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Ausgabe:

1981

Spalte:

375-378

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Titel/Untertitel:

Kirche und ältere Generation 1981

Rezensent:

Buske, Norbert

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 5

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stungen der beteiligten Sozialisationsträger". Seine These begründet
er ausführlich und macht Erkenntnisse der Soziologie fruchtbar für
die Aufgaben der religiösen Sozialisation in der pastoralen Praxis. Er
beleuchtet das Interaktionsfeld, die Unterscheidung von Primär- und
Sekundärgruppen, die soziale Differenzierung und unterschiedliche
Relevanz der Sozialisationsträger, die Dauer des Sozialisationspro-
zesses; er illustriert die Ergebnisse mit mehreren Schemata, um
schließlich die verschiedenen Wirkungseffekte der einzelnen Sozialisationsträger
zu analysieren. Den Höhepunkt bilden seine Untersuchungen
der Familie als Vermittlerin kirchlich-religiöser Inhalte
(75ff) und seine Darlegungen zum wahrhaft spannunggeladenen Problem
: „Religiöse Sozialisation und freie Entscheidung" (103ff). Die
Analyse der Wechselwirkungen zwischen Familie und religiösen Organisationen
berücksichtigt „die Zusammenhänge zwischen einer
komplexen Organisation (=Kirche) und einer Gruppe (=Familie)"
(90). Die Wirkungsweise und die Wirkungsintensität der verschiedenen
Determinanten läßt keine Möglichkeit einer wirklich freien
Entscheidung zu. Alle Entscheidungen sind in eine bestimmte soziale
Umwelt mit ihren speziellen Einflüssen eingebettet. Fazit: „Die Ergebnisse
der kirchlichen Sozialforschung sprechen eindeutig gegen
eine idealistische Verkennung menschlicher Freizeit in religiösen Belangen
. Eine religiöse Entscheidung ist in hohem Maß von im lebensgeschichtlichen
Prozeß sozialisierten Dispositionen abhängig" (103).

Weil das so ist, darum hängt auch das Bleiben bei der anläßlich der
Firmung gefällten religiösen Entscheidung vom weitergehenden
.„Funktionieren' oder .Nichtfunktionieren' kirchlich-religiöser Sozialisation
im Verlauf der gesamten Lebensgeschichte des jeweils Betroffenen
" ab (119). Von diesem Leitgedanken ist bestimmt, was Vf.
im abschließenden Teil III über „Konsequenzen für die Praxis der
Firmung" erhebt (122ff). Von theologischem Gewicht bleibt die bereits
im Teil I festgestellte „Rückbindung der Firmung an die Taufe"
(126). Wenn die Firmung nicht nur zur Initiation gehört, sondern
Initiation ist, dann ist nicht so sehr die viel diskutierte Frage nach
dem Lebensalter für die Firmung wichtig, sondern die Praxis aus der
Erkenntnis der Wirkung von Sozialisationsträgern auf die Gelegenheiten
und das Funktionieren der die Firmung vorbereitenden religiösen
Sozialisation. Bedenkt man, daß einer personalen Glaubensentscheidung
„in der Regel ein langwieriger Prozeß kirchlich-religiöser
Sozialisation vorausgeht" (142), so kommt der Analyse dieses
Prozesses und der sorgfältigen Beachtung der Rollenfunktion der verschiedenen
Sozialisationsträger großes Gewicht zu. Vf. stellt sich dieser
Aufgabe mit großem Engagement und läßt seine Untersuchungsergebnisse
einmünden in eine „Kritische Auseinandersetzung mit
einem pastoralen Neuansatz aus der Diözese Rottenburg" (158ff). Er
vermittelt damit zweifellos gewichtige Erkenntnisse für die pastorale
Praxis der Firmung.

Erlangen Bernhard Klaus

Becker, K. F., A. Angleitner, H. Grainbach u. R. Schmitz-Scherzer:
Kirche und ältere Generation. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz:
Kohlhammer 1978. 168 S. 8' = Kohlhammer Urban-Taschenbücher
, 608: T-Reihe. Kart. DM 14,-.

Bei der hier vorgelegten Studie handelt es sich um die bisher umfangreichste
und wichtigste sozialpsychologische Untersuchung zum
Verhältnis zwischen Kirche und älteren Menschen in der BRD. An
dieser interdisziplinären Arbeit waren außer einem Theologen (Bek-
ker, Vorsitzender der von ihm begründeten EKD-Arbeit mit der älteren
Generation) mehrere Psychologen beteiligt, die sich vor allem mit
Persönlichkeitspsychologie (Angleitner, Univ. Bonn), Entwicklungsund
Pädagogischer Psychologie (Schmitz-Scherzer, Univ. Bonn) beschäftigen
, beziehungsweise als Mitarbeiter einer Kurklinik (Grainbach
, Bad Berleburg) tätig sind. Dabei ergab es sich von selbst, daß
vor allem jene Aspekte der Alternsforschüng berücksichtigt wurden,

die sich aus den Forschungen der „Bonner Schule" ergeben. Theologisch
schließt sich die Untersuchung an die Arbeit von Arnd Hollweg
' an. Von daher wird die berechtigte Forderung der Vff. nach
empirischer Anthropologie für den Bereich der Praktischen Theologie
sofort verständlich.

