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Ausgabe:

1981

Spalte:

449-451

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Riess, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Glaube als Konsens 1981

Rezensent:

Lessing, Eckhard

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449

Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 6

450

Praktische Theologie: Allgemeines

Rieß, Wolfgang: Glaube als Konsens. Über die Pluralität im Glauben
. München: Kösel 1979.286 S. 8". Kart. DM 38,-.

Daß der Prozeß der sozialen Differenzierung, noch zunehmend,
auch die Kirche immer eindeutiger bestimmt, ist eine Tatsache. Daß
er ein neues Bedenken zentraler theologischer Begriffe, insbesondere
desjenigen der Einheit, erfordert, ist eine langsam wachsende Erkenntnis
und erklärlich wohl erst aus dem offenbar vergeblichen Bemühen
, der neuzeitlich geprägten Lebenswelt einverständliche, inhaltsreiche
Grundlagen zu geben.

Die vorliegende Arbeit, eine Wiener katholisch-theologische Dissertation
, setzt sich die Aufgabe, das Phänomen des Pluralismus in
der Kirche zu erhellen und Wege zur Aufarbeitung dieses Problems
zu zeigen. Sie orientiert sich an der Empirie und sucht, darauf bezogen
, theologische Aussagen zu gewinnen. Anhaltspunkt sind die in
den letzten Jahren durchgeführten repräsentativen Umfragen unter
den Katholiken in der Bundesrepublik Deutschland. Sie werden unter
den drei Begriffen Minimal-, Maximal-, Partialglaubenskonsens
analysiert (81-159) und theologisch interpretiert (160-212). Diesen
beiden, die Schwerpunkte des Buches bildenden Teilen gehen einleitende
Überlegungen zum „Kontext der politologischen Pluralismus-
und Konsensdiskussion" (11-27) sowie eine „theologische Grundlegung
" (28-80) voraus. „Pastoraltheologische Überlegungen zum
religiös-kirchlichen Glaubenskonsens" folgen am Schluß (213-260).

Die enge Orientierung an den Umfrageergebnissen bedingt, daß der
Pluralismus in der Kirche zunächst einmal als ein quantitatives Problem
erfaßt werden muß. Vf. stellt fest, daß für mindestens 80 % der
westdeutschen Katholiken ein Minimalglaubenskonsens angenommen
werden kann. Dazu gehören u. a.: Glaube an die Existenz Gottes
(bzw. eines höheren Wesens), Überzeugung von der Bedeutung Jesu
für das persönliche Leben, Bejahung der Kirche, Teilnahme an Ka-
sualien. Für 70-80 % der Katholiken ist aber nicht nur ein Minimal-,
sondern zugleich ein Partialkonsens konstitutiv. Damit meint der Vf.
>,ein je bestimmtes Mischungsverhältnis von Konsens und Dissens"
(110) in bezug auf die Inhalte des Glaubens. Diese These kann nur
aufgestellt werden, weil Vf. sozusagen als Gipfelpunkt des Glaubens
einen Maximalkonsens annimmt, dem zwischen 4 und 20 % zugerechnet
werden. Diese Differenzierungen, besonders die Unschärfen
bei der Bestimmung des Maximalkonsenses machen deutlich, daß
eine quantitative Betrachtungsweise nicht ausreicht, sondern qualitative
Gesichtspunkte schon immer mit eine Rolle bei der Analyse
spielen. Vf. erklärt zwar, daß „(e)mpirische Ergebnisse .. . nicht unmittelbar
als normative Aussagen zu interpretieren" (530 seien. Seine
Begrifflichkeit legt aber das Urteil nahe, daß von vornherein mit einer
Verschränkung von normativen und empirischen Kategorien gearbeitet
wird. Nur aus diesem Grunde kann später auch die These von
der „Hierarchie der Wahrheiten" (vgl. bes. 21 lf) ohne sonderliche
Schwierigkeiten zur Interpretation des Konsensusphänomens verwendet
werden.

Es wäre nun allerdings zu einfach, an dieser Stelle von Anfang an
eine methodische Inkonsequenz des Buches zu sehen. Denn Vf. vertritt
die Auffassung, daß „Theologie und empirische Wissenschaft
nicht... völlig getrennte Wirklichkeitsbereiche" zum Gegenstand
hätten, sondern „als verschiedene Aspekte des Bemühens um die eine
Wirklichkeit" (263) zu verstehen seien. Der tragende methodische
Grundgedanke ist darum auch gar nicht die Unterscheidung zwischen
normativen und faktischen Aussagen, sondern die Unterscheidung
zwischen innerem und äußerem Glaubensvollzug (vgl. 50ff).

