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Ausgabe:

1981

Spalte:

216-217

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Tödt, Heinz Eduard

Titel/Untertitel:

Rudolf Bultmanns Ethik der Existenztheologie 1981

Rezensent:

Wendelborn, Gert

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Theologische Literaturzeitung 106. Jahrgang 1981 Nr. 3

216

M. Mosers Studie, eine Heidelberger Dissertation von 1973,
besteht aus einem die Erforschung der Aggression in der Ethologie,
der Psychoanalyse und der Yale-Schule darstellenden ersten und
einem theologisch-ethischen zweiten Teil, in dem gefragt wird, „wie
sich die Auslegung des Gebotes der Nächsten- und Feindesliebe im
Rahmen der christlichen Ethik zur Erforschung des Menschen als
eines aggressiven Wesens verhält" (12). Wie selbstverständlich wird
dabei Aggression als etwas überwiegend Negatives und Destruktives
verstanden und darum „aggressiv" und „lieblos" gleichgesetzt. Die
Interpretation von Aggression als agonistisches Verhalten (G. Tem-
brock), das keinen Trieb für sich darstellt, sondern ein wertneutrales
Element in den verschiedensten Funktionen der Lebewesen ist, wird
nicht berücksichtigt.

Das Schwergewicht des ersten Teils (13-118) liegt bei der Darstellung
ethologischer Forschungsergebnisse, meist nach [. Eibl-
Eibesfeldt und mit starkem - auch kritischem - Eingehen auf K. Lorenz
. Es wird vieles referiert (und auch theologisch schon
einiges angetippt), auch manches, was nicht auf den Zielpunkt der
Arbeit hinführt.

Bei der Darstellung der naturwissenschaftlichen Aussagen wird
u. a. herausgearbeitet, ob der jeweils referierte Autor Aggression für
einen spontanen Trieb hält (wie Lorenz) oder für ein reaktives
Geschehen. Der scharfe Gegensatz zwischen diesen Auffassungen
wird dann aber nivelliert, weil ja auch von denjenigen, die Aggression
immer für eine Folge einer Frustration halten, „die Zwanghaftigkeit
der einmal in Gang gesetzten aggressiven Reaktionsfolge nicht unterschätzt
" werde (100). „Zwanghaftigkeit aggressiven Verhaltens" ist
darum der gemeinsame - recht allgemeine - Nenner, den Moser dann
der Ethik als Problem aufgegeben sieht. Und er erweitert nochmals:
aggressiv gegen sich selbst und andere. Nun, das ist ein weites Feld,
die Dinge werden hier leicht unscharf. Wird der Dialog mit den
Naturwissenschaften nicht besser geführt, wenn der Theologe etwas
dichter an den spezifischen Sachaussagen des Gesprächspartners
bleibt (so wie Hintersberger in ihrer Konzentration auf W. Wickler),
auch wenn er dann „nur" Ausschnitte aus komplexeren anthropologischen
Zusammenhängen erfaßt und obwohl auch dieses Verfahren
Probleme mit sich bringt?

Im zweiten Teil (119-213) werden zunächst imperativisch konzipierte
(Soe, W. Schweitzer, Althaus, Eiert, van Oyen, Schlatter),
dann zwei deskriptiv konzipierte (Logstrup und Trillhaas) Ethiken
analysiert. Ergebnis: Die imperativischen Ethiken bedienen sich
außertheologischer Humanwissenschaften nur sehr sporadisch und
bekommen den aggressionsgetriebenen Menschen darum so gut wie
nicht in den Blick bzw. analysieren ihn nicht unvoreingenommen. Es
kommt zur „(Dis-)Qualifikation jeden aggressiven Verhaltens als
Sünde" (202). Das Liebesgebot gerät dabei leicht zu einem absoluten
Gesetz, das in tiefe Schuldgefühle treiben kann. Eine solche Ethik
trägt nicht zur Humanisierung dieser Welt bei, sondern verschärft
und kompliziert die Aggressionsproblematik noch.

Bei den deskriptiven Ethiken dagegen unterliegt der aggressionsgetriebene
Mensch nicht sogleich einem theologischen Verdikt, sondern
wird einem differenzierenden Verstehen zugeführt. - Auf diesen
Befunden erhebt sich Mosers These: Ethik muß angesichts der
Zwanghaftigkeit aggressiven Verhaltens Realisierungsmodelle des
Liebesgebots anbieten, die den Möglichkeiten auch des aggressionsgetriebenen
Menschen entsprechen, denn auch „in Christus" ist er
der phylo- und ontogenetisch bedingten Zwanghaftigkeit seiner Empfindungen
und Handlungen nicht entronnen. - Das stimmt mit dem
Anliegen von B. Hintersberger überein, daß ethische Normen nicht
unvermeidlich in Streßsituationen führen dürfen und daß Ergebnisse
der Ethologie wichtige Quellen der Normenfindung sein sollen.