Insgesamt 445 Personen wurden in den Jahren 1973/74 als Zufallsstichprobe
ermittelt und mit Hilfe eines recht differenzierten, umfangreichen
Fragebogens2 untersucht. Dabei wurden die heute hierfür
üblichen statistischen Verfahren angewandt. Diese breite, empirische
Ausgangsbasis eröffnet die Möglichkeit zur Verallgemeinerung zahlreicher
Beobachtungen. Es wäre zu wünschen, daß ähnliche gründliche
Untersuchungen auch in anderen Ländern durchgerührt würden
, um den speziellen Einfluß der jeweiligen gesellschafts- und
sozialpolitischen Situation genauer und empirisch begründet herausarbeiten
zu können.

Die mit der Untersuchung gewonnene Wirklichkeitsbeschreibung
zwingt zu erheblichen Korrekturen an den innerkirchlichen Vorstellungen
über die Stellung des älteren Menschen in der Gesellschaft
und in der Kirche und weist auf Aufgaben hin, die die Kirche dem
älteren Menschen gegenüber hat. Da der Fragebogen auch Spielraum
zur Kritik an der Kirche ließ, ergeben sich außerdem eine Reihe von
Hinweisen auf spezielle Arbeitsmöglichkeiten der Kirche. Die Vff. erhoffen
sich für ihren Versuch, „daß er - vereinfacht ausgedrückt - den
Kirchgemeinden zur besseren Aktualisierung der Implikationen des
vierten Gebotes hilft" (149). Dafür aber ist es unerläßlich, daß die
Studie zunächst von den theologischen Ausbildungsstätten und den
zentralen kirchlichen Stellen bei ihrer Arbeit berücksichtigt wird. Die
sehr sorgfältig und vorsichtig gezogenen Schlußfolgerungen enthalten
wertvolle Hinweise für die kirchliche Planungstätigkeit.

Die positive Beurteilung, die die Untersuchung im Vorwort durch
Ursula Lehr, Professor für Psychologie in Bonn, erfährt, kann nur
unterstrichen werden.' Lehr hebt dabei die Feststellung besonders
hervor, daß die Bindungen des älteren Menschen an die Kirche nicht
altersspezifisch, sondern im weitesten Sinne sozialisationsbedingt
sind. Es gibt keine sich zwangsläufig entwickelnde Altersfrömmigkeit.
Daher ist es fraglich, ob die heute gewonnenen Untersuchungsergebnisse
, die eine starke kirchliche Bindung der älteren Menschen deutlich
machen, auch für den älteren Menschen von Morgen gültig sind.
Die starke kirchliche Bindung des älteren Menschen heute ist deshalb
als ein besonders wertvolles Gut zu verstehen. Diese Feststellung entspricht
genau meiner vor einigen Jahren vorgetragenen These, daß es
in allernächster Zeit für die Wirksamkeit der Kirche und ihre Beteiligung
an der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung wichtig sein
wird, sagen zu können: Ein großer Teil der älteren Menschen gehört
zu uns.4

Zu den vordringlichsten Aufgaben angesichts des in der Untersuchung
behandelten Problemfeldes gehört die gut herausgearbeitete
Notwendigkeit, weitverbreitete, meist negative Altersstereotypen abzubauen
. Eine bedauerliche Veranschaulichung für diese Notwendigkeit
sei hier, nachdem der Evangelische Erwachsenen-Katechismus5
in diesem Zusammenhang eine durchaus berechtigte, positive Würdigung
erfährt, angefügt. Es handelt sich um das Glaubensbuch „Aufschlüsse
"6, das in der Untersuchung noch nicht genannt werden
konnte. Im Zusammenhang mit dem Unterricht im Fach „Allgemeine
Gerontologie" im Rahmen der entsprechenden diakonischen
Spezialausbildung7 sind die „Aufschlüsse" daraufhin durchgesehen
worden, welches Bild vom alternden Menschen in diesem Buch deutlich
wird. Aus den zum Teil zufälligen Bemerkungen - das Thema
wird hier nicht gesondert behandelt - ergibt sich ein durch Klischeevorstellungen
geprägtes, deprimierendes Bild, das Befürchtungen
nährt und Angst vor dem Altwerden erzeugt. Wir werden auf die verzerrten
Vorstellungen vom alternden Menschen, die den Hintergrund
für die zweifellos gut gemeinten Aussagen bilden, in anderem Zusammenhang
genauer eingehen. Mit dieser negativen Charakterisierung
eines Aspektes am Rande der „Aufschlüsse" sollen andere, durchaus
positive Züge dieses Buches jedoch nicht geschmälert werden.