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Ausgabe:

1981

Spalte:

9-14

Autor/Hrsg.:

Krause, Gerhard

Titel/Untertitel:

Praktische Theologie als Handlungswissenschaft? 1981

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 1

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Praktische Theologie als Handlungswissen schaft?*

Von Gerhard Krause, Bonn

„Grundriß" meint hier keine Variante der fast klassischen Studienbücher
Praktischer Theologie (PrTh) von Achelis bis Haendler, sondern
im ursprünglichen Wortsinne: Planskizze eines Neubaus. Fragen
nach der „Praxisfähigkeit der Theologie" und dem „Theologiebedürfnis
der Praxis" zielen auf Theologie als „einem in der Praxis
relevanten Problemlösungsverfahren" (7.60). Integration der Sozialwissenschaften
soll der noch mit unkontrollierten Primärerfahrungen
vorwissenschaftlich arbeitenden Systematischen und besonders der
PrTh wissenschaftliche Kompetenz und interdisziplinäre Kooperationsfähigkeit
verleihen. Die Ausführung läßt auch einen „Beitrag zur
Theorie der Handlungswissenschaften" erwarten. Gegenüber diesem
Fundamental- und Globalprogramm liest man in den es exemplifizierenden
Schlußkapiteln 4 u. 5 längst anerkannte Regeln, z. B. die Kontrolle
von in die Theologie übernommenen sozialempirischen Methoden
durch theologisch bestimmte Zielvorstellungen oder die Gefahr
ideologischer Überhöhung kirchlicher Praxis durch unkritischen
Austausch der Begriffe beider Wissenschaften, so daß sich Fragen
nach der Notwendigkeit und Art des Neubaus aufdrängen. Schwierigkeiten
ihrer Beantwortung löst der Vf. formal so: Er verzichtet aut
systematische, historische oder fachgebietsweise Gliederung zugunsten
„perspektivischer: unterschiedliche Zugangsweisen" eröffnender
Anordnung seiner 5 Kapitel, empfiehlt aber zugleich als „Einstieg"
den „Anhang" (7). der dem recht theoretischen Hauptteil „Überlegungen
zur Praxis volkskirchlicher Gemeinden" (220-242) in lockerer
und erbaulicher Gedankenführung anfügt.

Die beiden ersten Kapitel, Einführungen in die Aufgabe, PrTh als
Wissenschaft zu definieren, und in die ihr Verhältnis zu den Sozialwissenschaften
erörternde theologische Wissenschaftstheorie (9-60).
referieren Aufsätze Systematischer und PrTh aus dem Jahrzehnt
der Hochkonjunktur von Wissenschaftstheorien 1964-1974. Bei den
Systematikern findet Vf. für seine Leitfragen wenig Brauchbares, in
der PrTh jedoch „ Ansätze". Das mag seine (wohl tendenzielle) Auswahl
mitverursacht haben: G. Ebelings Disput mit dem Kritischen
Rationalismus wird skizziert, aber ignoriert werden die einschlägigen
Aufsätze aus „Wort und Glaube III", aus W. Pannenbergs „Wissenschaftstheorie
und Theologie" sogar der für das Thema wichtige
Abschnitt „Soziologie als verstehende Handlungswissenschaft". Die
Verpönung des Begriffs „Hilfswissenschaft" für interdisziplinär in der
Theologie fungierende Humanwissenschaften, weil er „ihr eigenes
Selbstverständnis" übersähe (46), befremdet, denn wie sollte das auch
in anderen Wissenschaften nicht pejorativ, sondern pragmatisch
übliche Wort die doch allein wichtige Sachgemäßheit der Kooperation
hindern? Bedenklicher ist, daß theologische Wissenschaftstheorie
nur im Horizont der Sozialphilosophie erscheint, aber andere
philosophische Richtungen und wissenschaftsgeschichtliche Orientierungen
ausfallen.Vf. findet bei Pannenberg, Sauter, Bastian und
Neidhart eine gewisse Nähe zum Kritischen Rationalismus und in H.
Alberts erkenntnistheoretischem Ansatz - trotz dessen Meinung,
Theologie sei überwindungsbedürftig durch Aufklärung - „einen für
die theologische, insbesondere die praktisch-theologische Theoriebildung
gangbaren Weg", weil sich die von der Kritischen Theorie
„mehr oder minder vernachlässigte" empirische Sozialforschung
„durchaus in Übereinstimmung mit dem Kritischen Rationalismus
befindet" (360, - eine ebenso pauschale wie signifikative Stellungnahme
, denn Alberts prinzipielles Mißtrauen gegen Systematische
Theologie kehrt bei Daiber, wenn auch abgewogener, wieder.

Den Kern des Buches bildet das umfangreichste 3. Kapitel „Die
PrTh als Handlungswissenschaft" (61-139). Der innere Zusammenhang
seiner zehn Abschnitte wird in abschließenden Leitsätzen
durchschaubar und verständlicher zusammengefaßt (139-152). Aul
vorangestellte Erklärungen zum Begriff„Handlungswissenschaft" und
zu „vortheoretischen Basisbedingungen" praktisch-theologischer
Wissenschaft (61-73) kommt Rez. bei der Besprechung der alsdann in

•Daiber. Karl-Fritz: Grundriß der Praktischen Theologie als Handlungswis-
senschaft. Kritik und Erneuerung der Kirche als Aufgabe. München: Kaiser:
Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1977. 263 S. 8" = Gesellschaft und Theologie
. Abt.: Praxis der Kirche, 23. Kart. DM 29,-.

sieben Abschnitten entfalteten „Aufgabenstellung für die PrTh als
Handlungswissenschaft" zurück.