Dies ist eine sinnvolle Forderung gegenüber unbarmherzigen Fassungen
des Liebesgebots; aber wie kann Moser dann den aggressionsgetriebenen
Menschen als unheil und radikal erlösungsbedürftig
(201) bezeichnen - wenn auch Christus ihn von diesem Trieb
schlechterdings nicht befreit? -

Vor allem aber: Sollten nicht die Aussagen der Verhaltensforscher
über die phylogenetische Verwurzelung der Nächstenliebe und über
Möglichkeiten, in der Ontogenese durch die Eltern-Kind-Bindung
Urvertrauen zu wecken und damit liebesfähig zu machen, den Ethiker
viel stärker bewegen als die Zwanghaftigkeiten mancher Auslegungen
der Nächstenliebe und die Zwanghaftigkeit aggressiven Verhaltens
? Dann lauten die Fragen: Kann das Liebesgebot mit Hinweis
darauf nicht eindringlicher und überzeugungskräftiger verkündigt
und praktiziert werden? Naturwissenschaftliche Sachaussagen also
nicht nur als Destruenten überspitzter Normgebung, sondern auch als
konstruktive Elemente sachgemäßer Normzuspitzung! Und wie ist
überhaupt christliche Ethik zu konzipieren, wenn die Liebe nicht ein
transnaturales, mit den natürlichen Motivationen zu konfrontierendes
, sondern vielmehr selbst ein biologisch verankertes Motiv ist?
Aber den Schritt, sich diesen - erst wirklich erregenden - Fragen zu
stellen, tut Moser - ebenso wie ja auch Hintersberger - nicht, obwohl
auch er die entsprechenden Hinweise Eibl-Eibesfeldts und Wicklers
zur Kenntnis genommen hat. In diesem Zusammenhang ist zu
bedauern, daß beide Autoren nicht auf B. Hassensteins „Verhaltensbiologie
des Kindes" (1973) eingehen.

Wittenberg Lutherstadt Hans-Peter Gensichen

Tödt, Heinz Eduard: Rudolf Bultmanns Ethik der Existenztheologie.

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1978. 128 S. 8° =
GTB 440 (Ethiker des Protestantismus, 1) Kart DM 9,80.

Ein vorzügliches Buch des Heidelberger Sozialethikers, dessen
Urteilen man durchweg gerne zustimmt! Umsichtig zeigt er den theologiegeschichtlichen
Ort und die Grundintentionen der Ethik Bu.s in
ihren Konstanten wie in ihrem Entwicklungstrend auf. Die strikte
Trennung der Religion von allen innerweltlichen Phänomenen einschließlich
des Ethos wird als Gegenschlag gegen die kulturprotestantische
Ethik des theologischen Liberalismus mit ihrer Idee des Reiches
Gottes als des höchsten irdischen Gestaltungsprinzips und -ziels
verständlich. Dies führte Bu. zunächst zur strikten Abgrenzung von
Humanismus und Sozialismus, in den Dreißigerjahren freilich auch
von der „völkischen" Ideologie. Seine Alternative war eine punktuelle
Entscheidungsethik, die wegen ihrer Inhaltsleere in den Verdacht
dezisionistischer Willkür geraten mußte. 1930 ergänzte Bu. die
ausschließlich situationsethischen Kategorien seines Jesusbuches
durch die Einführung des strukturellen Moments der Ich-Du-
Verbundenheit, doch die Liebe blieb auf den personalen Bereich
beschränkt. Hier blieb Bu. dem neukantianischen Erbe Albrecht
Ritschis und Wilhelm Herrmanns verhaftet, bei denen das individuelle
Selbstsein durch eine scharfe Zäsur von den natürlichen und
sozialen Einbindungen menschlicher Existenz getrennt ist. Nach
1945 betonte Bu. im Unterschied zur vorangegangenen Zeit die Notwendigkeit
des Bündnisses zwischen Christentum und Humanismus.
Dies bedeutete eine Absage an Relativismus und Nihilismus, mit
dem Bu. in der Nähe zum Gefühl gnostischer Weltfremdheit ein
beträchtliches Stück gemeinsam gegangen war. Doch sein Humanismusbild
blieb streng idealistisch, so daß in seinem Gesellschaftsideal
der liberalistische Freiheitsbegriff Gerechtigkeit und als Solidarität
begriffene Mitmenschlichkeit nicht zur Geltung kommen ließ.

Tödt bekennt sich zu Bu.s Grundansatz, nach dem theologisches
Denken im Gegensatz zu allen metaphysischen und bloß theoretischen
Überlegungen aus der existentiellen Betroffenheit vom Evangelium
hervorgeht. Es sei Bu. aber nicht gelungen, das Handeln au*
der Perspektive des christlichen Glaubens dem Verstehen überzeugend
zuzuordnen. Seine Erwartung, daß sich im Akt des jeweils
neuen Entscheidens selbst die legitimen Normen und also die inhaltliche
Füllung der Entscheidungen einstellen, sei irrational, so daß dte'
se in einer unbestimmten Schwebe blieben. So seien Natur und
Gesellschaft als Feld menschlichen Handelns auch theologisch neu