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Ausgabe:

1981

Spalte:

433-434

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Leinweber, Winfried

Titel/Untertitel:

Der Streit um den Zoelibat im 19. Jahrhundert 1981

Rezensent:

Lell, Joachim

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 6

434

wäre hinreichend Material und Analyse beisammen, um extrapolieren
zu dürfen und um ein Gesamtbild zu zeichnen von den religiösen
Basisverhältnissen in den deutschsprachigen Ländern zur
fraglichen Zeit. Erst dann hätte die Kirchengeschichtsschreibung
das kirchliche Leben, wie es wirklich gelebt worden ist, erreicht
und im Blick.

Bensheim Heiner Grote

Leinweber, Winfried: Der Streit um den Zölibat im 19. Jahrhundert.

Münster/W.: Aschendorff 1978. VIII, 591 S. gr. 8* = Münsterische
Beiträge zur Theologie, 44. Kart. DM 48,-.

Diese sprachlich gewandte und bestens gegliederte pastoraltheologische
Dissertation gibt über das Thema hinaus einen vorzüglichen
Einblick in die kirchengeschichtliche Situation des 19. Jh., „in dem
das Kirchenvolk zum Träger der Geschichte wird und schon deshalb
die im Grunde volksfernen Spätaufklärer keine Zukunft haben sollten
. . ."i. Die Arbeit überschneidet sich mit Paul Picards moraltheologischer
Untersuchung der „Zölibatsdiskussion im katholischen
Deutschland der Aufklärungszeit"2 und kommt „im wesentlichen zu
den gleichen Ergebnissen" (1 f A.3) - trotz des anderen Ansatzes. Sie
•st als notwendige Ergänzung zu sehen, schon weil sie das ganze 19.
Jh. umfaßt, während Picard mit 1849 abschließt. Vf. geht vorsichtig
vor; zumal er von der Fragestellung betroffen ist und sich schon deshalb
unkritischer Parteilichkeit „enthalten" muß. Gleichwohl sieht
er das „Junktim zwischen Priesterberuf und Ehelosigkeit (als) eine
nach wie vor (1978!) offene Frage" an (5).

Der emotionale und aggressive Ton der damaligen Kontrahenten
entspricht dem Zeitgeist, läßt sich von ihren „Voraussetzungen und
Zwängen her... verstehen". Freilich ist angesichts der Fülle der
Zeugnisse aller literarischen Gattungen straff auszuwählen, um wenigstens
zu einer tour d'horizon zu kommen. So werden nicht alle
Themen wertentsprechend behandelt, wie etwa das kanonische Problem
, ob der Zölibat „auf Gesetz oder Gelübde beruht" oder die
Haushälterinnenfrage. Überhaupt enthält sich Vf. nahezu aller Texte
der chronique scandaleuse und betreibt auch keinerlei Schwarzweißmalerei
. Dennoch muß er eine dem affektgeladenen Streit angemessene
Einteilung in Gegner und Verteidiger in Kauf nehmen, auch
wenn erstere „fast alle für eine freiwillige Ehelosigkeit votieren".
Ebenso dürfte es nur generell gelten, daß die Verteidiger im
wesentlichen theologisch, die Gegner mehr oder fast nur politisch -
z- B. von den Menschenrechten her-argumentieren. Die Differenzierungen
erscheinen auch ausreichend sowohl im Text wie in den zum
Teil amüsant ausgewählten Fußnoten.

Den Grundstock für die Thematik und zugleich für die Begrenzung
des Materials bilden je 5 anti- und pro-zölibatäre „Stammtexte",
unter deren Autoren sich Johann Georg Weinmann und Johann
Friedrich von Schulte (contra) sowie Johann Adam Möhler und
Matthias Joseph Scheeben (pro) befinden. Nach deren Vorstellung
(13-25) gliedert sich die Arbeit in einen historischen (26-218), einen
systematischen (219-536) und einen Ergebnisteil (537-561). Die drei
Perioden des historischen Teils: (a) von der Säkularisation 1803 bis
zur Juli-Revolution 1830 mit landsmannschaftlichen und konfes-
sionskundlich interessanten Besonderheiten; (b) von 1832 bis zum I.
Vatikanischen Konzil mit prägnanter Schilderung der Synodalen, Politiker
und Schismatiker und Exkurs über die „glücklichen Büßer",
wie er die Umfaller von contra nach pro nennt; (c) nach dem [. Vatikanischen
Konzil mit der Abwanderung der Altkatholiken und dem
Kulturkampf. Nachgetragen für den ganzen Zeitraum sind die Stellungnahmen
der Hierarchie. - Diese drei Perioden der Zölibatsdiskussion
mit vielen Texten und zurückhaltenden eigenen Überleitungen
bieten wichtige Einblicke in die deutsche Kulturgeschichte des
'9. Jh., an dessen Ende der Zölibat „gefestigter dastand als hundert
Jahre zuvor" (218).

