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Ausgabe:

1981

Spalte:

287-291

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Boff, Leonardo

Titel/Untertitel:

Erfahrung von Gnade 1981

Rezensent:

Sparn, Walter

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 4

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kath. Diskussion um die Rechtfertigungslehre und die entsprechende
Literatur wird nicht eingegangen, obschon doch gerade sie
wichtige Vorstöße gemacht hat zu neuen Rechtfertigungskonzeptionen
- auch was das Wirklichkeitsverständnis des Glaubens betrifft
. Undeutlich bleibt weithin die christologische Grundlegung
der biblisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre bzw. der Bezug
zu ihr. So sehr die CA mit CA IV steht und fällt, steht und
fällt m. E. CA IV mit CA III bzw. mit dem Kernsatz von CA IV:
propter Christum, qui sua morte pro nostris peccatis satisfccit.
Vielleicht könnte man in einem 2. Band die weithin fehlende Auseinandersetzung
mit der Tradition nachholen. Der Gemeindepfarrer
. Religionslehrer und kirchliche Erwachsenenbildner wird
seinerseits erwarten, daß man ihm aufweist, wie er diese Konzeption
in die kleine Münze der Allgemeinverständlichkeit umwechselt
und was sie für seine Praxis - als Argumentationshilfe - austrügt
(in einem .'!. praktisch theologischen Band?).

Wallenhorst Ii. Osnabrück Bors! (Icorg 1'nlilinaim

Hoff, Leonardo: Erfahrung von Gnade. Entwurf einer Gnadenlehre
, übers, v. W. Goldstein. Düsseldorf: Patmos 1978. 323 S.
8 . Kart. DM 34,-.

Das neue Buch des brasilianischen Franziskaners ist für europäische
, insbesondere für protestantische Leser außerordentlich
lehrreich. Begrüßen wird man den Versuch, in der ganzen Fülle
des zeitgenössischen Lebens die Erfahrung von Gnade namhaft
zu machen und zu einer persönlichen und gesellschaftlichen Praxis
zu ermutigen, die der universalen Präsenz der göttlichen Gnade
entspricht. Als problematisch dürften jedoch die theologischen
Mittel empfunden werden, deren sich B.s Analyse und die ihr en1 -
sprechenden Revision des traditionellen Gnadentraktats bedient.
Ihre ungeklärte Verknüpfung klassisch katholischer, spezifisch
protestantischer und modern säkularer Motive rückt die Absieht,
den authentisch theologischen Charakter der „Theologie der Befreiung
" nachzuweisen, ins Zwielicht. Sollte B.s Entwurf ökumenisch
gemeint sein, so verlangt er dem protestantischen Theologen
ruinöse Selbstverleugnung ab.

Der erste Teil, „Das Thema Gnade heute" formuliert im I. Kap.
die Aufgabe, nicht länger bloß abstrakt über Gnade zu sprechen,
sondern die Gnade selbst und konkret sprechen zu lassen (15 ff).
Dies erfordert, wie die Rückschau auf überlieferteGnadenlohren
und ihre psychologischen, metaphysischen, personalistischen oder
strukturell-gesellschaftlichen Ansätze im 2. Kap. (21 ff) and die
Kritik ihrer kulturellen, biographischen und klassenbezogenen
Bedingungsfaktoren im 3. Kap. (34ff) zeigen, die Gnadenlehre auf
ihre Erfahrungsgrundlagen objektiv einzugrenzen und statt der
naturhaften oder metaphysischen Kategorien, die die geschlossenen
Systeme der theologischen Handbücher bislang gebrauchen,
solche des personhaften und geschichtlichen Lebens zur Geltang zu
bringen. Denn eigentümlich moderne Erfahrungen, so das 4. Kap.,
sind die der Säkularität der Welt, der Geschichtlichkeit des Menschen
, der Sakralität der menschlichen Person, der kosmologischen
und gesellschaftlichen Dimension von Gnade und der Universali-
sierung der Sinnfrage bei gleichzeitiger Abnutzung des Wortes
„Gnade" (45ff).

Im zweiten Teil zeigt das 5. Kap., daß „Erfahrung von Gnade"
durch die metaphysische Trennung zweier Seinsbereiche, einer
übernatürlichen und einer natürlichen, gleichsam in sich fertigen
Welt (der gegenüber „Gnade" unvermeidlich als äußerlicher, ja
überflüssiger Zusatz erscheinen muß) geradezu ausgeschlossen wird
(55ff). Gegen sie stellt B. die Einsicht des modernen Denkens, daß
Transzendenz und Immanenz zwei Dimensionen der einen und ursprünglichen
Wirklichkeit, eben des geschichtlichen Lebens, sind
(56), und die Einsicht der modernen Theologie (hier durch Namen
wie H. de Lubac, R. Guardini. K. Rahner repräsentiert), daß schon
der natürliche Mensch keine geschlossene .Natur', sondern ein
„Knoten lebendiger und wirkender Beziehungen" ist und in
„lebendiger Transzendenz" als „Person", d. h. aber immer schon
auf die göttliche Gnade hin ausgerichtet existiert (68f). Daraus
folgt ganz allgemein: „Das konkrete Natürliche ist immer durchhaltet
vom Übernatürlichen" (67), ja : Alle Dinge der Welt sind

