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Ausgabe:

1981

Spalte:

421-423

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schottroff, Luise

Titel/Untertitel:

Jesus von Nazareth, Hoffnung der Armen 1981

Rezensent:

Haufe, Günter

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 6

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aktuellen Glaubenslebens der christlichen Kirchen, Gruppen und
Menschen der ganzen Welt sowie der Denkweise außerchristlicher
Religionen, Philosophien, Gesellschaftslehren, -Systeme und
-Praktiken usw. fruchtbar machen, sofern diese ,Jesus' und „Jesus
Christus' in ihrer Gedankenwelt irgendwie Raum geben. Auch deren
Vertretern soll darum in der Reihe das Wort gegeben werden.

•m Rahmen dieses Programms nimmt sich nun freilich Pierre Gre-
'ots. Professor am Institut Catholique zu Paris, eng spezialisierte Arbeit
seltsam genug aus. Sie stellt die Texte und Traditionen der jüdischen
apokalyptischen Literatur von Daniel bis zu den späten Apokalypsen
und den Sibyllinen, der jüdisch-hellenistischen Literatur
(einschließlich Philo und Josephus), der Talmudim, Mischna und
Midraschim, die sich auf die Erwartung einer messianischen Gestalt
beziehen, in französischer Übersetzung zusammen und kommentiert
sie durch Einordnung in zeitgeschichtliche Zusammenhänge. Den
schwierigen Überlieferungs-, Datierungs-, Zuweisungs- und Textproblemen
dieser z. T. ja nur in entlegenen alten Übersetzungen oder
fragmentarisch erhaltenen Literatur trägt der gelehrte Semitist und
Orientalist gebührend Rechnung; vorhandene Übersetzungen in moderne
Sprachen macht er sich für die seine zunutze.

Das Buch schließt mit einer knappen Zusammenfassung der aus
dem vorgelegten Material sich ergebenden jüdischen Messiaserwartung
in ihren konstanten und (vor allem in der Zeit vor und bis Jesus)
äußerst variablen Elementen und erörtert in Kürze das Problem, wie
Jesus sich selbst und wie das apostolische Zeitalter ihn in dieses jüdische
Glaubens- und J-Ioffnungs-Schema einordnete. Man wird also
doch sagen müssen, daß das Buch mehr dem an historischer Spezial-
fbrschung Interessierten als der Vermittlung christologischer Aussagen
an moderne christliche und außerchristliche Glaubens- und
Denkweisen dienlich sein kann. Denn wo ist, selbst unter Juden, das
beschränkte Bild der Messias-Erwartung, wie sie sich in jenen alten, z.
T. ganz entlegenen apokalyptischen und anderen Texten und Traditionen
darstellt, noch lebendiger Glaubens- und Denkinhalt?

Daß das Buch dagegen als bequeme Zusammenstellung eines überlieferungsmäßig
und sprachlich auch für den neutestamentlichen
Spezialisten z. T. schwer zugänglichen Materials, das sonst in verstreuten
, z. T. gar nicht mehr (oder noch nicht wieder) greifbaren wissenschaftlichen
Veröffentlichungen vorliegt, höchst willkommen, bequem
und nützlich ist, darf man dem gelehrten Vf. dankbar bescheinigen
. Das gilt nicht zum wenigsten im Hinblick auf die Anmerkungen
, die die zur Sache gehörende Literatur so reichhaltig notieren,
daß die Nachprüfung an den Originaltexten und deren wissenschaftliche
Bearbeitung überall leicht möglich ist.

Konrad Weißt

Schottroff, Luise, u. Wolfgang Stegemann: Jesus von Nazareth -
Hoffnung der Armen. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz: Kohlhammer
1978. 164 S. 8-= Urban-Taschenbücher, 639: T-Reihe. Kart. DM
12,-.

Wenn nicht alles trügt, kündigt sich in der jüngsten exegetischen
Literatur eine neue Fragestellung an: die sozialgeschichtliche. In diesem
Zusammenhang verdient das hier anzuzeigende Taschenbuch
besondere Beachtung, muß man ihm doch bescheinigen, daß es diese
neue Fragestellung exemplarisch und mit methodischer Konsequenz
vorzuführen vermag. Trotz der Doppelverfasserschaft (Kap. 1 und 2
von L. Schottroff, Kap. 3 von W. Stegemann) liegt dem Ganzen ein
einheitlicher methodischer Ansatz zugrunde, den L. Schottroff unter
dem Thema: ..Historischer Jesus oder älteste Jesustradition" als
„Einführung in dieses Buch" auf den Begriff zu bringen versucht
(9-15). Ausgangspunkt ist die Einsicht, daß man sinnvollerweise
nicht vom historischen Jesus und seinen Worten, sondern von der
ältesten Jesusbewegung bzw. von der ältesten Jesustradition reden
sollte. Dementsprechend sind die Evangelien nicht als Sammlungen
von Worten des historischen Jesus, sondern als „Darstellungen von

