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Ausgabe:

1981

Spalte:

487-489

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wilckens, Ulrich

Titel/Untertitel:

Der Brief an die Römer 1981

Rezensent:

Lohse, Eduard

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Seite 1, Seite 2

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487

Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. /

488

Neues Testament

Wilckens, Ulrich: Der Brief an die Römer. 1. Teilband: Rom 1-5.
337 S. DM 58,-. 2. Teilband: Rom 6-11. 274 S. DM 48,-. Zürich-
Einsiedeln-Köln: Benziger; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener
Verlag des Erziehungsvereins 1978/80. gr.8* = EKK, Evangelisch-
Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, VI.

Nach E. Käsemann (1973,31974) und H. Schlier (1977) legt nunU.
Wilckens einen gewichtigen Kommentar zum Römerbrief vor. Dem
ersten Teil, der die Kapitel 1-5 interpretiert, hat der Vf. alsbald den
zweiten Teilband folgen lassen, der Rom 6-11 auslegt. Der dritte
Teilband, der Rom 12-16 gewidmet sein wird, steht noch aus.

Für den Aufbau des Briefes wird 3,1 -8 eine Schlüsselfunktion zugewiesen
: Während der Apostel die Theologie der Rechtfertigung entwickelt
, nennt er in 3,1-8 zwei gewichtige Einwände, mit denen er
sich dann eingehend auseinandersetzt. In 6-8 antwortet er auf den
sittlichen und in 9-11 auf den heilsgeschichtlichen Einwand gegen die
These von der Übermacht der Gnade über die Sünde aller (5;20) (II,
S. 3-5). In Verbindung mit der Auslegung wird im Kommentar eine
Reihe grundsätzlicher Probleme abgehandelt, deren Klärung für das
Verständnis des ganzen Briefes wesentlich ist. Dabei wird die neueste
Auslegungsgeschichte ebenso berücksichtigt wie die der alten Kirche
und der Reformationszeit und ein sehr gehaltvoller Beitrag zur pauli-
nischen Theologie geleistet.

Gründliche Darstellung der religionsgeschichtlichen Voraussetzungen
und ausgeprägte systematisch-theologische Überlegung
zeichnen diesen Kommentar aus. Der umfangreiche Stoff ist durch
die straffe Anlage der Ausführungen gebändigt. Die Erklärung jedes
Abschnittes, die durch eine Analyse des Textes eingeleitet und eine
Zusammenfassung des Gedankengangs abgeschlossen wird, läßt sich
fortlaufend gut lesen. Gelehrte Spezialprobleme sind in die Anmerkungen
verwiesen, Auseinandersetzungen mit abweichenden Ansichten
auf wesentliche Punkte konzentriert. Dadurch ist erreicht, daß
der Kommentar keineswegs nur den Fachgelehrten, sondern auch gerade
Pfarrer und Prediger anspricht.

In der Beurteilung der sog. Einleitungsfragen wird der Ertrag der
bisherigen Forschung zusammengefaßt und theologisch ausgewertet.
Der Rom stellt - einschließlich Kap. 16 (I, S. 27) - eine literarische
Einheit dar (I, S. 29). Paulus spricht eine überwiegend heidenchristliche
Gemeinde an (I, S. 33-41), hat aber ständig den Dialog mit den
Juden vor Augen: „Das Briefkorpus als ganzes ist ein ,dialogus cum
Judaeo', eine Interpretation des Evangeliums in Auseinandersetzung
mit der Synagoge" (I, S. 32). Der Apostel legt seine Evangeliumsverkündigung
so eingehend dar, damit sie „als gemeinsame Grundlage
der werdenden Kirche aus Juden und Heiden erkannt und akzeptiert
werden" kann (I, S. 48).

In der Erklärung des Briefes arbeitet der Vf. vorpaulinische Bekenntnisfragmente
und deren paulinische Interpretation sorgfältig
heraus (so zu l,3f; 3,25f; 4,24f). Eigene Studien, die er zu einzelnen
Abschnitten bei früheren Gelegenheiten vorgelegt hatte, nimmt er
auf, geht aber unter Beachtung kritischer Äußerungen über einst vertretene
Positionen hinaus (so z. B. zu Rom 4,1. S. 282 f) - stets um offenen
Dialog und Herstellung eines möglichst breiten Konsenses bemüht
. Abweichende Meinungen werden genau referiert, so daß der
Leser sich ein eigenes Urteil bilden und hier und da Einwände erheben
kann, so etwa: ob es nicht doch zu einseitig gesehen ist, wenn es
heißt, „daß Gesetzeswerke deswegen zur Rechtfertigung nichts taugen
, weil alle Menschen ausnahmslos Sünder sind, Rechtfertigung
von Sündern aber nicht Sache des Gesetzes ist" (I, S. 176) - ob der Begriff
der Gerechtigkeit Gottes in 1,17 und 3,21 nicht doch den Charakter
eines Gen. auctoris hat (I, S. 187, 202-208) - ob wirklich 3,25
der gekreuzigte Christus mit der Kapporät des Versöhnungsfestes
verglichen wird (I, S. 193) - oder ob nicht die wiederholte Abgrenzung
vom Paulusverständnis der dialektischen Theologie, dem sich
der Vf. mit Recht selbst zum guten Teil verpflichtet weiß, gelegentlich
etwas angestrengt wirkt (so z. B. I, S. 255, wo die Dominanz negativer
Aussagen über Gebühr herausgehoben wird). Ist richtig gese
fien, daß der Apostel in seiner theologischen Argumentation ständig
den Dialog mit dem Judentum vor Augen hat, so bleibt dann doch die
Interpretation des entscheidenden Satzes 10,4 eigentümlich unscharf,
indem Christus als „Endziel des Gesetzes" verstanden werden soll (II.
S. 221-224). Was aber soll nun gelten - Ende und etwa doch Ziel?