Der schon in der Einleitung als kontrovers angedeutete Gegenstand
der PrTh (74-81) wird definiert als „Praxis von Gemeinden und Kirchen
im jeweiligen Zusammenhang gesellschaftlicher Praxis", darin
„schwerpunktmäßig Praxis kirchlicher und theologischer Berufe"
(74.142). Der von Universität und Kirche erteilte Auftrag zur Berufsausbildung
wird als institutionelle „Basisbedingung" der PrTh ernst
genommen. Entsprechend zieht der Vf. der „spekulativen" Begründung
der praktisch-theologischen Fachgebieteaus den Grundfunktionen
der Kirche ihre „positive" Erklärung aus den Funktionen der
Pfarrerrolle vor (69). Der Gefahr pastoraltheologischer Verengung
soll die Entwicklung von Handlungsmodellen für partnerschaftlich-
gleichrangige Verhältnisse zwischen Amt und Gemeinde begegnen.
Die Gefahr der Verschulung von Wissenschaft verbirgt der gleich tri-
plizitär eingebaute Begriff der Praxis, für dessen vielfältige historische
, philosophische, emotionale und manipulierbare Implikate der
Vf. trotz einiger Hinweise auf seine begrenzte Funktion und seine
dogmatische Dimension (139.172.178) eine präzise Definition vermeidet
. Das hat Folgen. Einerseits wird eine die Kapazitätsgrenzen
überschreitende Ausweitung des Gegenstandes der PrTh abgewehrt,
diejenige auf christlich-religiös-sozialrevolutionäres Handeln (B.
Päschke) als „völlig realitätsfern" verworfen (76) und ausschließlich
auf „Handlungsformen und ihre Bedingungen innerhalb eines einzelnen
sozialen Bereichs", dem der „empirischen Kirche" abgestellt
(73). Andererseits bedarf ein streng auf „kirchliche Praxis" begrenzter
Gegenstagdsbereich doch der Erweiterung: auf die kooperativ mit der
Sozialethik zu bearbeitenden „Gestalten des Handelns aus christlicher
Verantwortung" und „die gesellschaftlichen Folgen kirchlicher
Praxis", besonders aber aus pragmatischen, ekklesiologischen und
hoffnungstheologischen Gründen im Blick auf „Gottes Handeln an
und durch Menschen auch jenseits des kirchlich Üblichen" auf „Formen
christlichen Handelns außerhalb kirchlicher Organisationen"
(80). Ungeklärt bleibt, ob dieser nicht durchweg als empirisch ansprechbare
Gegenstandsbereich aus dem pastoraltheologischen Ansatz
des Vf. motiviert ist, ferner ob er nicht durch das Versäumnis seiner
Integration in das für die Kirche konstitutive Handeln sich zu
selbständigen, uferlosen und willkürlichen Bereichen entwickelt und
damit dem Konzept der PrTh ein bedenkliches einerseits-andererseits
erlaubt.

„Notwendige Interdisziplinarilät" (81-86) fordert der Gegenstand
der PrTh wegen des Ineinanders kirchlichen und christlichen Handelns
mit den anderen theologischen Disziplinen und wegen der komplexen
Bedingungen kirchlichen Handelns mit Human- bzw. Handlungswissenschaften
. Das hat die PrTh immer gewußt. Aber auch zu
dem vom Vf. mit Recht thematisierten Dilemma, das die Überfülle
von Informationen zwischen der Aspektvielfalt der Praxis und der
subjektiven Fassungskraft hervorruft, bringen die vom Vf.
empfohlenen „Lösungen" (Auswahl, reflexiver Dilettantismus, Wissenschaftsorganisation
) nichts Neues. Stößt der Enthusiasmus für
Interdisziplinarität auf die Grenzen der im eigenen Fachgebiet ausgelasteten
Arbeitskraft, wird es in der Regel wohl dabei bleiben: Was
der Praktische Theologe nicht selbst aus andern Wissenschaften erarbeitet
, bleibt Desiderat.

„Die Funktionen der PrTh" (86-90) bestimmt Daiber nicht nach
der Aufgabe der PrTh, sondern nach den Erwartungen kirchlicher
Praktiker an sie, die freilich der Interessen- und Wissenschaftstypologie
von J. Habermas gleichen sollen: Entwicklung handlungsrelevanter
Theorien mit (1) theologisch-wertender Begründung von
Handlungszielen, (2) begrenztem Geltungsbereich, (3) kritischer und
(4) empirischer Orientierung. Den Vorrang soll die kritische Reflexion
bestehender und angemessener neuer Praxis haben. „Theoretische
Einsichten bleiben belanglos, wenn sie nicht in praktikable
Arbeitsformen umgesetzt werden" (89). Ob in dieser theoriegeleiteten
, auf „Praktikabilität" und „Effizienz" fixierten „theologischen
Handlungswissenschaft" (so mehrfach) die unter Studenten, Pfarrern
und Laien nie verstummende Frage, was denn Absolutipn, Doxolo-
gie, Hymnus, Katechismus, Segen, Taufe, Trost, Zorn Gottes usw.
unbeschadet von Praxisarten überhaupt seien, noch Raum hat? Läßt
sich der von allem kirchlichen Handeln intendierte Glaube an Gott in