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Ausgabe:

1981

Spalte:

219-221

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Die Lesepredigt, Eine Handreichung 1981

Rezensent:

Wetzel, Christoph Lebrecht

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219

Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 3

• 220

Aber auch der existentielle Zweifel wird nicht direkt und explizit
erörtert. Bezüglich der tragenden dogmatischen Position dieser Predigten
, der „Botschaft vom letzten und unüberbietbaren Wert des
Menschenlebens - auch unseres eigenen Lebens" (75), des „Bejahtseins
aller Menschen" (74) wird in der Predigt über Ps 139,13-18
„Der sehende Gott und der gesehene Mensch", was als „bildhaftmythologische
Redeweise" zu verstehen ist, in Gegenüberstellung zu
B. Brechts „Dankchoral" deutlich ausgesprochen: „Eine Begründung
dafür, so wie der Psalmdichter und nicht wie Brecht zu reden, gibt es
nicht. Es handelt sich hier um eine autoritative Setzung" (74).

So richtig das - letztlich gesehen - auch ist, werden die intellektuellen
Möglichkeiten, zu einer solchen Position zu ermutigen, sie nicht
einfach als willkürliche Setzung, als blindes Wagnis, sondern als ein
Wagnis der Weisheit zu interpretieren, m. E. offenkundig unterschätzt
. Weltbildliche Sachverhalte und ihre weltanschauliche bzw.
theologische Interpretation spielen für das Selbstverständnis und die
Sinnfindung menschlichen Lebens eine wesentlich größere Rolle, als
es nach diesen Predigten scheint. Es ist mir persönlich durchaus gewiß
, daß eine dogmatisch derartig radikale Reduktionsapologetik keineswegs
die einzige intellektuell redliche Antwort auf den Zweifel ist.
So sehe ich z. B. keine zwingende Nötigung, auf die Stützung und
Stärkung einer individuellen Hoffnung und Gewißheit über das Sterben
hinaus zu verzichten.

Aber diese Predigten zeigen nachdrücklich, nicht nur wie positiv
und hilfreich, sondern auch wie durchaus „christlich" auf dem Boden
radikalster dogmatischer Reduktion gepredigt werden kann. Deshalb
können diese Predigten gerade für junge und alte Theologen sehr
wichtig sein, die zeitweise in starken Zweifeln stecken und sie davor
bewahren, aus Angst, ohne schnelle Überwindung ihrer Zweifel überhaupt
nicht mehr predigen zu können, ihren Zweifel mehr zu verdrängen
und gewaltsam zu überspielen als wirklich intellektuell redlich
aufzuarbeiten; denn verdrängte Zweifel, darin stimme ich mit
Rudolf Schulz vollkommen überein, erzeugen Intoleranz und
Fanatismus und machen auch .unfähig, anderen wirklich vorwärtsweisend
und lösend aus ihren Zweifeln herauszuhelfen.

Berlin Hans-Hinrich Jenssen

Die Leserpredigt. Eine Handreichung, hrsg. v. H. Schnell. Hauptschriftleiter
: H. Breit. 3. Jg. 1969/70. Ordnung der Predigttexte: 5.
Reihe. 496 S. u. IX S. Register u. Titelei. - 4. Jg. 1970/71. Ordnung
der Predigttexte: 5. Reihe. 488 S. u. VIII S. Register u. Titelei.
- 5. Jg. 1971 /72. Ordnung der Predigttexte: 6. Reihe. 496 S. u. VIII
S. Register. - 6. Jg. 1972/73. Ordnung der Predigttexte: 1. Reihe.
496 S. u. VII S. Register. - 7. Jg. 1973/74. Ordnung der Predigttexte
: 2. Reihe. 488 S. u. VIII S. Register. München: Kaiser
1970-74. 8

Den ersten beiden - von Martin Doerne jn ThLZ 94, 1969 Sp.
310-312 und 95, 1970 Sp. 707 f besprochenen - Jahrgängen sind inzwischen
weitere gefolgt. Der Bezieherkreis hat sich ausgeweitet
(1971). Die Auflagenhöhe ist gestiegen (1973). Ab Kirchenjahr
1973/74 sind die Texte dem neuen Lektionar entnommen (Neue
Lesungen für den Gottesdienst, Luth. Verlagshaus 1972).

Herausgeber und Redaktionskreis gebühren uneingeschränkt Dank
und Anerkennung, daß sie die Jahrgänge umsichtig geplant und kontinuierlich
weitergeführt haben; daß durch Gewinnen von neuen
Autoren neben den bewährten langjährigen Mitarbeitern das Unternehmen
nicht in den eigenen Gleisen festfährt.

Die Vorworte informieren kurz über die Probleme, die neu als Aufgaben
angenommen worden sind. Die Besinnung soll gegenüber der
Auslegung größere Selbständigkeit bekommen, damit die Predigt
nicht unter die Vorherrschaft der Exegese gerät. Welche Hilfen können
den Lektoren angeboten werden, daß die vorgelegten Predigten
im jeweiligen gottesdienstlichen Vollzug situationsbezogener gelesen
werden können? Wie ist die Lesepredigt literarisch zu fixieren, wenn
Satzstruktur und Druckbild dem Lektor Freiheit zum Vortrag lassen?