Dies meint zunächst einmal die Unterscheidung zwischen (nicht
unmittelbar zugänglichem) Glaubens-Sinn und einheitlicher Glaubensäußerung
der Gläubigen, die auch empirischer Beobachtung zugänglich
ist. Dementsprechend sind die Feststellungen fahrung der
Ubereinstimmung (bzw. Nichtübereinstimmung) des Glaubenden

mit anderen Glaubenden in dem Ja und über dem Ja des Menschen
zu Gott" (50). Die Ebene der Quantitäten ist also gleichsam nur die
Oberfläche, deren Bedeutung sich erst dem tieferen Blick erschließt.
Sie umfaßt den welthaft-sichtbaren Bereich. Vorsichtig wird zur Interpretation
des zweiseitig zu verstehenden Glaubens der Begriff des
Sakramentes herangezogen (55).

Mit der Unterscheidung von innerem und äußerem Glaubensvollzug
eröffnet sich die Möglichkeit, das Problem des Pluralismus in der
Kirche unter anthropologischen Gesichtspunkten (bei besonderer Berücksichtigung
soziologischer und psychologischer Aspekte) zu erörtern
. Der Glaube kann als Phänomen des menschlichen Lebens begriffen
werden. Minimal- und Partialkonsens sind gewissermaßen
normale Erscheinungsweisen des Glaubens, zu verstehen als mehr
oder weniger intensive Realisationen im sozialen Umfeld. Auch der
Maxi mal konsens ist in diesem Rahmen nicht die Zustimmung zu
einem Summarium, sondern situationsgerechte umfassende Glaubensantwort
, was u.a. die Notwendigkeit einer Pluralität von Maximalkonsensen
ins Blickfeld treten läßt (vgl. 193ff).

Vf. läßt es allerdings bei diesen Überlegungen nicht bewenden. Er
bringt vielmehr das Problem der Normativität erneut ins Spiel, und
zwar dadurch, daß der Glaubenskonsens als Wahrheitskriterium geltend
gemacht wird. Danach ist dieser nicht nur Folge, sondern zugleich
Ursprung und Quelle der Gotteserfahrung. Dem äußeren
Glaubensvollzug kommt eine konstitutive Bedeutung bei. Vf. behauptet
dies freilich nicht in bezug auf die Stufen des Konsenses, sondern
in bezug auf den allgemeinen Glaubenskonsens, der sich ,„in
universaler, moralischer Einmütigkeit'" (57) äußert. Leider verzichtet
der Vf. darauf, diesen Gedanken mit seinen sonstigen Äußerungen
zur Normativität zu verbinden. Er verzichtet insbesondere darauf,
sich an dieser Stelle noch einmal Klarheit über den doch von ihm intendierten
Zusammenhang von Theologie und Sozialwissenschaft zu
geben. Es hat vielmehr den Anschein, als ob es ihm nur auf die Einbeziehung
empirischer Ergebnisse in eine theologische Theorie ankäme
, nicht aber zugleich auf eine Aufarbeitung unterschiedlicher
theoretischer Ansätze. Die weitere Durcharbeitung des Konsensusproblems
bestätigt dies. Weil der sowohl normative als auch faktische
universale Glaubenskonsens die maßgebliche Kategorie ist, muß
alle Dissenserfahrung auf ihn hin vermittelt werden, ohne daß andere
Möglichkeiten noch ernsthaft in Betracht gezogen werden können.

Die doppelte Bestimmung des universalen Konsenses als normativ
und faktisch hat für den Vf. eine zweifache Einsicht zur Folge, die
freilich weniger für die empirische als die dogmatische Fixierung des
Konsensusproblems von Bedeutung ist. Einmal ist es unzureichend,
nur die lehramtlichen Äußerungen zur Kennzeichnung des universalen
Konsenses heranzuziehen. Der consensus fidelium ist von gleicher
grundlegender Bedeutung. Zum anderen reicht es nicht aus,
Weite und Umfang des universalen Konsenses als konstitutive Merkmale
zu betrachten. Es kommt vielmehr auf eine Übereinstimmung
in den Grundsachverhalten des Glaubens an, auf einen „Glaubensgrundkonsens
" (78), der im weiteren besonders durch Erläuterungen
zur „Kurzformel des Glaubens" (bes. 183ff) näher präzisiert wird.
Weil es möglich ist, den Minimal- wie den Partialkonsens von hier
aus zu interpretieren, kann die soziale Differenzierung in der Kirche
nicht ohne weiteres als Indiz für deren Krise genommen werden. Wie
Vf. im Schlußteil näher ausführt, bedarf es aber erheblicher Veränderungen
in der gemeindlichen Praxis.

Es ist unbestreitbar, daß Vf. mit seiner Theorie des Konsensus eine
differenzierte, allerdings stark von einer bestimmten Ontologie geprägte
Analyse des gegenwärtigen katholischen Christentums in der
Bundesrepublik gelungen ist und daß überlegenswerte Anstöße zur
theologischen Bewältigung der bestehenden Lage gegeben werden. Zu
fragen ist jedoch, ob die Absicht, das Phänomen des Pluralismus in
der Kirche zu erhellen, in genügendem Umfange bewältigt wurde.
Wenn Pluralismus in allererster Linie Wertpluralismus bedeutet,
dann ist zu konstatieren, daß davon in dem Buche nicht eigentlich die
Rede ist. Alle Wertpluralität wird vom letztlich doch konstitutiven