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Ausgabe:

1981

Spalte:

360-362

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Thilo, Hans-Joachim

Titel/Untertitel:

Ehe ohne Norm? 1981

Rezensent:

Trillhaas, Wolfgang

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359

Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 5

360

Systematische Theologie: Ethik

Peiter, Hermann: Theologische Ideologiekritik. Die praktischen
Konsequenzen der Rechtfertigungslehre bei Schleiermacher. Göttingen
: Vandenhoeck & Ruprecht 1977. 133 S. gr. 8°= Studien zur
Theologie und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, 24. Kart.
DM 29,-.

Hermann Peiters Spezialgebiet ist die theologische Ethik Schleiermachers
. Er hat 1969 als Anhang zu seiner bei der Berliner Humboldt-
Universität eingereichten Habilitationsschrift eine kritische, nach
den handschriftlichen Quellen erarbeitete Ausgabe der christlichen
Ethik Schleiermachers vorgelegt, die leider bisher ungeflruckt geblieben
ist. In der vorliegenden Arbeit versucht er, Schleiermachers Gedankengut
für die Bewältigung heutiger ethischer Probleme fruchtbar
zu machen, genauer, als Beitrag zu einer von der Rechtfertigungslehre
her bestimmten theologischen Ideologiekritik. Dabei gilt Ideologie als
eine Unternehmung, die auf geistigem Wege eine bestimmte Vergangenheit
, Gegenwart oder Zukunft zu rechtfertigen versucht. Sie ist
intellektuelle Selbstrechtfertigung oder „auf die theoretische Ebene
gehobene Werkerei" (18), der die lutherische Rechtfertigungslehre
dann als Ideologiekritik im umfassenden Sinn entgegengesetzt werden
kann, da sie ja unter Rechtfertigung immer Rechtfertigung durch
einen anderen, durch Gott in Christus, versteht. Und dazu soll nun
Schleiermacher, insbesondere seine Gedanken zur Ethik, als Beispiel
dienen.

Dies geschieht im zweiten Paragraphen, in dem P. herausarbeitet,
daß bereits die philosophische Ethik Schleiermachers den Menschen
selbst als eine gegebene Einheit von Vernunft und Natur und damit
als Voraussetzung, nicht als Produkt des ethischen Prozesses versteht.
Dieser Ansatz der Ethik bei einer im Grunde schöpfungstheologischen
Aussage entspricht dem Grundgedanken der Rechtfertigungslehre
, nämlich ihrer Ablehnung der Rechtfertigung durch die eigenen
Werke des Menschen (wobei freilich P. die Sache allzu forsch auf die
Spitze treibt und den Gedanken einer Bildung des Menschen im ethischen
Prozeß überhaupt ablehnt [25]). Auf den grundsätzlichen
ersten Teil des Buches folgt ein zweiter Abschnitt, der dem Gesetzesbegriff
gewidmet ist. Hier geht der Vf. auf Schleiermachers Katholizismuskritik
ein, die er vor allem als Kritik an elitären Herrschaftsstrukturen
versteht. Eine generelle Verwerfung des Gesetzes durch
Schleiermacher folgert P. aus dem Zusammenhang von Urbildchri-
stologie und Ethik (wobei er merkwürdigerweise Ablehnung des ter-
tius usus und Antinomismus gleichsetzt). Schließlich wird noch die
antikantianische Entscheidung Schleiermachers für eine Seins- und
gegen eine Sollensethik als Beleg für seine Stellung zum Gesetz angeführt
. Der folgende Teil (III) ist dem darstellenden Handeln, einer der
Grundkategorien der christlichen Sitte gewidmet. Wesentlich für P.s.
Thematik ist dabei: Darstellendes Handeln steht nicht unter dem Erfolgszwang
. Es entspricht der Vorwegnahme des „Reichs der Herrlichkeit
" in der triumphierenden Kirche (54). In den folgenden Abschnitten
wendet sich P. dann Einzelproblemen zu: § 8 geht es um Patriarchat
und Demokratie, § 9 um Kirchenausschluß und Lehrstreitigkeiten
, §10 und 11 um das Verhältnis von christlicher Sitte und
Glaubenslehre und das von Lehre und Leben überhaupt. Interessanter
für die Rechtfertigungsproblematik sind die Erörterungen im Abschnitt
VI (Der Verlust der Unmittelbarkeit). Hier geht es um die
„gegen die Kirche gerichtete Ideologiekritik", die sich „im reformatorischen
Handeln" vollzieht (81). Als Quelle wird vor allem Schleiermachers
Auseinandersetzung mit dem Problem der Reformation in
der christlichen Sitte verwendet. Dabei ist P.s Anliegen, gegenüber
dem in der Schleiermacherliteratur herausgestellten Kontinuitätsgedanken
reformatorisches Handeln als Handeln des einzelnen auf das
ganze zu begreifen. - Den Schluß der Arbeit bilden zwei Abschnitte
zur Güterlehre Schleiermachers. Sie enthalten eine Auseinandersetzung
mit der Wertphilosophie M. Schelers und gipfeln in dem Versuch
, das Ziel des ethischen Handelns, das „höchste Gut", (gegen
Kant) als ein weltliches, nicht transzendentes zu beschreiben. Auch

hier geht es darum, daß im Sinne Luthers das menschliche Handeln
nur auf die Welt und die Endlichkeit gerichtet sein kann, nicht aber
auf Gott.