In den 6 Jahrgängen kommen 96 Autoren zu Wort: 29 von ihnen
mit je 1 Predigt, 18 mit je 2 Predigten und 12 mit je 3 Predigten. Die
Superintendenten Grahwit (Hannover) und Voigt (Lüneburg) haben
22 bzw. 24 Predigten beigesteuert. Aus der Feder einer kleinen Spitzengruppe
von 12 Autoren stammen 2/5 der abgedruckten Predigten.
Diese persönlich und theologisch differenzierte Gruppe gibt dem Prozeß
von Jahrgang zu Jahrgang Stetigkeit und eine dominierende mittlere
Linie, der die weiteren vielfältigen Stimmen so kontrapunktieren,
daß die steuernde Hand des Schriftstellerteams unverkennbar ist. Im
7. und 8. Jahrgang ist die Zahl der von Gemeindepfarrern verfaßten
Predigten leicht rückläufig. Das sollte keinen Trend signalisieren.

Martin Doernes Besprechungen (s. o.) des 1. u. 2. Jahrgangs lassen
sich mit leichten Modifikationen auf die folgenden Jahrgänge ausweiten
. Und für seine dort ausgesprochenen Anerkennungen, Kritiken
und Desiderata lassen sich hier mühelos entsprechende Beispiele beibringen
. Auch nach der Revision der „Ordnung der Predigttexte", die
naturgemäß nur Einzelverbesserungen erbringen konnte, bleibt es
eine schwere homiletische Aufgabe, die Mehrzahl der kerygma-
tischen und paränetischen Aussagen der Texte in der Lesepredigt zu
verdichten. Nur eine kleine Zahl der vorliegenden Predigten hat
einen durch ihren Autor gekürzten Text zugrundeliegen.

In manchen Themen und Durchführungen schlägt sich die wechselhafte
„theologische Großwetterlage" nieder, ohne indes die einzelnen
Jahrgänge zu bestimmen. Insoweit haben die Jahrgänge am theologischen
Pluralismus Anteil und geraten doch nicht in ein babylonisches
Sprachegewirr. Die Notwendigkeit, die Perikopenaussagen zu
verdichten und zu beschränken, ohne die Inhalte zu verflachen und
zu verkürzen, läßt oftmals das Situationsspezifische des Textes aus
dem Blick geraten und verführt damit ungewollt zu einer captivitas
dogmatica.

Der Rez. hat - entgegen dem angestrebten Umgang und Gebrauch
- die 6 Jahrgänge im „Zeitraffer" gelesen. Die Fülle der Einzelheiten
erscheint ihm blaß und eingeebnet. Der Informationsschwall bedingte
gesteigertes Selektieren: Überlesen beim Lesen. Andererseits
wird vom Überblick her der Durchblick auf Tendenzen frei, die der
Aufmerksamkeit und Unterstützung wert sind.

Einige Male wird unter verschiedenem Gesichtswinkel auf den
liturgischen Zusammenhang zwischen Predigt und Fürbittengebet
hingewiesen (z. B. 3. Jg., S. 454 f; 4. Jg., S. 424; 8. Jg., S. 128, 407 f),
sei es, daß im Fürbittengebet - vom Lektor selbst formuliert - die
konkrete Gemeindesituation besser zum Ausdruck kommen soll als
in der Predigt, sei es, daß die Predigt so aufgebaut ist, daß sie in das zu
erstellende oder vom Predigtautor angebotene Fürbittengebet einmündet
. Die Textreihen bieten mehr Impulse zu dynamischem Umgang
mit den Strukturelementen des Gottesdienstes, als bisher wahrgenommen
worden sind. Insbesondere ist hier auch an den Zusammenhang
von Verkündigung und Bekenntnis zu denken. Die schmale
Spur sollte zu einem vielseitig begehbaren Weg ausgebaut werden.

Besonders am 7. und 8. Jahrgang fällt auf, daß die großen und globalen
gesellschaftlichen und politischen Zeitprobleme weniger traktiert
werden. Dagegen wird mehr angesprochen das persönliche Verhalten
und Verhältnis des Hörers in und zu seinem sozialen Lebensraum
in Kirche und Welt, die der Hörer auch wirklich zu ändern vermag
(z. B. 8. Jg., S. 399). Bei dieser Akzentverschiebung und zugleich
inhaltlichen Beschränkung erscheint die Predigt mehr als Sprechhandlung
: herauswachsend aus dem Handeln des gegenwärtiger1
Herrn der Kirche und hinüberführend zum Tun der Glieder am
Leibe Christi. Die großen Linien sollen nicht aus der Verkündigung
ausgemerzt werden. Jedoch kommt es der Kommunikation in der
Predigt zugute, wenn diese nicht ständig - den Hörer total überfordernd
- deklamiert werden. Überforderung tritt auch ein, wenn der
Prediger seine Hörer auf große Erkundungsgänge durch die biblische
Tradition und Geschichte der Kirche mitnimmt (z. B. 6. Jg"
S. 225 ff).

Jede der Predigten zeugt von dem Ringen, die eigene Predig''