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Ausgabe:

1981

Spalte:

272-273

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Preussischer Staat und Evangelische Kirche in der Bismarckära 1981

Rezensent:

C., U.

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Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1981 Nr. 4

272

Zeit und „Drittem Reich" gerade aueh die jüngste Phase der
kirchlichen Zeitgeschichte thematisieren möchte, was sich auch
daran zeigt, daß einer der folgenden Bände eine Darstellung des
Problems „EKD und W iederbewaffnung 1949-1956" von H. Vogel
(vgl. 8. 262) ist.

iJer Autor, auch was die Geschichte des Kirchenkampfes angeht,
gründlicher Saehkeimer der älteren Generation, zunächst BK-
i'farrer, trat auf Wunsch von Landesbischof Maraluens 1930
zur Zeit des Keichskircheuausschusses in die Kirchenkanzlei der
uEtv als Uberkonsistorialrat ein. Von diesem kirchenoffiziellcn
zentralen Krfahrungshorizont mit kirchenpolitischeii Vorgängen
in Berlin besonders vertraut, konnte er einen sorgfältig aus den
Akten gearbeiteten und zugleich durch Erlebnisnähe geprägten
Bericht über den Kurs der DEK-Kanzlei von 1937 bis 1945 schreiben
, der sieh durch hohen lid'ormationswert auszeichnet und vom
kirchenbohördlichen Standpunkt aus konzipiert ist. Zum Bereich
der Kirchenkanipf'gesekichte gehören auch Darlegungen, in denen
der Autor präzis orientierend über die „Entwicklung der staatlichen
Einanzaui'sicht über die DEK" berichtet. Hier wird die
W irksamkeit der Einanzabteilungen bei der DEK und in zehn
Laudeskirchen (einschließlich Altprcußens mitsamt seinen Konsistorien
) geschildert. Demgegenüber kam es in 14 Landeskirchen
(einschließlich der Annexionsgebiete Österreich und Süden tenland)
nicht mehr zur Errichtung von Einanzabteilungen, z. T. wegen des
Widerspruchs der NS-Gauleiter und der Landesregierungen, gegen
die das Kirchenministerium nicht aufzutreten wagte. Hier zeigte
sich die religionspolitisch konträre Grunddifferen/. des N S-Systems.
Daß sich „das System der Einanzabteilungen je länger je mehr als
ein verstecktes Staatskommissariat über die betroffenen ev. Landeskirchen
" (02) ausgewirkt habe, wird am historischen Material
verlaufsgeschichtlich aufgewiesen. Auf gründlich und gezielt durchgearbeitetem
Aktenmaterial beruht auch die Studie über „Die
Auswirkungen der NS-Schrifttums- und Pressepolitik auf die
DEK" (79-97).

In den Aufsätzen, die das bisher nur wenig durchforschte Gebiet
der unmittelbaren Nachkriegsentwieklung in kirchenorganisatorischer
Hinsicht betreffen, dem sieh die kirchliche Zeitgeschichte
verstärkt zuwendet, wird über „Neue Ansätze zum Kirchen-
verfassungsrecht" im Blick auf die Kirchenversammlung in
Treysa 1945, über konfessionelle Gliederungsfragen des evangelischen
Kirchentums in der unmittelbaren Nachkriegszeit (Einheit
und Gliederung der EKD, auch Treysa 11 1947, Kirchenversamm-
lung 1948 in Eisenach usw.) sowie über die in der Diskussion nachwirkende
konfessionelle Problematik des Bekenntniskampfes im
„Dritten Heich" und die sich daraus ergebenden Kontroversen
kundig abgehandelt. Lutherisch-reformatorisch bestimmte biblisch-
bekenntnisniäßige Kriterien werden bei kirchenreformatorisch-
kirchenreohtlichen Überlegungen für unverzichtbar gehalten (115f),
für formalistisch konfessionelle Positionen wird hingegen kein Verständnis
aufgebracht. Das zeigt sich schon bei der kritischen Beurteilung
der Barmcr Theologischen Erklärung, die in ihrem Verhältnis
zum lutherischen Bekenntnis analysiert wird (149 -175).
Kritik und Würdigung erfolgen stets theologisch-inhaltsbezogen,
während beispielsweise die lediglieh formale Ablehnung von Barmen
durch Hermann Sasse, weil eine „itio in partes" bei der
Beschlußfassung nicht erfolgte, nicht diskutabel erseheint. In der
Kritik an Barmen und Dahlem (die Dahlemer Beschlüsse wan n
im damaligen Rechtsleben nicht durehsetzbar, ambivalent und
verschlangen durch „endlose Auseinandersetzungen" viel „geistliche
Kraft", 178f) wird daraufhingewiesen, daß Lutheraner zwar
keine bestimmte kirchliche Ordnung aus dem Neuen Testament
ablesen können, wie es kalviniatischer Intention entsprechen mag,
vielmehr bei Erwägungen praktischer Gestaltung der Vernunft
einen breiten Raum gewähren, daß sie aber doch richtungweisende
Grundzüge einer Ordnung kennen, wie sie „in dem neutestament-
lichen Prinzip der Polarität von Amt und Gemeinde" (117) gegeben
ist. Der Aufsatz „Das Amt der Verkündigung und das
Priestertum aller Gläubigen" (210-239), bereits 1962 erschienen,
eine Vorform unter dem Titel „Sacerdotium und ministerium als
Grundbegriffe im lutherischen Kirchenrecht" wurde gleichzeitig
publiziert, vermeidet die Extremposition des neulutherischen Ansatzes
im 19. Jh. und seiner Gegner und gewinnt auf dem Hintergrund
der zeitgenössischen Diskussion einen an Luther orientierten