Der Rez. freilich muß gestehen, daß ihn diese Veranschaulichung
lutherscher Rechtfertigungslehre durch Schleiermacher nicht zu
überzeugen vermag. Wenn Schleiermacher etwas weiß von dem
durch die Schöpfung begründeten Vorgegebensein des Menschen,
dann ist das eben doch etwas anderes als das Extra-nos der Rechtfertigungslehre
, genau so wie Schleiermachers Modell der beschreibenden
Ethik etwas anderes meint als die mit der Rechtfertigungslehre geforderte
Ablehnung des Gesetzes als Heilsweg. P. bringt fortwährend
Dinge zusammen, die bestenfalls in einer Art Analogieverhältnis
zueinander stehen; auf eine Auseinandersetzung mit der Rechtfertigungslehre
innerhalb der Glaubenslehre verzichtet er dagegen ganz.
Es wird wohl bei der alten Erkenntnis bleiben müssen, daß Schleiermachers
theologische Grundgedanken wenig Raum geben für die
reformatorische Theologie des Wortes und noch weniger für die
luthersche Dialektik von Gesetz und Evangelium. Gewiß ist es sinnvoll
, Schleiermacher mit modernen soziologischen Fragestellungen
zu konfrontieren, auf die Bundesgenossenschaft Luthers freilich wird
man in dieser Sache verzichten müssen. Bei aller Gelehrsamkeit und
interessanten Materialfülle legt man das Buch aus der Hand mit dem
Eindruck, daß hier mehr angedeutet als dargestellt, mehr behauptet
als bewiesen wird.

Karl-Marx-Stadt Friedrich Jacob

Thilo, Hans-Joachim: Ehe ohne Norm? Eine evangelische Eheethik
in Theorie und Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1978.
296 S. 8° Kart. DM 38,-.

In diesem Buche verbinden sich vielfältige Interessen und Themen,
Arbeitsgänge und Gesichtspunkte. Die Ehe ist ja ein Gebiet, in dem
heute die gegensätzlichsten Tendenzen zusammenlaufen: einerseits
leidenschaftliche Abkehr vom Herkömmlichen, andererseits „eine
geradezu ungestüme Sehnsucht nach sehr schnellen und frühen Bindungen
". Die Situation unserer Zeit in ihrer Widersprüchlichkeit, in
ihren Erwartungen, Irrwegen und Möglichkeiten findet in Thilo
einen bewegten, aufgeschlossenen und umsichtigen Interpreten, der
sich ebenso auf eine lange Erfahrung wie auf kompetente Mitarbeit in
der Theorie als Psychotherapeut berufen kann. Die Praxis der
Sprechstunde wie der Beruf des Dozenten, fundierte Theologie wie
der unverstellte Blick in die menschliche Umwelt verleihen dem
Buch seine faszinierende Aktualität. Der angesprochene Leserkreis ist
nicht auf die Fachwelt im engeren Sinne begrenzt, das Buch selbst
maßvoll, immer im besten Sinne belehrend, das tiefenpsychologische
Interesse wiegt natürlich vor, aber es ist überall für das Bedürfnis des
Praktikers hilfreich und anregend und selbst dort, wo es zur Kritik
moralischer (und antimoralischer) Vorurteile eingesetzt wird, in der
Regel überzeugend.

Das Werk ist in neun klar abgegrenzte und in sich geschlossene Kapitel
gegliedert. Sie fordern den Rez. in unterschiedlicher Dringlichkeit
heraus, und ich möchte mich ihnen daher auch sowohl in abgestufter
Intensität wie in veränderter Reihenfolge zuwenden. Das wird
dadurch erleichtert, daß sich diese neun Kapitel in drei Gruppen auseinanderlegen
lassen.

Die beiden ersten Kapitel lenken das Interesse des Lesers auf die
religionsgeschichtlichen und dann, im 2. Kap., auf die neutestament-
lichen Grundlagen unseres heutigen Nachdenkens über die Ehe. Es
handelt sich weitgehend, bes. was das AT betrifft, um Bekanntes, um
die Freilegung eines Reflexionsfeldes für die folgenden Darlegungen,
wie denn der Vf. selbst sich nicht zu tief in die Ausbreitung des Stoffes
einläßt. Ich möchte es mir daher in diesem Zusammenhang auch versagen
, das 2. Kap. „Jesus und die Ehe" (26-45) mit der Sonde der
historischen Kritik zu durchwandern.

Auch die beiden dann folgenden Kapitel bilden in sich eine lockere
Einheit. Im 3. Kap. „Die Wertung der Ehe in der neueren protestan-