immer auch Vermittlungen und „Sakramente der Gnade" (79; 91,
134, 238). Diese Grundthese führt das 6. Kap. im Blick auf die
gegenwärtige, wissenschaftlich-technische Welt durch. Deren
gnadenhaftes ontologischcs Fundament kommt- allerdings je nachdem
, ob es angenommen oder aber Verdrängt wird, auch geschieht -
lieh als „Gnade" oder aber als „Un-Gnade" zur Erscheinung, nämlich
als Vervollkommnung der Welt in „Poesie, Freiheit, Befreiung
und Achtung" oder aber als ihre Zerstörung durch die „Hybris
und Selbstgefälligkeit" von Wissen und Macht und ihrer Projekte
(93ff). Konkreter beantworten das 7. und 8. Kap. die Herausforderungen
der lateinamerikanischen Situation (lülff). FürB. ist
das ,,Gefangenschaftsregime'' (120) der hermeneiit isehen Ort
einer Theologie, der Befreiung unter ausdrücklicher Kritik der
Kirche als „Komplizin der Herrschaft" (114). Seine theologische
Deutung der sog. Dependenztheorie versucht, die befreiende
Dimension des christlichen Glaubens und die utopische Dimension
des historischen Befreiungsprozesses aufeinander zu beziehen
und so dem „Plan Gottes" (125) in der Geschichte nachzuspüren
. Im Ergebnis plädiert B. klar gegen regionale Revolutionen
und, mit Medellin 1968. für eine „neue Glaubenspraxis",
die ein solidarisches Element von Umgestaltung und Befreiung ist
und als solche „revolutionäre Veränderungen im (sie!) System''
(121f), d.h. die allmähliche Uberwindung des Typs von Gesellschaft
bewirken hilft, der vom „Kulturethos" der „kapitalistischen
Mentalität" (129) beherrscht ist. Das 9. Kap. thematisiert schließlich
die Erfahrung von (inade im Konkretesten: in der Ungeschul-
dethe.it, die allen Lebensphänonienen des einzelnen Menschen, wie
zweideutig sie im übrigen auch sein mögen, immer eigentümlich
ist (133 ff).

Die „Theologisehe Entfaltung" des dritten Teils benennt im
10. Kap. zunächst die geschichtliehen Konkretionen der Universalität
der befreienden Gnade: das Leben selbst, die Religion, da«
Christentum als das dichteste und den Tod als das allgemeinst e
Gnadensakrament (17f»ff). Das 11.-14. Kap. legen sie nach Maßgabe
des göttlichen Geheimnisses einerseits, des Abgrunds der
menschlichen Freiheit andererseits aus: „Habituelle Gnade" ist das
„Grundprojekt des Menschen", die einheits- und sinnstiftendc
Option für ein Leben in Offenheit für Gott (182ff). Deren trotz
st »a auftretender Disproportionen zwischen Gesamtvorhaben und
einzelner Tat gelingende Realisierung, d. h. die Erstellung der
persönlichen Identität, ist „aktuelle Gnade" (199ff). Die sozial«
Struktur beider Gestalten der Gnade ermöglicht, daß über da»
persönliche Projekt auch das kulturelle „Projekt der Moderne"
auf den Plan Gottes hin „bekehrt" werden kann (206ff). In ihrer
kritischen Dimension läutert, „rechtfertigt" die Gnade den projektierenden
Menschen und befreit ihn immer neu zu einer Lebensrichtung
auf Gott hin (216ff). Der vierte Teil zeigt dann, „Was i"
der Erfahrung der Gnade von Gott und vom Mensch offenbar wird"-
I in 15. Kap. wird dafür zunächst auf die Tugenden verwiesen, •»
denen, als ontologischen Strukturen, die Gnade sich vielgestaltig
im Mensehen manifestiert (237ff): Glaube, Hoffnung, Liebe,
Freundschaft, Friede, Freude und Heiterkeit, „kritischer Geist-
der die Zukunft befreit" (248), Unerschrockenheit in Verkündigung
und Anklage, „Humor, der die Erlösung antizipiert" (251). I>s
16.-19. Kap. interpretieren die „Fülle der Personwerdung" dann
folgerichtig als „Vergöttlichung des Menschen" (254ff). Die fortschreitende
Teilhabe an der göttlichen Natur, die das geheimst*
Wesen des Menschen verwirklicht, wird weiter in christologiseben
und pneumatologischen Begriffen expliziert (268ff, 283ff). Als Zi«
erscheint schließlich die „Einwohnung der heiligsten Dreifaltigke'1
im Leben der Gerechten": die nicht nur objektive, sondern aud>
subjektive Gegenwart der Gnade im gottförmigen Menschen, <lrf
das Geheimnis seines Selbst im Geheimnis Gottes genießt (297fl')•
Wird B. der Anforderung, der Gnadentraktal m hsse eine ..niyst»'
gogische Einführung in das Entdecken, Verkosten und Benennung
der göttlichen Gnade" (35) sein, selbst gerecht? Tatsächlich benennt
er „Gnade" nicht nur im kirchlichen Christentum, sonder"
auch in der Volksreligiosität (131 f. 148f), nicht nur in den ethischen
, sondern auch in den ästhetischen Lebonsphänomcncn (1"'
75f, 244), nicht nur in der inneren Welt fies Einzelnen, sondern
auch in der äußeren Welt der ökonomischen und politischen Verhältnisse
: im Verlangen nach Befreiung, im neuen sozialen Bewu'3''
sein, im tätigen Zeugnis für die Armen und in der „unbesiegbare"