Lösungsweg: „Alle Versuche, die Ämter der Kirche unterschiedslos
aus dem sacerdolium, dem Priestertum aller Gläubigen abzuleiten,
müssen fehlschlagen, da sie an dem für Luther einzigen Kriterium
des Amtes, der cocalio zum publice äoeere, vorbeigehen. Das xaeer-
dotium ist Voraussetzung für die Inhaber des ministerium, »bei
nicht Grundlage seiner Herkunft. Das Amt selbst bleibt göttliche
Stiftung" (231). Die Ausführungen über „Personalitätsprinzip und
landeskirchliches Territorialprinzip" (185-209), 1959 erschienen,
analysieren die geschichtliche Entwicklung und die Krise des
Territorialprinzips in unserem Jahrhundert, das aber bei der Bildung
der EKD 1948 über das konfessionelle System gesiegt habe.
Die Problematik des kirchlichen Mitgliedschai'tsrcchts, bei dem die
Wohnsitz- bzw. Aufenthaltsvorschrift auch in den Kirehenverias-
sungen nach 1945 grundlegend blieb, ließen berechtigte Ansätze
des Personalitätsprinzips nicht genügend zur Geltung kommen.
Der Autor sieht die Lösung in (möglichst nicht mehr territorial
exklusiven) bekenntuisgleich gegliederten Kirchengebilden, wobei
die Existenz der Unionskirchen sich zunächst als hemmender
Eaktor für eine bekeimtnisbestimmte völlige Neugliederung erwies
und die Beibehaltung des landeskirchlichen Territorialprinzips
partiell begünstigte.

Die Signatur ihres zeitgeschichtlichen Ortes tritt bei den Aufsätzen
unterschiedlich hervor; manche gewhmen neben der
problemklärenden Punktion zugleich wieder zeithistorische Ouel-
lenrelevanz. Das in den Beiträgen sichtbare Grundverständnis, von
kircheiU'eehtlich-theologischem Problembewußtsein gekemizeich-
net, ist auf dem Hintergrund des Engagements bei der Herausbildung
von VELKD und EKD zu sehen, die 1948 aul der durch
die sowjetische Militäradministration ermöglichten Kirchenversammlung
in Eisenach konstituiert wurden und deren Kanzleien
der Autor von 1949-1903 (Luth. Kirchenamt) bzw. 1949-1905
(Kirchenkanzlei) in Hannover vorstand. Die durch die weitere
unterschiedliche Entwicklung in beiden deutschen Staaten bedingten
Problemkreise kirchenkoivzeptioncller und kirehenorgani-
satorischer Art werden in den die Kirchenverfassungsfragen betreffenden
Aufsätzen nicht berührt.

Durch umsichtig-sachbezogene Erörterung der theologischen
Relevanz kirchenreehtlichen Bemühens auf dem Hintergrund zeithistorischen
Geschehens stellen die Aufsätze Fundgruben präziser
Information dar, wie sie auch denen historiographisch willkom men
sein wird, die andere Positionen eingenommen haben oder theologisch
anders denken. Eine Bibliographie mit 134 Titeln wie ein
Personen- und Sachindex sind beigegeben.

Leipzig Kurt MeieI

Uesier, Gerhard [Hrsg.J: Preußischer Staat und Evangelische Kirche
in der Bismarckära. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd
Mohn 1980. 132 S. 8° = Texte zur Kirchen- u. Theologiegeschichte
, 25. Kart. DM 24,-.

Vorliegende Textsammlung (mehr als 2/3 der Texte liegen iui
Original im Zentralen Staatsarchiv der DDR, Hist. Abt. Ii, Merseburg
) ist entstanden im Zusammenhang mit der Dissertation de»
Herausgebers („Preußische Kirchenpolitik in der Bismarckära. Die
Diskussion in Staat und Evangelischer Kirche um eine Neuordnung
der kirchlichen Verhältnisse Preußens zwischen 1800 und
1872", de Gruyter 1980). Es existiert gleichwohl vom Herausgeber
ein Kommentar zu den Dokumenten.

Insgesamt werden 04 Dokumente (z. T. auszugsweise) zu folgenden
Themen geboten: Die Diskussion um eine Neuordnung der
Evangelischen Kirche in Preußen zwischen 1800 und 1809; Die
Haltung des EOK zu den Ereignissen 1870/71; Die Versetzung
des EOK-Präsidenten Mathis in den Ruhestand und die Berufung
Emil Herrrnanns (1872); Beurteilung der kirehonpolitischen Situation
durch Besser, Fabri und Luthardt; Die Auseinandersetzung
zwischen der „Hofpredigerpartei" und dem kirchlichen Liberalismus
1873-79 (u. a. Apostolikumstreit).

Eine Einleitung (8 -14) gibt einen Abriß der Geschehnisse und
Auseinandersetzungen und erleichtert so das Verständnis der ein-