zu erwecken, es wäre alles schon einmal dagewesen. W.
greift nicht nur durch die Auswahl der Texte, sondern auch durch
seine ausführliche Einführung in die gegenwärtige Seelsorgediskussion
ein und weist auf unerledigte Probleme hin: 1. „Das Verständnis
des Menschen in der Theologie und in den Humanwissenschaften"
(XLVII); 2. „Das Verhältnis von Glaube und Psychologie" (IL);
3. Bei unterschiedlichem Seelsorgeverständnis ist doch die Grundspannung
von Beraten und Bezeugen, von Lebens- und Glaubenshilfe
unaufgebbar (L). Gewiß wären noch viele andere wichtige Texte in
einer solchen Auswahl denkbar gewesen; W. nennt z. B. in der Einführung
Chr. Palmer, W. Trillhaas, O. Haendler und H.-J. Thilo, die
nicht im Textteil vertreten sind. Aber es ist ein anregender Anfang
einer wissenschaftsgeschichtlichen Gesamtdarstellung der neuzeitlichen
Seelsorgetheorie und Seelsorgepraxis seit Schleiermacher (IX).
Mit seiner Konzentration auf Grundfragen der Seelsorge wird es auch
als Lehrbuch von großem Nutzen sein.

Falkensee Hartwig Daewel

Besier, Gerhard: Seelsorge und Klinische Psychologie. Defizite in
Theorie und Praxis der ,Pastoralpsychologie'. Göttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht 1980. 269 S. gr. 8 Kart. DM 28,-.

Wenn auch Emotionalität und Wissenschaftlichkeit sich oft gegenseitig
im Wege stehen, so wird doch zugegeben werden müssen, daß
Wissenschaftlichkeit und Wissenschaftstheorie nicht ohne Emotionalität
auskommen. Ein anderes aber ist es, wenn Emotionalität sich
dazu hinreißen läßt, auch jenseits fachlicher und sachlicher Fakten
Urteile zu finden.

Für Gerhard Besier gibt es nur zwei Formen von Seelsorgern: Die
eine Art ist die, „die allein der heilenden und rettenden Kraft des
Auferstandenen" vertraut (5), die andere, deren „Seelsorgemethoden
ohne wissenschaftlichen Wert und ohne irgendeinen praktischen
Wert" (29) sind. Zur Gruppe der ersteren gehören Seelsorger mit fundierten
psychologischen Kenntnissen, deren Ergebnisse empirisch -
sprich: statistisch - nachweisbar sind, die anderen sind jene „Pastoralpsychologen
", die tiefenpsychologisch orientiert ihre Arbeit „aufgrund
einer nicht validen, nicht reliablen und nicht objektiven Datengewinnung
" (29) tun. Nun ist es jedermann unbenommen, die
eigene wissenschaftliche Methodik als unfehlbar und die seiner Kollegen
bzw. in diesem Fall die seiner Mitchristen in Ansatz, Methodik
und Konsequenz als falsch anzusehen. Wenn man Letzteres hier im
Sinn hat, muß als axiomatische Voraussetzung gelten, daß pastoralpsychologisches
Handeln der „gesamten unbewiesenen Betrachtungs-