Sehr wertvoll sind die Exkurse, die zu zentralen Vorstellungen und
Begriffen dargeboten werden. Sie bieten nicht nur reichhaltiges Mate
rial zur Religions- und Wirkungsgeschichte, sondern geben auch zusammenfassend
Rechenschaft über das vom Vf. entwickelte Paulusverständnis
. Er weiß sich von der Einsicht geleitet, daß weder in der
Rede von der Gottesgerechtigkeit noch in der Rede vom Glauben Anthropologie
„der bestimmende hermeneutische Horizont" ist, „sondern
die Christologie als Rede von Gottes Heilshandeln in Tod und
Auferstehung Christi" (I, S. 92). Indem dieser theologische Ansatz
konsequent durchgehalten wird, gelingt es dem Vf., eine geschlossene
Interpretation des Rom vorzunehmen. Zu 6,1-14 wird daraufhingewiesen
, die Taufe sei „heilsnotwendig für jeden Christen" (II, S. 25).
Hinsichtlich der religionsgeschichtlichen Voraussetzungen bzw. hellenistisch
-urchristlichen Argumentation meint der Vf., den Vorstellungen
der Mysterienreligionen geringe und den apokalyptischen Gedanken
große Bedeutung beimessen zu sollen (II, S. 42-62). Damit
werden jedoch die Proportionen schwerlich richtig gesehen. Wird
man so auch zu den Exkursen manche Einzelfragen zu stellen haben,
so empfängt man doch stets aus der sorgfältigen Darbietung des Materials
reiche Belehrung.

Wie der Rom das Dokument eines Dialogs ist, so ist auch der Vf.
darum bemüht, in seiner Auslegung dialogisch vorzugehen. Das
christlich-jüdische Gespräch ist im Blick (I, S. 32.285, bes. II,
S. 181-274), aber auch die Berücksichtigung der Philosophie (I,
S. 169f; II, S. 143f u. ö.), die Auseinandersetzung zwischen Theologie
und Naturwissenschaft (I, S. 120) oder das moderne Verständnis von
Gewissen und Gewissensfreiheit (I, S. 138-142). Mit Recht wird darauf
aufmerksam gemacht, daß die Beurteilung der Homosexualität
aufgrund neuerer medizinischer Einsichten wesentlich differenzierter
vorgenommen werden muß, als dies von Paulus gesehen wurde (I,
S. 1.100, und damit zu einer sachkritischen Erörterung ein wichtiger
Hinweis gegeben.

Vor allem aber widmet der Vf. dem interkonfessionellen Dialog
große Aufmerksamkeit. Damit beweist er, welchen wichtigen Beitrag
ein Evangelisch-Katholischer Kommentar zur Auslegung des Neuen
Testaments und dadurch zu neuer Begegnung zwischen den Konfessionen
zu leisten vermag. Haben sich einst die Konfessionen durch
eine unterschiedliche Erklärung und Bewertung der paulinischen
Theologie voneinander geschieden, so können sie heute im gemeinsamen
Hören auf die Botschaft des Apostels einen fruchtbaren, von gegenseitiger
Achtung und neuem Verständnis getragenen Dialog miteinander
führen. Auf die strittigen Themen kontroverstheologischer
Auseinandersetzungen wird gründlich eingegangen: zur natürlichen
Gotteserkenntnis (I, S. 117-121), zur Frage des Gewissens (I,
S. 140-142), zum Gericht nach den Werken (I,S. 142-146), zum Verständnis
der Gerechtigkeit Gottes (I, S. 223-233), zur Lehre von der
Rechtfertigung nach dem Tridentinum (I, S. 252-257), zum Problem
der sog. fides caritate formata (I, S. 300-305) und dem der Erbsünde
(I, S. 334-337), zur Tauflehre (II, S. 22-33), zur Anthropologie von
Rom 7 (II, S. 97-117), zum Verständnis des Geistes (II, S. 139-145),
der Schöpfung (II, S. 165-169) und vor allem der Frage nach Erwählung
und Verwerfung im Geschick Israels nach Kap 9-11. Dabei wird
die entscheidende Aussage des Römerbriefes, die in allen Kapiteln
vom Apostel durchgehalten wird, in dem kurzen Satz zusammengefaßt
: „Das Wesen der Gerechtigkeit Gottes als Gnade nämlich ist
Rechtfertigung der Sünder, Rettung der Verlorenen, Erbarmen für
Feinde" (II, S. 265). Alte Fronten kommen unter dem Wort des Apostels
in Bewegung, unterschiedliche Meinungen werden auch innerhalb
der einzelnen Konfessionskirchen vertreten, neue Herausfor-