Auch der systematische Teil beschränkt sich nicht nur auf die Auswertung
der zehn Stammschriften, wenn er Antworten sucht auf die
Frage nach dem Kirchenbegriff, nach der Normativität der Heiligen
Schrift und ihrer Spannung zum gesetzlich fixierten Zölibat, nach der
Instrumentalisierung der Geschichte und schließlich nach dem Verhältnis
der Autoren zu ihrer eigenen geschichtlichen Epoche (219).

Thematisch werden u.a. anti- und pro-priesterliche Ehe und Ehelosigkeit
nach der Heiligen Schrift (269ff), die gegenwärtige Eheauffassung
und ihre Wirkung auf die Zölibatsdiskussion (322 ff), das Priesterbild
(393ff), Zwang und Freiheit der Ehelosigkeit (432ff), der Zölibat
als Politikum (456fl), die Zölibatsgegnerschaft im „Reformpaket"
des 19. Jh. (498) behandelt. Eine Synopse von typischen Pro- und
Contra-Argumenten liest sich wie ein aufregendes Repertorium und
zwingt den Leser zu eigener Stellungnahme.

Das Ergebnis des Autors mündet in die lapidare Feststellung, die
mit der Picards konvergiert: Schwache theologische Herausforderung
sowie Mangel an kirchlicher wie weltlicher Ehespiritualität waren
„nicht geeignet, eine theologisch einwandfreie Zölibatsbegründung
zu provozieren" (545). Folglich war auch die Hierarchie im Blick auf
eine Zölibatsaufhebung „überfordert"; womit der Wert theologischer
Auseinandersetzungen für lehramtliche Entscheidungen unterstrichen
wird. „Als die Kirche in das 20. Jh. eintrat, stand also die Zölibatsfrage
weiterhin unaufgearbeitet an; sie war, wie sich sechzig Jahre
später herausstellte, nur vertagt worden" (546).

Heute wie damals entzündet sich der Streit einmal an der widersprüchlichen
Begründung des Junktims: „wer Priester werden will,
muß Zölibatär werden" oder nur „wer Zölibatär ist, kann Priester
werden". Zum anderen ist „die aus dem Eheverbot gefolgerte Diskriminierung
der Ehe" auch durch die relative Autonomie der irdischen
Wirklichkeiten des II. Vatikanums (Gaudium et spes) noch nicht beseitigt
worden (554). „Will man nicht die Verheirateten zu Christen
zweiter Wahl stempeln", dann ist - Vf. drückt sich sehr vorsichtig aus
- „zu überlegen, ob man nicht besser eine Über- und Unterordnung
von Jungfräulichkeit und Ehe . .. aufgeben sollte, wenn man nicht die
Entwicklung einer der priesterlichen Spiritualität gleichwertigen,
aber andersartigen Laienspiritualität behindern will" (557).

In einem Ausblick plädiert Vf. für die Auswahl der Priester aus Zölibatären
, um seiner Kirche den Vorwurf der Gesetzlichkeit und des
Eingriffs in ein fundamentales Menschenrecht zu ersparen. Dann
könnte die Kirche die kleine Zahl zölibatärer Priester bestimmten
Amtsformen vorbehalten, in die sie schrittweise beruft. Derart das
Charisma ernstnehmend, kann sie auf gesetzliche „Garantien" verzichten
und „der Typenvielfalt von verheirateten und ehelosen Priestern
eine Bereicherung (und nicht eine Verarmung) für die Pastoral
und für die Glaubwürdigkeit ihrer selbst" zutrauen. Ja, die Kirche als
solche könnte „zölibatärer" werden im Sinne einer Metanoia „zu
einer eschatologisch motivierten Distanz zu Besitz, Geschlechtlichkeit
und Macht überhaupt". In einem Klima des „Haben als hätte
man nicht" würden wohl immer einige Glieder der Kirche das, was
dann überall, auch in allen Ehen als Komponente wirksam ist, zur
Lebensform ihres Berufes machen (558-61).

In diesen Andeutungen liegen Ansätze für eine Weiterführung der
steckengebliebenen Diskussion des 19. und 20. Jh. - die aber nicht
mehr innerkatholisch allein zu führen sein dürfte. Hierzu müßten
orthodoxe und evangelische Erfahrungen von Priester- bzw. Pfarrerehen
eingebracht werden. Denn wenn es stimmt, daß den bisherigen
Diskussionen die nötige Ehespiritualität wie eine weltliche Spiritualität
überhaupt gefehlt hat (546) - der Rez. stimmt hier weithin zu -
dann hat es keinen Sinn, die alten Platten mit entschärften Tönen erneut
abzuspielen, dann muß vielmehr die ganze Pro- und Contra-
Vielfalt christlicher Ehespiritualität ins Spiel gebracht werden.

Bensheim Joachim Lell

1 Erwin Iserloh in seiner Rezension des Buches in ThRev 74, 1978 Sp. 456fT,
hier: 457.

1 Vgl.ThLZ 103, 1978 Sp. 136fr.