Erfahrungen in der Nachfolge Jesu in verschiedenen historischen
Etappen des frühen Christentums" entstanden. Sie sind „Produkt
einer Geschichte der Jesusbewegung" (13). Um diese Geschichte und
die in ihr gemachten Erfahrungen zu verstehen, bedarf es neben der
Kenntnis der religiösen und politischen Umwelt vor allem der Kenntnis
der sozialen Situation der entsprechenden Gesellschaft. Methodisch
bedeutet das eine Ausweitung der formgeschichtlichen Fragestellung
: die Frage nach dem „Sitz im Leben" darf nicht nur religiösen
und literarischen Institutionen gelten, sondern muß „auch das
Leben in seinen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen berücksichtigen
" (14). Das exegetische Ergebnis vorwegnehmend wird festgestellt
: „Jesusnachfolge ist ein Weg, der Menschen zusammengeführt
hat, die in Not waren." So geht es beiden Verfassern um den
„notwendigerweise unvollständigen Versuch, die sozialgeschichtliche
Dimension der Nachfolge Jesu genauer in den Blick zu bekommen
" (14).

Kap. 1 („Den Armen wird das Evangelium gepredigt". 9-53) untersucht
nach sozialgeschichtlichen Informationen zu den Personengruppen
der Zöllner, Sünder, Dirnen, Bettler und Krüppel die älteste
Jesustradition nach ihrem Sitz im Leben der Gesellschaft. Als zentrale
Texte dieser ältesten Traditionsschicht werden solche Texte einander
zugeordnet, die durch gleichen sozialen Hintergrund und gleiche
religiöse Erwartung verbunden sind: die Seligpreisung der Armen
(Lk 6,200, der Kamelspruch (Mk 10,25), der Spruch von den
Letzten und Ersten (Mt 20,16), die ursprüngliche Erzählung vom reichen
Mann und armen Lazarus (Lk 16,19-26), das Magnificat (Lk
1,46-54), Sprüche über Zöllner und Sünder (Mt 11,19; 21,31 Mk
2,14-17). Diese Texte verbindet, daß in ihnen direkt oder indirekt die
soziale Umkehrung als eschatologischer Hoffnungsinhalt verkündet
und Jesus als Messias der Armen begriffen wird. Die Jesusbewegung
tritt mit dem ungeheuren Anspruch auf, „daß Gott auf der Seite derer
ist, denen es in ihrem Leben am elendsten geht" (51).

Kap. 2 („Schafe unter Wölfen", 54-88) untersucht die Wanderpropheten
der Logienquelle, die als „nichtseßhafte Prediger eines baldigen
Weltendes" die nächste historische Etappe der Jesusbewegung repräsentieren
. Hier geht es schwerpunktmäßig um die Angst der kleinen
Leute, die von der Sorge um das Existenzminimum und vom
Märtyrertod bedroht sind und deshalb zum bedingungslosen Vertrauen
auf Gottes Macht und Fürsorge aufgerufen werden (Mt
6,25-33; 10,28-31). Konkreter Kommentar dazu ist die Ausrüstungsregel
der Botenrede (Mt 10,8-10). Eine alternative Verhaltensweise
für Reiche wird nicht reflektiert; Gott und Besitz sind eine unüberbrückbare
Alternative (Mt 6,24). Entsprechend sind die Versuchungen
der Versuchungsgeschichte als ernstzunehmende Herausforderungen
der Jesusnachfolger zu verstehen, die zelotische Herrschaftshoffnungen
und römische Ideologie im Blick haben. Die seliggepriesenen
Armen sind nun die verfolgten Jesusboten, die ihren Verfolgern
mit Gewaltverzicht und Feindesliebe begegnen und zugleich
Israel mit ihrer Gerichtspredigt zur Umkehr rufen.

Kap. 3 („Nachfolge Jesu als solidarische Gemeinschaft der reichen
und angesehenen Christen mit den bedürftigen und verachteten Christen
", 89-153) analysiert die soziale Botschaft des Lukasevangeliums.
Den Einstieg bietet die Differenzierung der Zuhörer in Jesus-Jünger
und Volksmenge gerade bei Texten zum Thema Armut/Reichtum
(Feldrede; Lk 12). Die freiwillige Armut der Jesus-Jünger - negatives
Beispiel: der reiche Jüngling - gehört zwar der Vergangenheit an, hat
aber eine aktuelle Bedeutung als literarisches Ideal, das die Funktion
der Kritik an den reichen Christen zur Zeit des Lk besitzt und sich
darin eng mit Lebensstil und Botschaft des Kynikers berührt.
Namentlich im Verhalten der Pharisäer und Schriftgelehrten sollen
sich die wohlhabenden und angesehenen Christen wiedererkennen.
Darüberhinaus hat Lk auch direkt ihr Verhaltensdefizit im Blick
(8,14; 16,14f; 12,15-21). Erzählungen wie die vom großen Gastmahl
und vom reichen Mann und armen Lazarus wollen sie warnen, zur
Umkehr bewegen. Endlich sind Texte wie 19,1-10; 3.10-14, verschiedene
Aussagen über das Almosengeben und Apg 20,33-35 als